Worin besteht mein Glaube. Лев Толстой

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Worin besteht mein Glaube - Лев Толстой


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widerfahren wäre, der nach der Bedeutung einer Masse kleiner, untereinandergeworfener Marmorstücke durch mühsames Zusammensetzen nach einer falschen Zeichnung suchen würde, wenn er dann plötzlich aus einem grösseren Stücke erraten würde, dass es eine ganz andere Bildsäule sei und, ein neues Bildwerk zusammenzustellen beginnend, anstatt der früheren Unzusammenhängigkeit der einzelnen Teile, an jedem Stücke, das durch alle Krümmungen seiner Brüche sich an andere Stücke schliessen und ein Ganzes bilden würde, die Bestätigung seines Gedankens sehen würde. Solches geschah mit mir. Und das ist es, was ich erzählen will.

      Ich will erzählen, auf welche Weise ich zu der Erkenntnis der Lehre Christi den Schlüssel gefunden, der mir die Wahrheit eröffnet hat, so klar und einleuchtend, dass jeder Zweifel ausgeschlossen blieb.

      Diese Entdeckung geschah folgendermaßen: Seit der frühesten Zeit, seit meiner Kindheit fast, als ich anfing das Evangelium allein zu lesen, hat mich in dem ganzen Evangelium am meisten jene Lehre Christi bewegt und gerührt, in welcher er Liebe, Demut, Erniedrigung seiner Selbst, Selbstaufopferung und Vergeltung des Bösen mit Gutem predigt – Dies blieb auch für mich stets der Inbegriff des christlichen Glaubens, das, was ich in ihm von Herzen liebte, das, um des Willen ich, nach Verzweiflung und Unglauben, jene Bedeutung als wahr erkannte, die das christliche Arbeitsvolk dem Leben gibt, und um des Willen ich mich demselben Glauben unterwarf, zu dem jenes Volk sich bekennt, d. h. der sogenannten orthodoxen Kirche. – Doch nachdem ich mich der Kirche unterworfen, erkannte ich bald, dass ich in den Lehren derselben nicht die Bestätigung der Erklärung jener Grundsätze des Christentums finden würde, die mir als das Wichtigste erschien; ich erkannte, dass dieses mir teure Wesen des Christentums in der Lehre der Kirche nicht die Hauptsache sei. Ich erkannte, dass das, was mir in Christi Lehre als das Wichtigste erschien, von der Kirche nicht als solches anerkannt wird. Die Kirche erkennt etwas anderes als das Wichtigste an. Anfangs legte ich dieser Eigentümlichkeit der kirchlichen Lehre keine Bedeutung bei. – »Was ist's weiter? – dachte ich – die Kirche erkennt einfach, ausser dem Sinne der Liebe, der Demut und Selbstaufopferung, noch einen anderen, dogmatischen, äusseren Sinn an. Mir ist dieser Sinn fremd; er stösst mich sogar ab; doch tut er weiter keinen Schaden.«

      Jedoch, je länger ich lebte, mich der Lehre der Kirche unterwerfend, um so bemerkbarer ward es mir, dass diese Eigentümlichkeit der kirchlichen Lehre nicht so gleichgültig sei, wie sie mir anfangs erschien. Mich stiess die Kirche auch durch die Sonderbarkeiten ihrer Glaubenslehren ab, auch durch ihr Anerkennen und Gutheissen der Verfolgungen, der Verurteilungen und Kriege und auch durch das gegenseitige Verleugnen der Anhänger der verschiedenen Glaubenslehren; am meisten aber ward mein Zutrauen zu ihr erschüttert gerade durch ihre Gleichgültigkeit gegen das, was mir als der Kern der christlichen Lehre erschien, und dagegen ihre Vorliebe für das, was ich für Nebensache hielt. Ich fühlte, dass hier etwas nicht richtig sei. Was aber nicht richtig war, konnte ich durchaus nicht finden; ich konnte es nicht finden, weil die kirchliche Lehre nicht nur das nicht leugnete, was mir die Hauptsache in der Lehre Christi schien, sondern es vielmehr vollkommen anerkannte, jedoch so, dass diese »Hauptsache« in der Lehre Christi nicht mehr Hauptsache blieb. Ich konnte der Kirche nicht den Vorwurf machen, dass sie das Wichtigste verleugne; ihre Anerkennung jedoch dieses Wichtigsten war für mich eine unbefriedigende. Die Kirche gab mir nicht das, was ich von ihr erwartete.

      Ich bin vom Nihilismus zur Kirche nur deshalb übergegangen, weil ich die Unmöglichkeit eines Lebens ohne Glauben und ohne Erkenntnis dessen, was, ausserhalb, meiner tierischen Instinkte, gut oder böse sei, einsah. Diese Erkenntnis glaubte ich im christlichen Glauben zu finden. Der christliche Glaube aber, wie er mir damals erschien, war nur eine gewisse, sehr unklare Stimmung, aus der keine bestimmten Pflichten und Regeln des Lebens entsprossen. Nach diesen Regeln also wandte ich mich an die Kirche. Die Kirche jedoch gab mir Regeln, die mich nicht im geringsten jener mir teuren christlichen Stimmung näher brachten, ja mich vielmehr von derselben entfernten. Und ich konnte ihnen nicht folgen. Ich bedurfte eines Lebens, das auf christliche Wahrheiten gegründet war, und nur ein solches war mir wert; die Kirche aber gab mir Lebensregeln, die den mir teuren Wahrheiten vollständig fremd waren. Die Regeln, die mir die Kirche gab: über den Glauben an die Dogmen, über die Erfüllung ihrer Gesetze, das Einhalten der Fasten und Gebete – die brauchte ich nicht; Regeln aber, die auf christliche Wahrheit gegründet gewesen wären, die gab sie mir nicht. Mehr als das: die kirchlichen Regeln schwächten, ja vernichteten sogar manchmal geradezu jene christliche Stimmung, die allein meinem Leben Wert verlieh. Am meisten verwirrte es mich, dass alles Böse der Menschen – die Verdammung des Einzelnen, die Verdammung ganzer Völker, die Verdammung anderer Glaubenslehren und die aus solchen Verdammungen entstehenden Verfolgungen und Kriege – alles das von der Kirche gerechtfertigt wurde. Christi Lehre von der Demut, der Nachsicht, der Vergebung aller Kränkungen, der Selbstverleugnung und Liebe wurde von der Kirche in Worten hochgepriesen und zugleich wurde in der Tat das gutgeheissen, was mit dieser Lehre nicht im Einklang stehen konnte.

      War denn Christi Lehre eine solche, dass dergleichen Widersprüche bestehen mussten? Ich konnte das nicht glauben. Überdies war es mir stets sonderbar erschienen, dass die Kirche mit ihren Regeln über die Lehre Christi sich gerade auf solche Stellen stützte, die die undeutlichsten des Evangeliums waren, soweit mir dasselbe bekannt. Während die Dogmen und die aus denselben entstehenden Pflichten der Christen in einer vollkommen klaren und bestimmten Weise in dem Evangelium ausgesprochen waren, äusserte sich die Kirche in unklaren, mystischen, nebelhaften Ausdrücken über die Anwendung der Lehre. War es wirklich das, was Christus gewollt, als er uns seine Lehre predigte? Die Lösung meiner Zweifel konnte ich nur in den Evangelien finden. Und ich las sie und las sie immer wieder. Aus allen Evangelien trat mir stets als etwas Besonderes die Bergpredigt entgegen. Und sie war es, die ich am häufigsten las. Nirgends spricht Christus mit solcher Feierlichkeit wie hier, nirgends gibt er so viele sittliche, klare, verständliche, jedem gerade zum Herzen redende Regeln, nirgends spricht er zu einer grösseren Masse allerhand gewöhnlicher Leute. Wenn es überhaupt klare, bestimmte christliche Gesetze gibt, so müssen sie hier ausgesprochen worden sein. In diesen drei Kapiteln Matthäi habe ich die Lösung meiner Zweifel gesucht.

      Viele, viele Male habe ich die Bergpredigt durchgelesen und jedesmal dasselbe dabei empfunden: Bewunderung und Rührung beim Lesen jener Verse – über das Hinhalten des Backens, das Weggeben des Hemdes, die Friedfertigkeit gegen alle, die Liebe zum Feinde – und stets dasselbe Gefühl der Unbefriedigung. Die an alle gerichteten Worte Gottes waren unbegreiflich. Es wurde eine geradezu unmögliche Entsagung verlangt, die das Leben selbst, wie ich es auffasste, zerstörte, und deshalb schien es mir, als könne ein vollständiges Entsagen nicht eine unumgängliche Bedingung zur Rettung sein. Sobald es aber eine notwendige Bedingung zur Rettung war, so gab es wiederum nichts Bestimmtes und Klares. Ich habe nicht allein die Bergpredigt gelesen, sondern auch alle Evangelien und alle theologischen Kommentare zu denselben. Die theologischen Erläuterungen des Inhalts, dass die Aussprüche der Bergpredigt Hinweise seien auf jene Vollkommenheit, nach welcher der Mensch streben solle, dass aber der gefallene Mensch durchaus sündhaft sei und nicht durch eigne Kraft jene Vollkommenheit zu erreichen vermöge, dass des Menschen Rettung im Glauben, im Gebete und in der Gnade läge – diese Erläuterungen befriedigten mich nicht.

      Ich war damit nicht einverstanden, weil es mir immer sonderbar erschienen war, weshalb Christus, im voraus wissend, dass die Erfüllung seiner Lehre durch des Menschen eigene Kraft unmöglich sei, so klare und schöne Regeln aufgestellt habe, die sich geradezu auf jeden einzelnen Menschen bezogen? Wenn ich diese Regeln las, hat es mir stets geschienen, sie bezögen sich direkt auf mich und von mir allein werde deren Befolgung verlangt.

      Wenn ich diese Regeln las, überkam mich stets eine freudige Gewissheit, ich könne sogleich, von dieser Stunde an, alles das tun, was verlangt wird. Und ich wollte es tun und versuchte es; kaum aber fühlte ich einen Kampf bei der Ausführung, so erinnerte ich mich unwillkürlich der kirchlichen Lehre darüber, dass der Mensch schwach sei und das nicht aus eignen Kräften vollbringen könne – und ich wurde schwach.

      Man sagte mir, ich müsse glauben und beten. Ich aber fühlte, dass mein Glaube gering sei und dass ich deshalb nicht beten könne. Man sagte mir, ich müsse beten, Gott möge mir den Glauben geben, den Glauben, der das Beten lehrt, welches jenen Glauben gibt, welcher jenes Beten lehrt u. s. w. ohne Ende.

      Aber Vernunft und Erfahrung zeigten


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