Ruhelos. William Boyd

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Ruhelos - William  Boyd


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Ich rufe ihn an.« Er ging zur Theke, um Telefonmünzen zu kaufen. Eva setzte sich ans Fenster und musterte ihn – nicht mit Abscheu, eher mit Neugier. Welches Spiel spielen Sie, Mr Lucas Romer?, dachte sie. Geht es um Sex mit mir oder um Geschäfte mit Frellon, Gonzales & Cie.? Wenn es um Sex ging, verschwendete er seine Zeit. Sie fand Lucas Romer nicht attraktiv. Zu viele Männer begehrten sie, während sie, im Gegenzug, nur sehr wenige begehrenswert fand. Das war der Preis, den die Schönheit manchmal forderte: Wir machen dich schön, entscheiden die Götter, aber zugleich sorgen wir dafür, dass du unglaublich schwer zufriedenzustellen bist. So früh am Morgen wollte sie nicht an ihre wenigen komplizierten und unglücklichen Liebesaffären denken, also nahm sie eine Zeitung vom Haken. Erotische Absichten schieden wohl doch aus, dachte sie sich – aber irgendetwas führte er im Schilde. Die Schlagzeilen handelten vom Spanischen Bürgerkrieg, dem Anschluss, Bucharins Hinrichtung in der Sowjetunion. Die Vokabeln starrten von Aggressivität: Aufrüstung, Territorium, Reparationen, Waffen, Drohungen, Warnungen, Krieg und zukünftige Kriege. Ja, dachte sie, er hat andere Absichten, aber sie musste abwarten, um herauszubekommen, welche es waren.

      »Überhaupt kein Problem.« Er stand über ihr, auf seinem Gesicht spielte ein Lächeln. »Ich habe Ihnen Kaffee bestellt.«

      Sie fragte nach Monsieur Frellons Reaktion, und Romer versicherte ihr, Monsieur Frellon sei hocherfreut gewesen über diese vielversprechende Begegnung. Der Kaffee kam, Romer lehnte sich entspannt zurück, tat reichlich Zucker in seinen express und rührte hingebungsvoll um. Eva musterte Romers dunkles Gesicht, als sie die Zeitung weghängte, seinen angeschmuddelten und knautschigen Kragen, seine schmale Krawatte. Was würde man in ihm vermuten? Einen Dozenten? Einen mäßig erfolgreichen Schriftsteller? Einen mittleren Beamten? Auf keinen Fall aber einen Schiffsmakler. Warum also saß sie mit diesem seltsamen Engländer in diesem Café, wenn sie nicht die geringste Lust dazu hatte? Sie beschloss, ihm auf den Zahn zu fühlen und über Kolja auszufragen.

      »Seit wann kannten Sie Kolja?« Sie nahm eine Zigarette aus der Packung in ihrer Handtasche, ohne ihm eine anzubieten.

      »Seit etwa einem Jahr. Wir trafen uns auf einer Party … Jemand feierte das Erscheinen eines Buches. Wir kamen ins Gespräch … Ich fand ihn sehr sympathisch …«

      »Welches Buch war das?«

      »Das weiß ich nicht mehr.«

      Sie setzte ihr Kreuzverhör fort – zu seinem wachsenden Vergnügen, wie sie nun bemerkte. Es machte ihm offensichtlich Spaß, und das ärgerte sie. Sie saß nicht zu ihrem Zeitvertreib hier oder zum Flirten – ihr Bruder war tot, und sie vermutete, dass Romer weit mehr über seinen Tod wusste, als er zuzugeben bereit war.

      »Warum ist er zu der Kundgebung gegangen?«, fragte sie. »Action Française ausgerechnet! Kolja war doch kein Faschist!«

      »Natürlich nicht.«

      »Warum war er also dort?«

      »Weil ich ihn darum gebeten hatte.«

      Das war ein Schock für sie. Warum, fragte sie sich, hätte Lucas Romer Kolja Delektorski bitten sollen, zu einer Kundgebung der Action Française zu gehen, und warum, fragte sie sich weiter, hätte Kolja dieser Bitte entsprechen sollen? Aber sie fand keine schnelle oder einfache Antwort.

      »Warum haben Sie ihn darum gebeten?«, fragte sie.

      »Weil er für mich gearbeitet hat.«

      Den ganzen Tag im Büro dachte Eva an Romer und seine verblüffenden Antworten. Nach der Behauptung, Kolja habe für ihn gearbeitet, hatte er abrupt das Gespräch beendet, in vorgebeugter Haltung, fest in ihre Augen blickend, womit er zu bekräftigen schien: Jawohl, Kolja hat für mich, Lucas Romer, gearbeitet. Er müsse jetzt gehen, sagte er unvermittelt, er habe Termine, meine Güte, es ist ja schon spät.

      Nach Feierabend, während der Heimfahrt in der Metro, versuchte Eva methodisch vorzugehen, die losen Bruchstücke zu einem Puzzle zusammenzufügen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Lucas Romer hatte Kolja auf einer Party getroffen, sie waren Freunde geworden – mehr als Freunde offenbar –, Kollegen gewissermaßen, und Kolja hatte in irgendeiner unbekannten Eigenschaft für Romer gearbeitet … Welche Art von Arbeit war das, die ihn zum Besuch einer Kundgebung der Action Française in Nanterre veranlasst hatte? Während dieser Kundgebung war Kolja laut den Ermittlungen der Polizei ans Telefon gerufen worden. Zeugen erinnerten sich, dass er mitten im Hauptreferat von Charles Maurras, man bedenke, hinausgegangen war, dass ihm einer der Ordner einen Zettel gebracht hatte, dass mit seinem Aufbruch einige Unruhe verbunden gewesen war. Und dann das Zeitloch von fünfundvierzig Minuten – die letzten fünfundvierzig Minuten seines Lebens –, für die es keine Zeugen gab. Leute, die den Saal durch die Seitenausgänge (es war ein großes Kino) verließen, fanden seine Leiche in der Gasse hinterm Kino, er lag verdreht in einer glänzenden Blutlache auf dem Kopfsteinpflaster, getötet durch mehrere Schläge auf den Hinterkopf. Was war in den letzten fünfundvierzig Minuten seines Lebens geschehen? Als er gefunden wurde, fehlte seine Brieftasche, auch seine Uhr und sein Hut. Aber welcher Raubmörder stiehlt einen Hut?

      Eva ging die Rue des Fleurs hinauf und fragte sich, was Kolja dazu bewogen haben mochte, für einen Mann wie Romer zu »arbeiten«, und warum er nie über diesen sogenannten Job gesprochen hatte. Und wer war Romer, dass er Kolja, einem Musiklehrer, einen Job antrug, der lebensgefährlich war? Einen Job, der ihn das Leben gekostet hatte? In welcher Eigenschaft und aus welchem Grund? Wegen Romers Schiffsfirma? Wegen seiner internationalen Geschäfte? Sie musste grinsen über die Absurdität dieser Vorstellung, während sie ihre üblichen zwei Baguettes kaufte, und ignorierte Benoîts leutseliges Lächeln, der ihr Grinsen als Entgegenkommen missverstand. Sofort wurde sie wieder ernst. Benoît – auch einer, der scharf auf sie war.

      »Wie geht’s, Mademoiselle Eva?«, fragte er und nahm das Geld in Empfang.

      »Nicht so gut«, erwiderte sie. »Der Tod meines Bruders … Sie wissen schon.«

      Sein Gesicht veränderte sich, zog sich vor lauter Mitgefühl in die Länge. »Eine schreckliche Geschichte«, sagte er. »Was sind das nur für Zeiten!«

      Wenigstens lässt er mich jetzt eine Weile in Ruhe und stellt mir keine Fragen, dachte Eva im Gehen. Sie bog in den kleinen Vorhof des Mietshauses ein, öffnete im großen Hof die kleine Tür und nickte der Concierge, Madame Roisanssac, zu. Sie stieg die zwei Treppen hoch, schloss auf, ließ die Brote in der Küche, ging weiter zum Salon und dachte: Nein, heute bleibe ich nicht schon wieder zu Hause, nicht mit Papa und Irène; ich sehe mir einen Film an, den Film, der im Rex gezeigt wird, Je suis partout. Ich brauche ein bisschen Abwechslung, dachte sie, ein bisschen Raum, ein bisschen Zeit für mich selbst.

      Als sie den Salon betrat, erhob Romer sich mit einem matten Begrüßungslächeln von seinem Platz. Ihr Vater stellte sich vor ihm auf und sagte in seinem schlechten Englisch und mit gespieltem Vorwurf in der Stimme: »Also wirklich, Eva! Warum sagst du mir nicht, dass du Mr Romer getroffen hast?«

      »Ich habe nicht gedacht, dass es von Bedeutung ist«, erwiderte Eva, ohne den Blick von Romer abzuwenden, und versuchte, absolut neutral, absolut unbeeindruckt zu wirken. Romer lächelte und lächelte – er wirkte sehr entspannt und war eleganter gekleidet, wie sie jetzt sah, in dunkelblauem Anzug mit weißem Hemd und einer anderen englischen Streifenkrawatte.

      Ihr Vater war ganz aufgeregt, er zog ihr einen Stuhl heran und sagte im Plauderton: »Mr Romer hat Kolja gekannt, hält man das für möglich?« Aber Eva hörte nur die empörten Fragen und Ausrufe, die ihr durch den Kopf fuhren. Wie können Sie es wagen, hier aufzutauchen! Was haben Sie Papa erzählt? Diese Unverschämtheit! Was ich davon halte, ist Ihnen wohl egal? Sie sah die Gläser und die Portflasche auf dem Silbertablett, sah den Teller mit Zuckermandeln und wusste, dass Romer sich diesen Empfang mühelos verschafft hatte, ganz im Vertrauen auf den Trost, den er mit seinem Besuch spenden würde. Wie lange ist er schon da?, fragte sie sich und schaute, wie viel noch in der Flasche war. Die Stimmung ihres Vaters ließ vermuten, dass sie schon mehr als ein Glas getrunken hatten.

      Ihr Vater zwang sie förmlich auf den Stuhl; sie lehnte das Glas Portwein ab, nach dem es sie so dringend gelüstete. Sie sah, dass sich Romer diskret zurücklehnte, mit übergeschlagenen Beinen,


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