Aufstand in Berlin. Heinz-Joachim Simon

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Aufstand in Berlin - Heinz-Joachim Simon


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sein schienen, in denen ein Absatzrekord den anderen ablöste. Bisher hatte er die trüben Gedanken immer beiseitegeschoben und weiter gemacht. Er glaubte bis dahin, dass es keine Alternative zum Weitermachen gab. Bis zu diesem Herbsttag hatte er dies geglaubt.

      Später dachte er oft an jenen Augenblick, als er aus dem Grunewald zur Stadtmitte fuhr. Es war ein schöner Herbsttag, und die Blätter der Bäume hatten sich bereits verfärbt und waren der Abgesang auf einen heißen Sommer, den man einen Jahrhundertsommer nannte. Aber die Meteorologen sprachen bereits davon, dass wegen der Erderwärmung viele solcher Sommer folgen würden. Zum ersten Mal hatte er keine Freude daran, wie gut sein Wagen beschleunigte. Es war ein gutes Auto mit allem Komfort und einem Motor, der in Fachkreisen als Meisterstück deutscher Ingenieurkunst gepriesen wurde und mehr Pferdestärken hatte und schneller beschleunigte, als notwendig war. Das dunkelblaue Coupé mit den hellen Ledersitzen und dem Stern vor der Motorhaube entsprach seiner Bedeutung als Vorsitzender des Singerkonzerns. Aber Singer wusste, dass dies nur ein trügerisches Abzeichen geliehener Macht war.

      Während er an der Siegessäule vorbei auf das Brandenburger Tor zufuhr, grübelte er darüber, was an diesem Tag anders war. Er kam zu keinem Ergebnis. Automatisch beschleunigte Singer, überholte einige Busse und reihte sich wieder in die allmorgendliche Autoschlange ein. Singer brauchte nicht sehr Acht zu geben. Er kannte jede Kurve, jede Kreuzung, jede Unebenheit der Straßen in der Stadtmitte. Oben am Himmel zog ein Flugzeug Warteschleifen über der Stadt. Es war alles so wie an den vorangegangenen Tagen. Auch nachher, in seinem exklusiven Penthausbüro am Gendarmenmarkt erwartete ihn nichts, was von einem normalen Arbeitstag abweichen würde.

      Seine Sekretärin würde ihn freundlich lächelnd empfangen und den Kaffee und die Akten bringen. Vielleicht würde sie ein paar Worte über das gestrige Fernsehprogramm verlieren, um danach mit ihm die Post durchzugehen. Oh ja, er hatte alle Tribute eines wichtigen Mannes. Das Büro hatte ein bekannter Innenarchitekt eingerichtet und an den Wänden hingen Bilder von Kandinsky und Kokoschka. Die Möbel waren vom Bauhausstil beeinflusst und nüchtern genug, um eine kühle sachliche Atmosphäre zu vermitteln. Er wusste, dass er viele Neider hatte. Aber noch schützte ihn sein Name und mehr noch … der Einfluss des Konsuls, seines Schwiegervaters.

      Auch seine Frau gehörte einer mächtigen Industriedynastie an und das Haus im Grunewald war mit ihrem Geld renoviert worden. Von dem Reichtum, den man Eugen Singer zuschrieb, gehörte ihm persönlich nur das kleine Aktienpaket des Singerkonzerns, das trotz des schlechten Kurses immer noch einige Millionen wert war. Helen dagegen konnte sich mit ihren Aktien, die ein Vermögensverwalter betreute, als eine der reichsten Frauen der Republik bezeichnen. Zum Glück war dies aber nur Eingeweihten bekannt. Den wirklich Reichen des Landes, die sich hinter hohen Mauern verbargen und genug Macht hatten, dass selbst die Presse sich zurückhielt, da deren Eigentümer auch zu dem illustren Kreis der Reichen zählten und man gute Freunde und Bekannte natürlich vor zu großer Publizität schützte.

      Eine bleierne Schwere der Glückseligkeit lag über dem Land. Die Menschen wollten den Zustand ihres Landes nicht wahr haben und verdrängten die Furcht und die Erkenntnis, dass sie auf Kosten ihrer Kinder lebten. In der Hauptstadt löste ein Event das andere ab.

      Eugen Singer wusste, dass ihn unangenehme Nachrichten erwarteten, aber dies war nicht der eigentliche Grund seiner Unzufriedenheit, es war grundsätzlicher. Er würde zwar wieder einmal dem Aufsichtsrat melden müssen, dass sich die gesteckten Ziele nicht erreichen ließen. Zum Teufel damit, dachte er. Sie wissen doch, dass die Inder bei gleicher Qualität billiger Stahl produzieren können. Aber nicht dies Eingeständnis beschäftigte ihn. An diesem Morgen entdeckte er, dass ihm dieser Ärger gleichgültig war. Das war es, was ihn beunruhigte.

      Vor ihm leuchteten Bremslichter auf. Eugen Singer nahm das Gas zurück und trat leicht auf die Bremse. An anderen Tagen hätte er sich gefreut, wie mühelos sich der Wagen fahren ließ. Helen hatte ihm das Auto zu seinem Fünfzigsten geschenkt. Singer fiel nun die Verabredung ein, die er heute mit dem Einkaufschef eines Automobilkonzerns hatte. Sie wollten sich im Adlon zu einem Arbeitsessen zusammensetzen. Er war ein wichtiger Kunde, und wenn Singer ihn überzeugen konnte und dieser ihn im Preis nicht zu sehr drückte, konnte er das vorgegebene Umsatzziel des Quartals doch noch erreichen. Doch den Zuschlag würde er nicht wegen eines guten Abendessens erhalten, sondern er würde den Einkaufschef mit einigen hunderttausend Euro auf ein Konto auf den Bahamas schmieren müssen und vielleicht noch mit einer Reise auf der „Seemöwe“, einem Luxussegelschiff, das der Singerkonzern in der Karibik für die Pflege von Geschäftsbeziehungen bereithielt.

      Eugen Singer seufzte. Ohne „Bakschisch“ lief nichts mehr in diesem Land. Nicht nur Baukonzerne pflegten Aufträge über Zuwendungen an Entscheidungsträger hereinzuholen. Jeder tat es. Jedenfalls fast jeder. Das Land war korrupt geworden. Wir haben alle Speck angesetzt und dies hat uns verdorben, dachte er und tastete nach seinem Bauch, mit dem er eigentlich ganz zufrieden war. Sonst war er vor solchen Gesprächen immer etwas aufgeregt. Nicht so sehr, dass man es ihm angemerkt hätte. Der Druck in der Magengegend und das Kribbeln, das dann durch seinen Körper lief, hatten ihn immer erst so richtig in Schwung gebracht. Er spürte auch keine Freude darüber, wieder einmal im Adlon essen zu können. Dabei war er gern in dem Restaurant mit seiner mediterranen Atmosphäre und dem Ausblick auf den Pariser Platz, wenn sie dort nicht, wie zur Fußballweltmeisterschaft einen riesigen Fußball platziert hatten. Nicht nur das Essen war gut – insbesondere die Adlonente – sondern auch die Art, wie man als Gast behandelt wurde. Eugen Singer dachte an Henkel, den Servicechef. Henkel erinnerte ihn an einen alten kriegserfahrenen Offizier. Jemand, der genau wusste was zu tun war, der auf jedes überraschende Ereignis mit den richtigen Maßnahmen antworten und eine Panne in der Küche, was selten genug vorkam, in einen erneuten Beweis exzellenter Dienstbereitschaft und Wertschätzung des Gastes verwandeln konnte.

      Eugen Singer sah den drahtigen Mann mit dem kurzen Bürstenhaarschnitt und den scharfen energischen Gesichtszügen vor sich. Henkel konnte seinen Gästen das Gefühl vermitteln, dass es wichtig war, alle Sorgfalt auf Auswahl und Zusammenstellung der Gerichte zu legen, auf die Wahl des passenden Weines und dass das Wissen darum ein Zeichen von Kultur war.

      Eugen Singer fuhr nun am Brandenburger Tor und der Baustelle der amerikanischen Botschaft vorbei und bog in die Behrenstraße ein. Man meldete Verkehrstaus in Charlottenburg. Eigentlich war alles so wie immer. Nur dieses bohrende Gefühl und die Gleichgültigkeit hinsichtlich der Dinge, die ihm als Vorstandsvorsitzender nicht unwichtig sein durften, waren beunruhigend und neu und verwirrend. Aber seltsamerweise wünschte er sich nicht, dass es anders wäre.

      Er fuhr an der Komischen Oper vorbei und der Verkehr wurde immer dichter. Im Radio spielten sie „Strangers in the night“, einen uralten Hit von Frank Sinatra. Er dachte an die Zeit, als dieses Lied populär gewesen war. Alle trugen sie enge, auf den Leib geschneiderte Hosen, die an den Schenkeln spannten und unten ausgestellt waren und einen Schlag hatten, wie sie es nannten. Singer trug dazu stets einen roten Pullover und abends im „Big Apple“ hörten sie die Platten der Rolling Stones und Beatles und Kinks und wie diese trugen sie ihr Haar lang. „Satisfaction“, „Midnight Ramble“ und „The Last Time“, das waren die Songs, die sie wieder und wieder hörten. Er erinnerte sich noch, dass er die Wand in seinem Schlafzimmer mit Bildern aus „ …..denn sie wissen nicht, was sie tun“ tapeziert hatte. Damals hatte er sich immer Cowboystiefel gewünscht, wie sie James Dean in „Giganten“ trug. Singer lachte vor sich hin.

      Nun bog er in den Gendarmenmarkt ein und erfreute sich wieder an den Proportionen des Platzes und grüßte zu dem Schalmeispieler auf dem Löwen hinüber. Er liebte den Platz und verteidigte ihn oft gegen Helens Ansichten, dass die Piazza Navona in Rom oder der Place Vendôme in Paris viel schöner seien. Für ihn war der Gendarmenmarkt sein Wohnzimmer und er ließ nichts auf seine Schönheit kommen.

      Als er vor dem Haus Nummer 12 schräg gegenüber dem Schauspielhaus hielt, kam der Portier herausgelaufen. Singer stieg aus und nickte ihm zu. Der Portier, ein Angestellter seines Konzerns, würde den Wagen in die Garage fahren. Ohne die Touristen zu beachten, die neugierig der Wagenübergabe zugesehen hatten, ging er mit schnellen Schritten in die marmorverkleidete Halle des Hauses, das nach der Wende vom Singerkonzern gebaut worden war und dessen drei oberste Etagen


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