Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski

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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik - Dirk Linowski


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und bleibt, so errechnet sich für x = 0,25 ein T von ca. 25 Jahren; gehen wir hingegen von zukünftigem Nullwachstum und durchschnittlichen jährlichen Steigerungen der Kosten im Gesundheitssytem in Höhe von 5% aus, so wird ein Viertel der Jahreswirtschaftsleistung Deutschlands bereits in 15 Jahren im Gesundheitswesen allokiert sein. Es sind schlimmere Szenarien denkbar.

      Im Folgenden werden wir erörtern, wie die Entwicklung der nominalen Kosten im Gesundheitswesen pro Patient zu erklären ist. Dabei ist die Inflation – von 2009 bis 2019 betrug diese im Jahresmittel ca. 1,35% – nicht vernachlässigbar, aber untergeordnet. Die großen Kostenblöcke im Gesundheitswesen korresondieren mit dem medizinischen Personal (d.h. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger), technischen Gerätschaften (wie Magnetresonanztomographen und Computertomographen) sowie Medikamenten.

      Im Jahr 1996 waren in Deutschland ca. 279.300 Ärzte in ihrem Beruf tätig. Bei 82,01 Mio. Einwohnern kam somit ein Arzt auf ca. 294 Einwohner. Im Jahr 2019 ermittelt sich ein Verhältnis von ca. 207 Einwohner pro Arzt. Adjustiert um den Bevölkerungszuwachs von etwas mehr als 1 Million Menschen verfügen wir heute also über ca. 120.000 Ärzte mehr als 1996.[41]

      Wie zu Beginn von Abschnitt 3.1.1 bereits gesehen, stiegen die Gesundheitausgaben in Deutschland von 1996 bis 2019 um ca. 200 Mrd. Euro. Mit ca. 2% stieg auch der jährliche Zuwachs an Ärzten in den letzten 10 Jahren über der Gesamtwachstumsrate des BIPs, die von 1996 – 2019 bei ca. 1,5% lag.3 (Tatsächlich wird die Gesamtreduktion der Arbeitsstunden pro Arzt zu berücksichtigen sein, um den Gesamtzuwachs an Ärzten präziser zu erläutern).

      Wie jedermann, der mit der Materie einigermaßen vertraut ist, stiegen in den vergangenen zehn Jahren die Gehälter bzw. Einkünfte der deutschen Ärzteschaft zwar ungleichmäßig, aber durchweg beträchtlich. Wenn wir nun vereinfacht davon ausgehen, dass ein Arzt – egal ob an einem Krankenhaus oder in einer Praxis tätig – die Kassen im Durchschnitt pro Jahr ca. 250.000 Euro kostet, können wir den Kostenbeitrag der hinzugekommenen deutschen Ärzteschaft schätzen. Die 120.000 „neuen“ Ärzte kosten ca. 30 Mrd. Euro pro Jahr. Zur Einordnung: Diese Summe korrespondiert zu etwa 365 Euro pro Bundesbürger und damit zur Summe, die vom deutschen Staat für die Opfer der Flutkatastrophe im Jahr 2021 im Ahrtal bereitgestellt wurden.

      Obwohl die steigenden Kosten des bestehenden Ärztestammes zu berücksichtigen sind und unter Berücksichtigung der Kosten, die mit Krankenschwestern und –pflegern, der Verwaltung und der Kassenbürokratie verbunden sind, wird klar, dass die Explosion der Kosten im Gesundheitswesen primär nicht den mehr und teurer gewordenen Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern zuzuschreiben ist, sondern offensichtlich direkt auf Kosten für Medikamente und Apparate zurückzuführen sein muss. Hier ist zu notieren, dass die Pharmaindustrie in den vergangenen ca. 10 Jahren vermehrt Medikamente für seltenere Krankheiten entwickelt hat (Dies ist insoweit nicht erstaunlich, als dass es bereits lange wirksame Medikamente für Massenkrankheiten wie Bluthochdruck, Fettstoffwechsel, Bronchitis etc. gibt.)

      Tatsächlich hat sich in den vergangenen 25 Jahren nicht nur die Anzahl der Ärzte in Deutschland erhöht, auch ist die geografische Verteilung ungleicher geworden. Auch wenn es in ländlichen Gegenden naturgemäß keine Universitätskrankenhäuser und große städtische Allgemeinkrankenhäuser gibt, so ist das Betreuungsverhältnis in Großstädten wie Berlin, München, Hamburg, Köln, usw. auf ca. 75 Einwohner pro Arzt gefallen, während es in Orten mit bis zu 1.500 Einwohner vielfach keinen Arzt mehr gibt bzw. sich abzeichnet, dass Praxen keinen Nachfolger finden. Diese Entwicklung kommt nicht aus dem Nichts. Die Politik wird Anreize schaffen müssen, dass (junge) Ärzte sich zukünftig in „weniger attraktiven“ Regionen niederlassen, will sie dem Axiom des Grundgesetzes der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse näherungsweise genügen. Ebenso gefordert sind die Kultusbehörden und –ministerien der Länder sowie die Universitäten, Wege zu verbessern, junge Menschen auszuwählen, die nach Abschluss ihres Studiums den Menschen als Ärzte dienen wollen.

      3.1.2 Einige Betrachtungen zum Gut Gesundheit und zu dessen RegulierungRegulierung1

      Intuitiv einsichtig ist, dass uns die klassischen Angebots- und Nachfragebetrachtungen und die in der Lehrbuchökonomie üblichen Angebots- und Nachfragediagramme (auch wenn diese natürlich möglich sind) nicht weit kommen lassen, um ein hinreichendes Verständnis zum „Gesundheitsmarkt“ zu entwickeln. Es gibt nicht nur in Deutschland keine unsichtbare Hand, die die vielen Individuen auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite zusammenbringt. Wenn diese existierte, könnten sich „arme Leute“ keine Gesundheitsbehandlungen leisten. Zudem sind wir fast alle nicht in der Lage, mit den uns zur Verfügung stehenden Informationen zu vernünftigen Schlüssen zu gelangen (vulgo: die Frage „Was sind gute und weniger gute Ärzte?“ zu beantworten). Angebotsseitig müssen Ärzte und Krankenschwestern und –pfleger eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung vorweisen, die entweder vom Staat organisiert bzw. alternativ von ihm anerkannt wird. Ein Arzt benötigt ferner eine Genehmigung, um eine Praxis zu eröffnen.

      Gesundheit ist ein sogenanntes meritorisches Gut. Dies ist ein Gut, das im nationalen Interesse liegt und somit so wichtig ist, das es vom StaatStaat garantiert bzw. (teil-)produziert wird. In unserem Falle (nicht nur in München, Berlin und Hamburg) schafft mehr Angebot auch mehr Nachfrage, d.h. mehr Ärzte bedeuten mehr Behandlungen (und i.a. höhere Preise). Dies ist einfach erklärbar, da es für Gesundheit keine Sättigung gibt. Man kann immer noch ein bisschen gesunder werden und ein bischen schöner. Diese Aussage gilt nicht nur aber insbesondere für die zunehmende Anzahl gebildeter Pensionäre. Die Kosten pro Bürger bzw. Versicherten betreffend ist statistischer Schrecken aller Kassen nicht der moderat rauchende und/oder trinkende Arbeiter oder Angestellte, sondern der gesundheitsbewusste, gebildete Mensch.[42]

      Ein nutzensmaximierender Arzt hat somit keinen Anreiz, kosteneffizient zu „produzieren“. Er wird darüber hinaus teurere Dienstleistungen für wohlhabendere Patienten (z. B. Fitness-Programme und Schönheitsoperationen, die nicht zur Grundversorgung zählen und privat bezahlt werden) anbieten, anstelle arme Menschen zu behandeln.2 Eindrucksvoll nachvollziehen kann man diesen Gedanken am Fall der "Intensivbettendiskussion", die im Verlauf der Jahre 2020 und 2021 dreimal geführt wurde. Der Bundesrechnungshof zitierte dazu im Sommer 2021 ein Schreiben des Robert Koch-Instituts an das Gesundheitsministerium vom 11. Januar 2021, dass „Krankenhäuser zum Teil weniger intensivmedizinische Behandlungsplätze meldeten, als tatsächlich vorhanden waren."[43]

      Dazu kann kurz festgehalten werden, dass es in einem teilprivatisierten Gesundheitssystem, in dem die Kostenerstattung über Fallpauschalen erfolgt, per se unvernünftig ist, Reserven vorzuhalten, dass also offensichtlich ein „Systemfehler“ vorliegt.

      Somit sind (Stichwort Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse) RegulierungRegulierungen auf der Angebots- und der Nachfrageseite erforderlich. In den entwickelten Ländern stehen zumeist Krankenkassen zwischen Arzt und Patient. Diese erheben Beiträge von den Versicherten und bezahlen die Ärzte und Krankenhäuser für deren Dienstleistungen, wobei die Preise zwischen den Ärzteverbänden und den Krankenkassen ausgehandelt werden. Die Menschen bezahlen also auf indirektem Wege für ihre Gesundheit und Gesunde subventionieren Kranke. Spätestens hier erkennen wir ein klassisches Moral Hazard-Problem. Versicherte können zu fahrlässigem Verhalten tendieren und sich zudem im Recht fühlen, sich ihre Beiträge „zurückzuholen“.

      Praxis bis zu Beginn der 2000er Jahre war es, dass Krankenhäuser und Ärzte von den Versicherungsgesellschaften für erbrachte Leistungen bezahlt wurden. Dabei wurden seitens der Krankenhäuser fraglos auch nicht notwendige Leistungen abgerechnet, Patienten verblieben mitunter länger im Krankenhaus als notwendig, usw. Um die Kosten zu beschränken, wurde in den reichen europäischen Ländern daraufhin entweder ein Prozentsatz oder eine fixe Praxisgebühr der Behandlungskosten auf die Patienten übertragen. Letztere betrug in Deutschland bei ihrer Einführung im Jahr 2004 10 Euro pro Patient und Quartal. Sie erwies sich letzlich als insgesamt wirkungslos und wurde Ende 2012 wieder abgeschafft. Ab 2003 wurden nach australischem Vorbild sogenannte Fallpauschalen (englisch: Diagnostic Related Groups) eingeführt.3 Um Wettbewerb zwischen Krankenhäusern zu initiieren,


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