Wie in einem Spiegel. Eckhard Lange

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Wie in einem Spiegel - Eckhard Lange


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sicher nicht hergekommen, um mit mir über deine Jugendstreiche zu plaudern,“ sagte er. „Willst du mir den eigentlichen Grund verraten?“

      Jason nickte: „Du hast recht, Onkel Peer. Ich habe einen Grund. Oder nenne es eine Bitte. Du weißt, im Frühjahr werde ich das Abi machen, dann ist die Zeit im Internat vorbei. Ich muss mich entscheiden, wie es weitergehen soll.“ Und dann erläuterte Jason seinen Wunsch, zunächst ein mehrmonatiges Praktikum zu machen – und zwar hier, bei der Yolck Pharma. Und er schloss: „Ich möchte die Firma gerne näher kennenlernen. Schließlich ist es das Werk meines Vaters.“

      Peer Yolck hob erstaunt die Brauen und blickte den Neffen aufmerksam an. Wie sollte er diese Bemerkung verstehen? Und was hatte er mit diesem Wort „Werk“ gemeint? Nur schlicht das Lebenswerk seines Bruders Eicke, oder diesen Betrieb, der schließlich ihm, Peer Yolck, gehörte? Der Onkel hatte allen Grund, misstrauisch zu sein, aber er ließ sich nichts davon anmerken, sondern sagte nach einem Moment des Schweigens ruhig und freundlich: „Ich freue mich, dass du für die Yolck Pharma Interesse zeigst, das ist schließlich unser aller Lebensinhalt. Aber wie ein solches Praktikum aussehen könnte, das muss ich erst mit meinen Herren besprechen. Wir haben zwar gelegentlich Schüler als Praktikanten im Haus, aber doch höchstens für eine Woche. Die laufen dann einfach so mit und schauen zu, und in die Produktion dürfen sie sowieso nicht, das wäre zu gefährlich. Und an eine normale Lehre, mit welchem Berufsziel auch immer, hast du sicher auch nicht gedacht. Also hab bitte Verständnis, wenn ich nicht einfach zusagen kann. Ich muss das erst einmal abklären.“

      „Und wie lange wird das dauern? Ich müsste mich sonst möglichst rasch bewerben, Onkel Peer, ob nun Ausbildung oder Studienplatz.“ „Bleibst du noch länger in der Stadt? In ein paar Tagen könnte ich dir Näheres sagen.“ Aber Jason wollte möglichst schnell wieder abreisen, außerdem waren die Herbstferien mit dem anstehenden Wochenende beendet. Der Onkel nickte: „In Ordnung, mein Junge, ich werde sehen, dass wir rasch zu einer Entscheidung kommen. Spätestens Montag Nachmittag werde ich dich informieren. Über alles Nähere können wir dann immer noch sprechen. Einverstanden?“ Jason nickte.

      Peer Yolck erhob sich und reichte dem Neffen die Hand: „Wir werden schon einen Weg finden. Und – es war schön, dich nach so langer Zeit einmal wiederzusehen. Aber das wird sich ja hoffentlich bald ändern.“ Jason nahm das als eine vorweggenommene Zusage. Womit hätte der Onkel ihm auch seinen Wunsch verwehren können? Der erste Schritt in eine neue Zukunft war also getan.

      KAPITEL 6

       Ich habe ihn immer gehasst, meinen Onkel, aber ich habe mir das lange nicht eingestanden. Gut, er hat für meine Ausbildung gesorgt, als Vater dazu nicht mehr fähig war. Aber er hat uns alle nur benutzt für seine Ziele. Seinen Bruder hat er aus der Firma gedrängt, statt ihm zu helfen; seinen Neffen hat er mit kriminellen Aufträgen geködert, um ihm dann doch den Lohn vorzuenthalten. Es ist wahr: Ich war sein Werkzeug, als er um seinen Reichtum fürchten musste. Aber den Reichtum wollte er nur für sich, und ich bin leer ausgegangen. –

       Schon wieder dieses Selbstmitleid, Jason Yolck? Du hast dich doch auf jenes Spiel eingelassen, du hast kriminell gehandelt und Unschuldige mit hineingezogen. Denke an Madeleine. Sie ist das Opfer, nicht du! Du bist ausgenutzt worden, klagst du? Hast du nicht ebenso gehandelt, hast du nicht diese Frau benutzt für deine Ziele und sie dann ebenso fallen lassen? -

       Nein, nein und nochmals nein! Ich habe sie geliebt, obwohl ich nicht mehr lieben konnte. Ich habe ihr Erfüllung geschenkt und auch ein Kind – mein Kind, das sie so grauenvoll sterben ließ. –

       Das wird noch zu klären sein, Jason. Schon wieder verdrängst du deine eigene Schuld. Aber es geht nicht um deine Rechtfertigung, es geht um die Wahrheit, an die du dich erinnern sollst. Ohne diese Wahrheit wirst du deinem Leben niemals einen Sinn geben können. -

       Warum willst du mich immer nur beschuldigen, warum willst du mir meine Sicht der Dinge nehmen? Warum willst du mich vernichten? Ich bin doch du, es ist auch dein Leben, um das wir hier rechten. –

       Ja, es ist mein Leben, und eben deshalb muss ich auf der Wahrheit bestehen. Denn ich bin dein gespiegeltes Antlitz, du schaust doch in deine eigenen Augen, wenn du mich anblickst. Ich bin dein Gewissen, das du nicht hören willst. Aber ich bin da, Jason Yolck, mich wirst du nicht verjagen, auch wenn du den Spiegel verhängst, auch wenn du die Augen schließt. Dann werde ich in deinen Träumen zu dir kommen, und die musst du ertragen. Vielleicht kannst du sie vergessen im hellen Tageslicht, aber danach kommt die Nacht, kommt dein Schlaf, danach kommen deine Träume – komme ich, dein Gewissen. Du sagst, du hasst deinen Onkel? Mit welchem Recht? Niemand hat ein Recht zu hassen, weil niemand in die Seele eines anderen schauen kann. Was weißt du von seinen Gedanken, seinen Hoffnungen, ja auch seinen Ängsten? Nichts! Oder doch viel zu wenig, um darin deinen Hass zu verwurzeln. -

       Kann ich etwas für meine Gefühle? Sind sie nicht angelegt im Nervensystem, Produkte chemischer Prozesse in den Synapsen, unbeeinflusst vom Willen? Ich kann den Hass nicht zur Seite schieben, nicht ablegen wie meinen Mantel. –

       Du hasst, weil du nicht weißt. Versuche zu wissen, dann wirst du auch verstehen. Hass aber ist immer blind. Versuche zu sehen, dann wirst du erkennen. Nur die Wahrheit befreit uns, und die Wahrheit beginnt stets in uns, am Anfang steht immer die Wahrheit über uns selbst. Und genau davor fürchten wir uns, Jason Yolck! -

       Es ist gut. Ich will versuchen, uns die Wahrheit zu berichten, soweit mich die Erinnerung nicht in die Irre führt. Aber es ist meine Wahrheit, denn eine andere gibt es nicht für mich. Wahr ist, dass der Onkel am Montag nach jenem Treffen in seinem Büro mir ein Telegramm nach Lenorenlund schickte: „Halbjähriges Praktikum ab März 1996 möglich. Rufe bitte zurück.“ Und wahr ist auch, dass ich in den Weihnachtsferien noch einmal hinüber fuhr, um Einzelheiten zu erfahren und die Herren kennenzulernen, die für mich zuständig sein würden. Ich besuchte dann auch Vater, und nach einigem Zögern erzählte ich ihm von meinem Vorhaben. Erstaunlicherweise zeigte er plötzlich lebhaftes Interesse an diesem Plan, nannte mir einige Namen von Menschen, denen ich dort vertrauen könnte, wie er sagte, und zählte auf, welche Abteilungen und welche Produktionsabschnitte ich unbedingt näher kennenlernen sollte. Ja, er lebte richtig auf bei den Plänen, die er da für mich schmieden konnte, und plötzlich wurde mir klar, dass dieser Mann schließlich erst sechzig Jahre alt war und kein Greis, wie er mir sonst immer erschienen war. Und dann sagte er: „Vergiss nicht – diese Fabrik wird einmal dir gehören, sie ist dein Erbe.“ Es klang wie ein Befehl, es war wie ein Vermächtnis, zu dem er sich aufgerafft hatte, ehe er wieder in seine Depression verfiel. Und es fiel auf fruchtbaren Boden.

       Ich war verwirrt und aufgewühlt, als ich ihn endlich verließ. Solange hatte noch keiner meiner Besuche gedauert. Es war kalt draußen, die Wärme des überhitzten Zimmers in dem Stift wich mit einem Schlag, als ich zum Wagen ging. Und ich beschloss, noch einmal Onkel Peer aufzusuchen. Es war der Tag vor Heiligabend, ich umfuhr das Stadtzentrum, in dem sich die Menschen drängten, um die letzten Einkäufe zu erledigen. Es war schon dämmerig, als ich die Fabrik erreichte. Der Pförtner meldete mich an, während ich bereits die Treppe in den ersten Stock hinaufstieg. „Du hast noch Fragen?“ Peer Yolck schien etwas erstaunt über diesen spontanen Besuch, aber er bat mich in die Sitzecke. Ich schaute ihm geradewegs in die Augen und sagte dann: „Nur diese eine: Was ist damals passiert, als du die Geschäftsführung übernommen hast?“

       Er schwieg eine Weile, die Frage hatte ihn sichtlich überrascht, und sie war ihm unangenehm, obwohl er doch eigentlich damit hätte rechnen können. „Du warst damals noch klein, Jason, und ich denke, du hast vieles nicht so wahrgenommen,“ begann er dann zögernd. „Dein Vater war nach dem Tod deiner Mutter ziemlich... nun, sagen wir: mitgenommen, und es fiel ihm sichtlich schwer, die Geschäfte der Firma wie gewohnt zu führen. Aber das war nicht entscheidend für Großvater und mich. Doch etwa drei Monate nach dem Todesfall erlitt er einen Schlaganfall. Wir haben dir das nie gesagt, wie hätten wir das einem Kind erklären sollen, was das bedeutete. Aber der Arzt bestätigte uns, bei ihm seien einige wichtige Hirnfunktionen beschädigt worden. Eine Behandlung


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