Wie in einem Spiegel. Eckhard Lange
Читать онлайн книгу.erwischen würde, könnte dich niemand verdächtigen, und ich würde dich niemals verraten!“ -
Und dir ist nie aufgefallen, dass seit dieser Zeit sich laufend Diebstähle im Schloss ereigneten? Dass Geld und Uhren und teure Markenklamotten verschwanden, immer wieder, ohne dass je ein Dieb gefasst wurde? Dass Misstrauen wuchs und Verdacht geäußert wurde, bis die Atmosphäre im Haus unerträglich wurde? –
Wie sollte ich wissen, dass Anita es war, dass sie mich nur deshalb verführt hatte, um ins Schloss zu gelangen? Hinaus kam sie ja jederzeit, von innen durfte keine Tür verriegelt sein. Kann man jemand verdächtigen, dem man sein ganzes Glück verdankt? Kann man überhaupt solche Gedanken haben, wenn man liebt – von ganzer Seele und mit seinem ganzen Gemüt und mit allen Fasern seines Herzens, wie irgendwo geschrieben steht? -
Und ist dir nie bewusst geworden, dass diese Anita beides genoss – die Lust der Liebe, die du ihr als gelehriger Schüler immer wieder bereitet hast, und die Lust am Verbotenen, den prickelnden Reiz des Abenteuers, den jeder Einbruch ihr verschaffte, das Gefühl des Erfolges, wenn sie ihr Diebesgut in Geld verwandelte und ihr Konto anwuchs Tag für Tag? –
Warum musst du auch unsere Liebe hineinziehen in das Verbrechen, warum willst du mich zum Mitschuldigen machen, der ich doch schuldlos war, unschuldig in allen Bedeutungen, die dieses Wort haben mag? –
Nein, Jason! Blind warst du, deinen Verstand hast du zur Seite gelegt wie ein schmutziges Wäschestück, aber unschuldig warst du deshalb nicht. Sieh der Wahrheit ins Auge – auch wenn dieses Auge kalt und grausam blickt und nicht grüngrau und lächelnd. Du hättest es wissen können, das kannst du nicht leugnen. Du hättest es verhindern können, das kannst du nicht abstreiten. Und, als sie dann plötzlich eines Tages fortblieb und die Frauen in der Küche dir verrieten, Anita habe gekündigt, und als mit dem gleichen Tage die Diebstähle aufhörten – du hättest den Zusammenhang erkennen und melden müssen, um alle deine Kameraden vom Verdacht reinzuwaschen. Das weißt du genau. Aber du warst feige, weil du nicht hineingezogen werden wolltest, weil dein Ansehen bei den Erziehern und Lehrern und bei deinem geliebten Dr. Scheer auf dem Spiel stand, weil du fürchten musstest, ein Jahr vor dem Abitur aus dem Internat entfernt zu werden. Das ist die Wahrheit, Jason Yolck: deine Feigheit, Verantwortung zu übernehmen. An diese Feigheit muss ich dich erinnern, nicht an das, was du Liebe nennst.
KAPITEL 5
Es blieb ihm noch eine zweite Ferienwoche, und Jason beschloss, seinen Onkel aufzusuchen. Er hatte sich genug zusammengespart aus seinem Taschengeld und nach seinem achtzehnten Geburtstag einen gebrauchten Mini billig erworben. Für die wenigen Ausflüge reichte ihm das Fahrzeug allemal. Diesmal musste es eine längere Reise werden, und so brach er schon früh auf, um möglichst rechtzeitig anzukommen. Man hatte ihm ein kleines Hotel am Stadtrand empfohlen, wo er preiswert übernachten konnte, denn auf keinen Fall wollte er in jene Villa eingeladen werden, die vor langen Jahren einmal sein Zuhause war.
Es war früher Nachmittag, ein regnerischer, trüber Tag, als er an jenem Tor mit den zwei schon leicht geneigten Rundtürmen vorbei fuhr, das zum Wahrzeichen seiner Heimatstadt geworden war. Sein Ziel war der Friedhof draußen vor dem anderen Stadttor, war das Grab der Mutter irgendwo dort unter den altgewordenen Bäumen. Er hatte nur sehr unklare Vorstellungen von dem Weg, den er dort nehmen musste, hatte er doch seit längerem nicht mehr die Grabstätte aufgesucht, und dann war es Winter gewesen, bei einem seiner weihnachtlichen Besuche beim Vater. Jason parkte den Wagen in einer Seitenstraße, ließ sich in einem Blumengeschäft einen Strauß gelbbrauner Herbstastern binden und trat durch das Tor des Gottesackers. Mehrfach ging er in die Irre, kehrte immer wieder zum Eingang zurück, um einen neuen Versuch zu starten, und endlich stand er vor dem großen Stein und einem reichlich ungepflegten Grabhügel. Der Vater schien sich nicht mehr um die Grabstätte zu kümmern, der Onkel offensichtlich auch nicht.
Der Regen hatte zugenommen, Jason zog die Kapuze seines Anoraks über den Kopf und stand lange bewegungslos da. Da er keine Vase fand, hatte er den Strauß vor den Stein gelegt. Ob er nun rascher vertrocknen würde, das blieb letztlich gleich, niemand würde es bemerken, und niemand den Strauß wieder entfernen. Als es dämmerte, fuhr er an den Rand der Altstadt und wanderte ziellos durch die Straßen. Vor dem Schaufenster jener Apotheke, die der Großvater einst betrieben hatte und die noch immer den alten Namen trug, blieb er stehen und betrachtete die Auslagen. Und dann sah er sie, die bekannten Packungen jener beiden Arzneien, die einmal zum Aufstieg der Yolck Pharma geführt hatten und noch immer ihren Reichtum ausmachten. Morgen also würde er dorthin fahren. Er hatte sich nicht angemeldet, und ihm kamen plötzlich Bedenken, einfach dort vorzusprechen. Der Onkel könnte ja auf Reisen sein, oder durch Termine gebunden und in Eile. Jedenfalls sollte er vorher anrufen und sich anmelden. Gleich am Morgen würde er vom Hotel aus versuchen, einen Zeitpunkt für seinen Besuch auszumachen.
Er schlief unruhig diese Nacht, mag nun das ungewohnt harte Bett oder die innere Anspannung daran Schuld gewesen sein. Beim Frühstück bat er um das örtliche Fernsprechbuch und notierte die Nummer, um gleich danach im Werk anzurufen. Er konnte förmlich spüren, wie die Sekretärin von Peer Yolck erstaunt oder gar erschrocken war, als er seinen Namen nannte und hinzufügte, er sei in der Stadt. Um einen kurzfristigen Termin zu nennen, gab sie das Gespräch in die Warteschleife zurück, und Jason wusste, dass sie zunächst den Onkel informierte. Dann meldete sie sich zurück, bat um Entschuldigung und lud ihn für den frühen Nachmittag ins Werk.
Es galt also, noch einmal einige Stunden zu überbrücken, und weil ihm nichts anderes einfiel und auch der Regen längere Spaziergänge unmöglich machte, beschloss Jason, jene großen Kirchen zu besuchen, die er als Kind an der Hand der Mutter einmal bestaunt hatte. Und so betrachtete er zunächst im altehrwürdigen Dom die vielen gotischen Schnitzaltäre, bis ihn eine weibliche Heiligenfigur plötzlich an Anita erinnerte, seine erste und so kläglich gescheiterte Beziehung im vergangenen Jahr. Da verließ er verstört das Gotteshaus, und auch die hohe Halle der Ratskirche nahe dem Markt konnte ihm die innere Ruhe nicht wieder zurückbringen. Doch dann erklang das Glockenspiel der astronomischen Uhr, und danach lud eine Stimme zu einer kurzen Andacht ein.
Jason setzte sich ins Mittelschiff, lauschte auf das Vorspiel der Orgel und hörte unkonzentriert auf eine Frau, die dort vorne ihre Gedanken ausbreitete. Doch er fand nichts, was ihn innerlich bewegen konnte. So ging er, immer noch voller Unruhe und Selbstzweifel, zum Wagen zurück. Immerhin hatte der Regen aufgehört, und hin und wieder brach sogar ein wenig Sonnenschein durch die dichte Wolkendecke. Unterwegs kaufte er sich einen Snack in einer Bäckerei, damit er nicht mit leerem Magen in das Gespräch gehen musste. Endlich zeigte die Uhr, dass es Zeit war, den Wagen die Ausfallstraße hinaus zum Werksgelände der Yolck Pharma KG zu lenken. Er fand einen Besucherparkplatz nahe dem Verwaltungsgebäude und betrat die Eingangshalle. Der Pförtner meldete seine Ankunft und beschrieb den Weg zum Vorzimmer, wo ihn die Sekretärin mit großer Höflichkeit empfing. Sie bat ihn, einen Augenblick zu warten, bis der Chef sein Telefongespräch beendet habe, und gab ihm dann die Tür frei.
Es war immer noch jener Raum, in den er einst von seinem Vater geführt worden war, nur an die Möblierung konnte Jason sich nicht mehr erinnern, wohl aber an die dunkle Eichenholztäfelung, die der Großvater hatte anbringen lassen und die noch immer den Wänden ein gediegenes und auch ehrfurchtgebietendes Aussehen gab. Peer Yolck hatte sich erhoben und ging auf den Neffen zu. Er war älter geworden, der Haarkranz noch spärlicher, aber er blickte energisch über seine Lesebrille hinweg auf den Jungen, dann zeigte sein Gesicht ein Lächeln, er streckte die Hand aus und sagte: „Schön, dich einmal wiederzusehen, Jason. Ich hoffe, du hast keine schlechte Nachricht für mich. Es ist doch alles in Ordnung dort in deiner Schule?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wies er auf die Sitzecke neben dem Schreibtisch, und beide setzten sich. Auf einem Tischchen standen Flaschen mit Wasser und verschiedenen Säften, daneben eine Schale mit Gebäck. „Bitte, bedien dich, mein Junge!“
Eine Weile verlief das Gespräch in unverbindlicher Plauderei, der Gastgeber erkundigte sich nach dem Schulbetrieb in Lenorenlund, sie sprachen über die schöne Lage an der Förde, über Jasons Segeltörns und seine Mitarbeit in den Gilden, die zum Konzept des Internats gehörten, und Jason