Fräulein Rosa Herz. Eduard von Keyserling

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Fräulein Rosa Herz - Eduard von Keyserling


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begeistert und schlang seine Arme fest um das Mädchen. Rosa ließ nur einen tiefen Seufzer hören und lehnte ihren Kopf auf Herwegs Arm; er aber küßte ihr laut und stürmisch Wangen und Lippen, dann hob er ihren Kopf empor, um das Gesicht deutlich zu sehen; regungslos sah es zu ihm empor, bleich und ernst, in jenem Ernst, mit dem die Sinnlichkeit ein Frauenantlitz zu verschönen pflegt. Die Augen grellblau und gedankenlos. »Rosa, was ist Ihnen?« fragte Herweg erschrocken. Da richtete sich Rosa hastig auf.

      Der Nebel war vom Wasser bis zu ihnen herangeschlichen. Wie weiße Gazefetzen lag er auf dem Kraut und glitzerte. Fern in der Stadt schlug die Turmuhr zehn. Ihre heisere Stimme rief mißgelaunte Töne in die Nacht hinaus, als wäre sie aus tiefem Schlummer aufgefahren, um verdrießlich ihre Pflicht zu tun.

      »Es ist zehn Uhr«, sagte Herweg.

      »Ja – ich gehe heim«, erwiderte Rosa, und während Herweg sich in seinen Mantel hüllte, ging sie unruhig hin und her und griff mit den Händen in die Nebelflocken, die über dem Grase hingen,

      »Sind Sie fertig, Kollhardt?« fragte sie.

      »Ja, ich führe Sie nach Hause. Nicht?«

      »Nein, Kollhardt, das darf nicht geschehen. Sie gehen hier hinauf. Ich finde mich schon zurecht. Leben Sie wohl.«

      Sie reichten sich ein wenig steif und ungelenk die Hände. Herweg wollte dann Rosa küssen, sie aber entwand sich ihm schnell und eilte den Pfad hinan.

      7

      Herrn Lanins Neuer war wirklich angelangt. In einer offenen Post-Chaise hielt er um sieben Uhr abends vor dem Laninschen Hause. Drei Koffer, elegant mit Leder überzogen, waren vor ihm aufgetürmt. Er selbst trug einen grauen Staubmantel. Ganz wie Herr Herz es seiner Tochter berichtet hatte.

      Herr Lanin befand sich gerade in seinem Studierzimmer, dem geachtetsten Gemache des Hauses. Die Fenster, die auf den Hof hinausgingen, standen offen, und ein kräftiger Stallgeruch strömte herein. Das Gemach selbst hatte ein strenges, ernstes Aussehen. Die Wände waren mit blankem holzfarbenen Papier beklebt. Ein einziger Lehnsessel und ein einziges Rohrstühlchen befanden sich in dem Gemach, und beide standen vor dem Schreibtisch. Auf dem Lehnsessel saß Herr Lanin, auf dem Rohrstühlchen Conrad Lurch. Herr Lanin war eben dabei, Conrad Lurch zu kontrollieren. Er setzte einen Kneifer mit großen runden Gläsern auf die Nase und beugte sich über ein schmales Buch, langsam mit dem Finger die Zahlenreihe hinabfahrend. Lurch machte ein sehr freundliches Gesicht; er lachte sogar, aber diese Freundlichkeit war seltsam starr, dieses Lächeln unnatürlich stetig und gekniffen. Es schien, als sei dieses Lächeln, einst vielleicht lustig und gewöhnlich, alt geworden; man hatte vergessen, es fortzuwischen; nun stand es eingetrocknet und eingerostet auf dem gelben Gesicht.

      »Schweizer Käse!« rief Herr Lanin und blickte auf. »Ja – Schweizer Käse«, erwiderte Lurch höflich. Der Prinzipal aber lehnte sich zurück und sah vor sich hin auf die Wand. An der Wand hing, in goldenem Rahmen, Herrn Lanins Bild. Dort trug er weiße Hosen und einen schwarzen Rock. in der einen Hand hielt er seinen Hut, die andere legte er wohlwollend auf ein Album, das neben ihm auf einem Tischchen lag. Rechts hing das Bild der Frau Lanin, auf dem der Glanz des schwarzen Seidenkleides auf dem runden Leibe der Dame vortrefflich wiedergegeben war. Neben ihr stand wiederum das Tischchen, und das Album lag unbeachtet darauf. Links hing das Bild von Fräulein Sally im weißen Kleide, mit nackten Schultern, die Hände hielt sie im Schoß gefaltet und schielte nach dem Album, das neben ihr auf dem Tischchen lag.

      »Schweizer Käse!« fuhr Herr Lanin auf »Jetzt hab ich's. Vor vier Wochen kam der Vorrat. Genau! Können Sie das widerlegen, Lurch?«

      »Nein, Herr Prinzipal – nein.«

      »Gut! Warum sagen Sie denn, der Vorrat – der Vorrat, der vor vier Wochen ankam – seien Sie so gut und lassen Sie diesen Umstand nicht aus den Augen – dieser Vorrat also – sei zu Ende. Warum? Sagen Sie nur, warum?«

      Herr Lanin lächelte und schaute Lurch scharf an.

      »Ja, Herr Prinzipal, er ist aber doch zu Ende«, antwortete Lurch sentimental. Herr Lanin lachte wieder; er war seiner Sache zu gewiß. Er setzte sich zurecht, nahm den Kneifer von der Nase, drückte die Augen zusammen, als gelte es, scharf zu denken: »Sagen Sie das doch nicht! Gehen wir systematisch vor. Wollen Sie so gut sein und auf meine Fragen antworten, nur das, Lurch; so kommen wir am schnellsten ins reine. Eine Partie echten Schweizer Käses – eine Partie inländischen Käses niederer Qualität und eine erster Qualität langten vor vier Wochen an. Gut! Kann der echte Schweizer Käse jetzt schon alle sein? Darauf kommt es an!«

      »Herr Prinzipal brauchen nur die Posten durchzusehen. Es stimmt«, entgegnete Lurch mit halsstarriger Freundlichkeit.

      »Posten? Lassen Sie das. Meine Frage, Lurch; nichts weiter.«

      »Der Käse ist alle, der Baron Poddor hat sehr viel holen lassen; bei Kollhardts hat man viel verbraucht. Überhaupt weiß ich nicht, was die Leute in letzter Zeit mit dem echten Schweizer Käse machen. Vom inländischen erster Qualität ist noch die ganze Partie da.«

      »Zur Sache!« drängte Herr Lanin.

      »Ja – mehr – Herr Prinzipal –«

      »Sancta simplicitas! Sie verstehen mich nicht. Warten Sie, ich will es aus Ihnen heraus entwickeln. Sie sprechen von Kollhardt, vom Poddor – was will das sagen. Merken Sie auf. Ich nehme an: Verlangt wird x und z – verstehen Sie, nur x und z. Ich lasse gleiche Quantitäten von x, von z und noch von y kommen, das fast so gut wie z ist. Also – sagen Sie mir, warum lasse ich auch y – immer noch die Annahme – kommen?«

      Lurch blickte vor sich nieder.

      »x, y und z –« wiederholte der Prinzipal und lächelte. – »Nehmen Sie sich Zeit.«

      »z?« fragte Lurch.

      »Ja; x, y und z.«

      Lurch bewegte lautlos die Lippen; endlich stieß er ein heiseres »Ja« aus.

      »Haben Sie's?« fragte Herr Lanin.

      »Ja – ich meine«, begann Lurch vorsichtig. »Wenn jemand käme und verlangte y –«

      »Ei, ei!« unterbrach ihn Herr Lanin. »Was machen Sie für Sachen! Es ist nicht zu glauben.«

      Lurch senkte wieder den Kopf und rechnete. Er hätte die Lösung schwerlich gefunden, und es war ihm lieb, daß die Türe stürmisch aufgerissen wurde und Fräulein Sally in sehr hoher Stimmlage in das Zimmer hineinrief: »Papa! Er ist da.«

      »Wer?« fragte Herr Lanin verstimmt.

      »Komische Frage! Der Neue natürlich«, erwiderte seine Tochter.

      »Ah!« Herr Lanin erhob sich.

      »Gehen Sie, Lurch. Ich muß fort. Sie werden nie rechnen lernen.«

      Mit diesen Worten eilte er auf den Flur hinaus. Dort fand er seinen Neffen, der dem kleinen Dienstmädchen mit sehr lauter Stimme Befehle wegen des Hereinschaffens der Koffer gab. Als er Herrn Lanin erblickte, ging er auf ihn zu und rief, ein wenig durch die Nase: »Ah! Sie sind wohl der Onkel?«

      »Allerdings! Allerdings!« erwiderte Herr Lanin und streckte dem jungen Mann mit einem feinen, geistreichen Lächeln beide Hände hin: »Du erkennst mich nicht? Natürlich! Es ist lange her, seit ich bei euch war. Warte! – Es sind fünfzehn Jahre – ganz recht – fünfzehn Jahre. Ha ha! Eine hübsche Zeit. Wie geht es zu Hause?«

      »Ich danke, der Alte hat mir Grüße für Sie und die Frau Tante aufgetragen. Mütterchen kränkelt ein wenig.«

      »So – so! Lege nur ab , dann stelle ich dich meiner Familie vor.«

      Die Familie stand an der halb angelehnten Türe und musterte den Ankömmling. Als Ambrosius Tellerat und Herr Lanin sich anschickten, in das Wohnzimmer einzutreten, stürzte die Familie an das andere Ende des Gemaches und griff nach gleichgültigen Dingen.

      »Da bringe ich euch den neuen Vetter«, sagte Herr Lanin und schlug seinem Neffen jovial auf den Rücken.


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