Justice justified. Kendran Brooks
Читать онлайн книгу.klingelte, drückte die Türklinke hinunter und trat ein. Dr. Grey kam ihm lächelnd aus dem Behandlungszimmer entgegen.
»Und? Wie fühlen Sie sich heute, Jules?«
»Blendend, Emanuelle.«
Jules hatte nach rund zwei Dutzend Sitzungen auf die Anrede mit Vornamen bestanden und Dr. Grey war nach kurzem Zögern darauf eingegangen, sah darin vor allem einen Weg, die Vertrautheit und damit das Vertrauen zu verstärken und so noch direkter und stärker in die Psyche dieses Patienten einzudringen.
»Haben Sie sich mit den Punkten beschäftigt, die ich Ihnen das letzte Mal vorgeschlagen habe?«
Jules setzte sich in den von ihr angebotenen Sessel, lächelte die Psychologin spöttisch an.
»Jaaa«, gab er dann provokativ langsam von sich, »ich habe meine Hausaufgaben gemacht.«
»Und?«
»Sie lagen wiederum falsch«, gab Jules siegesgewiss von sich.
Nun lächelte auch Dr. Grey, jedoch nicht etwa spöttisch, sondern mit Nachsicht.
»Sie haben sich intensiv an diesen einen Tag in Mexiko zurückerinnert?«
Jules nickte zustimmend, wirkte auf einmal jedoch irgendwie verbissen oder gar verbiestert.
»Und Sie verspürten dabei keinerlei Angst?«
Er schüttelte stumm und ablehnend den Kopf.
»Auch nicht, als Sie die rostige Säge in die Hand nahmen?«
Jules schluckte hart, verneinte erneut durch kurzes Kopfschütteln.
»Und als Sie sie ansetzten? Zum ersten Schnitt?«
Eine Schweißperle zeigte sich auf der Stirn ihres Patienten. Doch der wischte sie mit dem Handrücken rasch weg, starrte Dr. Grey nun beinahe feindselig an.
»Tat es denn sehr weh?«
Diesmal nickte der Schweizer und seine Kinnlade bebte dabei leicht, als müsste er ein Würgen unterdrücken.
»Und sie verspürten wirklich keine Angst?«
Keine Antwort von ihm. Oder war das verbissene Schweigen eine Zustimmung?
»Wissen Sie, Jules, diese Gedankenübungen dienen nur einem Zweck. In Ihrem Gehirn ist einiges durcheinandergeraten. Tatsachen haben sich womöglich mit Fantasien und Möglichkeiten vermengt. Die tatsächlich erlebten Gefahren vermischten sich mit unterbewussten Ängsten. Und über all dem lastet ihre Verantwortung, für Ihre Familie und für sich selbst. Nicht zuletzt aber auch für die Getöteten.«
Jules wischte sich mit den Daumenballen über die feucht gewordenen Augen.
»Und warum quälen Sie mich weiterhin damit?«
Dr. Grey lächelte nun beinahe traurig.
»Sie sind immer noch in ihrem selbst geschaffenen Käfig gefangen, Jules. Diesen Käfig müssen Sie allein zerstören, und zwar von innen heraus. Alles was ich dabei tun kann, ist Ihnen zu helfen, Sie zu unterstützen, indem ich Ihnen den richtigen Weg aufzeige und sie Schritt für Schritt begleite.«
»Und dazu müssen Sie so lange in meinem Gehirn herumwühlen, bis ich selbst kaum mehr weiß, was Wahrheit ist und was Einbildung?«
»Jules, Sie wissen längst nicht mehr, welche von Ihren Erinnerungen und Empfindungen tatsächlich passiert sind und welche Sie bloß träumten, welche Gefühle Sie bei Ihren möglichen Taten empfunden und welche Sie sich später eingeredet haben. Wenn Sie aus Ihrem selbst geschaffenen Gefängnis jemals ausbrechen wollen, dann müssen wir zuerst jede einzelne Käfigstange analysieren und ihren Schwachpunkt finden. Denn mit jeder neu gewonnenen Erkenntnis schreitet die Korrosion fort. Erst der Rost wird ihnen mit der Zeit den Ausbruch ermöglichen.«
»Schön bildhaft gesprochen, Dr. Grey.«
Der Spott war in die Stimme des Schweizers zurückgekehrt.
»Keine Ausflüchte mehr, Jules. Das haben Sie mir versprochen«, meinte die Psychologin streng.
Er nickte als Zustimmung, sank tiefer in den Sessel.
»Warum eigentlich darf ich nicht liegen während unseren Sitzungen?«
»Weil ich nicht will, dass Sie sich zu sehr entspannen, Jules. Entspannung ist gut, um zu vergessen. Doch das können und dürfen Sie nicht. Noch lange nicht.«
Ein paar Sekunden lang schwiegen beide, sahen sich bloß stumm in die Augen. Es war dann Jules, der fortfuhr.
»Haben Sie irgendwelche Tipps für meinen Urlaub? Oder irgendwelche besonderen Aufgaben?«
»Ja, die hab ich. Sie sollten mit Ihrer Frau über alles sprechen, ihr offen erzählen, so wie Sie das bei mir in den letzten Wochen getan haben. Ich durfte Alabima in der Zwischenzeit ja kennenlernen. Sie wird Sie verstehen. Und Ihnen helfen.«
»Nein«, wies Jules ihren Auftrag strikt ab, »kommt nicht in Frage. Alabima wird nicht auch noch da hineingezogen. Sie bleibt aus dem Spiel.«
»Es ist kein Spiel, Jules«, antwortet Dr. Grey sanft, »denn es geht um Ihr Leben. Oder hatten Sie in letzter Zeit etwa keine Selbstmordgedanken mehr?«
Diesen heiklen Punkt in seinem Leben hatte die Psychologin bislang in all den Sitzungen kaum erwähnt. Nur zu Beginn der Therapie war Selbstmord ein Thema und Jules hatte seither keine Lust verspürt, ihr von sich aus mehr darüber zu erzählen. Doch der Psychologin war von Anfang an klar gewesen, dass das Leben Ihres Patienten stark gefährdet war. Wohl nicht unmittelbar, da war sie sich mittlerweile ziemlich sicher, denn jeder Selbstmörder wälzte diesen Gedanken viele, viele Male, gab ihnen zu Beginn ihrer Verirrungen meist keine echte Chance. Doch jede Idee konnte langsam reifen und zu einer verführerischen Gewissheiten werden. Denn das plötzliche Ende versprach den Patienten zumindest Frieden, für die Seele, für das so arg geplagte Gewissen. Der eigene Tod war zudem die ultimative Sühne, das Gegengewicht zur Schuld, ein Ausgleich und die Wiederherstellung von Gerechtigkeit.
»Sie sollten Mexiko vorerst meiden.«
»Und New Mexiko?«, fragte er anzüglich und angriffslustig zugleich.
Das Lächeln von Dr. Grey zeigte überlegenes Verständnis.
»New Mexiko geht in Ordnung. Grüßen Sie mir Santa Fe.«
»Sie waren bereits dort?«
Dr. Grey winkte ab.
»Ich lebte ein paar Monate dort. Hatte was mit Liebe zu tun.«
»Aha.«
Mehr sagte Jules nicht. Und auch Dr. Grey fügte nichts hinzu.
»Denken Sie in den nächsten Wochen über eines nach, Jules.«
Der Schweizer blickte seine Psychologin aufmerksam an.
»Haben Sühne und Gerechtigkeit tatsächlich etwas miteinander zu tun? Oder bilden wir uns das bloß ein? Sind die beiden vielleicht sogar Gegner, die sich ausschließen?«
»Philosophie, Dr. Grey?«, spöttelte Jules erneut.
»Erkenntnisse«, korrigierte sie, »einen intelligenten Menschen wie Sie, Jules, kann man nur über eigene Erkenntnisse heilen.«
*
»Nein, Mr. Chen, das verstehe ich doch…«
Michael Langton presste das Handy fest an seine Ohrmuschel. Er schwitzte stark und seine Augen zeigten einen Anflug von Panik, dem sich nun auch sein übriges Gesicht immer mehr anschloss.
»Doch, doch. Da haben Sie bestimmt Recht, Sir. Aber bedenken Sie doch…«
Dieser Mr. Chen schien ihn nicht ausreden zu lassen. Jedenfalls verstummte Michael Langton erneut, fuhr sich fahrig mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Sie glühte, als hätte er Fieber.
»Aber wir müssen uns irgendwie einigen.«
Verzweiflung