BeOne. Martha Kindermann

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BeOne - Martha Kindermann


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Tima, der liebenswürdige, massige Nahkampfcoach, dem ich so manchen Muskelkater und viele farbschöne Prellungen verdanke, legt sich den langen Sly problemlos über die Schultern und trägt ihn in das Fabrikgebäude hinter uns. Das Loft, wie Tristan es nannte. Ich atme tief ein und folge meinen vermeintlichen Freunden ins Innere dieser trostlosen Baracke.

      Tristan weicht mir kaum von der Seite, wagt es jedoch auch nicht, meine Hand noch einmal zu ergreifen. Bin ich dankbar für die Zurückhaltung oder sauer, dass er es nicht wenigstens versucht? Keine Ahnung.

      In der Mitte der riesigen Halle ist ein langer Tisch, voll mit allerhand Lebensmitteln beladen, und Rafael winkt uns zu sich. Wo ich auch hinsehe, erblicke ich bekannte Personen. Die halbe Schläferkompanie der ersten Stunde scheint anwesend zu sein. Der Surferboy Henner und die quirlige Sus mit der Igelfrisur, draußen im Hof. Taranee an Rafaels Seite und dahinter lümmeln Iso, Marlon und auch Berd auf einer Ledercouch, die vermutlich aus dem vorletzten Jahrhundert stammt und sicherlich viele Geschichten erzählen könnte.

      »Lass dich ansehen, Schwesterherz!« Rafael packt mich bei den Oberarmen und mustert mich von Kopf bis Fuß. »Haben die Boliden euch auch etwas zu essen gegeben? Du siehst aus wie ein Vogelscheuche, wenn ich das sagen darf.«

      »Danke für nichts!«, bringe ich krächzend hervor.

      »Setz dich und trink erstmal ein Glas Wasser. Tristan, könntest du?« In Rekordgeschwindigkeit eilt Tristan an meine Seite und ich nehme einen großen Schluck. Alles ist so verwirrend.

      »Ich mag nicht undankbar sein, aber mir wird dieser Rummel hier einfach zu viel. Ich versteh nicht, was ihr hier treibt und wofür all die Fressalien gut sein sollen. Geht ihr auf Wanderschaft, oder so?«

      »Gut erkannt, Kleine!« Schon lange her, dass er mich so genannt hat und es fühlt sich alles andere als richtig an. Bis ich seine Geburtsurkunde nicht mit eigenen Augen gesehen habe, werde ich diesem Typ kein Wort mehr glauben. Scheint ihm jedoch egal zu sein.

      »Eigentlich wollten zwei unserer neugegründeten Einheiten heute Abend in der Dämmerung auf Erkundungsmission aufbrechen, aber wenn ich deinen Freund so ansehe, werden wir unsere Abreise wohl um einen Tag verschieben. Länger kann ich euch beiden nicht geben, sorry. Ich werde mich gleich mit Mirco und den anderen zusammensetzen und herausfinden, wie ihr hier landen konntet. Danach trommeln wir alle zum Krisengespräch zusammen und machen einen Plan, wie wir euch unbemerkt dennoch zurück in die Hauptstadt eskortieren können. Schließlich muss die Show weitergehen, nicht wahr?«

      Diese verdammt Show! Aber ja, er hat recht. Ohne Show keine neue Hoffnung für BePolar und ohne Schläfer keine friedliche Infiltration der Regierungsebene. Centa Jünger war nicht bereit, sämtliche Eleven aus den Fängen der Boliden zurückzukaufen. Bleibt weiterhin die Frage, warum, und was uns Schläfer so einzigartig macht. Sie war maßgeblich an unserer Ausbildung beteiligt und weiß, wozu wir im Stande sind, aber die Initiation braucht mehr als eine Handvoll geschundener und traumatisierter Jugendlicher, um für die Bevölkerung interessant zu bleiben. Wie sieht das denn aus, wenn die Hälfte der Gruppe das Camp nicht übersteht? Dann war es das mit der Realityshow. Dann können sie ihren ganzen Medienrummel und die monatlichen Abstimmungen knicken. Dann stehen die Finalisten schneller fest als geplant und…

      »Roya?« Mmh, was? Tristan kniet vor mir und fängt gerade noch mein Wasserglas auf, bevor es auf dem Boden landet und in tausende Scherben zerbricht. Ich bin durch.

      »Sorry!«

      »Ich zeig dir einen Platz, an dem wir mal für ein paar Minuten unter uns sind, okay?« Ich könnte nein sagen. Ich könnte rausrennen und mich alleine nach Midden durchschlagen. Ich könnte so viele undurchdachte Dinge tun, aber das wäre dumm und vermutlich sogar lebensmüde. Also folge ich meinem einstigen Herzbuben ins Unbekannte und hoffe auf ein paar überfällige Erklärungen.

      Tristan führt mich zu einer Seitentür hinter der Küche und zurück auf den belebten Hof. Unbemerkt winden wir uns an unzähligen Autowracks und Motorrädern vorbei und gelangen an die Rückseite der rotgeziegelten ehemaligen Fabrik. Eine rostige Feuerleiter führt hinauf auf’s Dach des Gebäudes und Tristans Zwinkern bestätigt meinen Verdacht, dass genau dieses unser Ziel sein wird. Was hat er nur immer mit diesen Höhen? Damals im Kranfahrerhäuschen, am Tag der Beerdigung meiner Schwester Rhea, hat er mir sein Herz ausgeschüttet und Licht in das Dunkel seiner traurigen Vergangenheit gebracht. Er durchlebte den Tod seiner Mutter erneut, um mir sein blindes Vertrauen zu beweisen, und ließ mich an seiner Kindheit in Gefangenschaft und dem Desinteresse seiner Familie teilhaben. Jetzt ist er mir erneut ein paar Antworten schuldig und ich hoffe inständig, dass wir den Draht zueinander noch nicht verloren haben.

      »Das ist ungefährlich, Roya. Vertrau mir!« Es ist erst wenige Wochen her, dass ich auf diesen Satz mit dem bedeutenden Wort ›immer‹ antwortete, und nun hat sich alles verändert. So gern ich seine Hand ergreifen, seinen Mund küssen und seine Haare durcheinanderbringen möchte, dieses kleine Wörtchen will mir nicht über die Lippen. »Roya?« Ja? Sieh mich nicht so an! Bitte, ich brauche nur noch eine Sekunde.

      Und dann lege ich meine Hände auf die Sprosse in Augenhöhe, hebe meinen rechten Fuß und komme dem Himmel Schritt für Schritt näher.

      »Darf ich dir helfen?« Eine einladende Hand greift nach meiner und zieht mich den letzten Meter auf den geteerten Untergrund des weitläufigen Daches. »Hier entlang.«

      Wir laufen um mehrere Schornsteine herum und steigen eine weitere Minileiter nach oben, bis wir auf einer kleineren Anhöhe enden. Ein paar Holzkisten und Latten wurden zu einer groben Bank mit Lehne zusammengezimmert und bietet Platz für drei Hintern oder eine liegende Person.

      »Setz dich doch.« Tristan lässt mir den Vortritt und holt anschließend zwei Flaschen undefinierbaren Inhalts aus einer weiteren Kiste, die außerdem als Tisch fungiert.

      »Limonade?« Ich nehme sein Angebot entgegen und beäuge neugierig das bräunliche Glas ohne Etikett oder Verfallsdatum. »Iso hat eine Spezialität aus dem Heim gekocht und da habe ich mir gleich einen Vorrat abgezweigt – für besondere Anlässe, versteht sich!« Ich muss schmunzeln.

      »Ist das hier dein geheimer Lieblingsplatz und ich die erste Person, die ihn zu Gesicht bekommt?« Tristan ist kein kleiner Junge mehr, der sich ein heimliches Versteck schaffen muss, um der Realität entfliehen zu können, aber ein hoffnungsloser Romantiker, der meine Frage sicherlich mit Ja beantworten wird. Ich weiß es einfach.

      Er öffnet grinsend die Limonade, setzt sich zu mir auf die Bank und richtet seinen Blick über den angrenzenden Wald, bevor er nickt.

      »Irgendetwas musste ich ja tun, um meine Nutzlosigkeit zu verdrängen und vor lauter Sorge nicht wahnsinnig zu werden.« Immer noch kleben seine Augen an der unbeschreiblich schönen und ruhigen Aussicht. »Vielleicht habe ich es gewusst. Gewusst, dass ich es dir irgendwann würde zeigen können.«

      Ich bin plötzlich zu tiefst gerührt und beiße die Zähne aufeinander, um keine Träne entweichen zu lassen.

      »Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis und war doch die ganze Zeit frei. Ich lebte mit Menschen auf engstem Raum, die das Beste aus mir herausholen wollten, und flüchtete dennoch in freien Minuten auf’s Dach. Ich habe mich gesorgt um dich und trotzdem zu jeder Minute gewusst, dass wir uns wiedersehen werden.« Er dreht den Kopf und sieht mir nun in die feuchten Augen.

      »Roya, ich bin angekommen. Ich habe ein zu Hause gefunden und du machst mein Glück perfekt.« Er lacht und schließt für einen kurzen Moment seine strahlenden Augen. »Polar versinkt im Chaos und bald wird auch der Rest der Bevölkerung feststellen, dass wir die Veränderung nicht mehr aufhalten können. Die Gefahr ist allgegenwärtig, und trotzdem bin ich glücklich. Ich bin Teil von etwas, ich habe eine Aufgabe erhalten und ich sehe das Ziel vor Augen. Du bist ein wichtiger Baustein dieser Zukunft, und wenn die Pläne der Wächter aufgehen, dann wirst du im nächsten Sommer deine Ausbildung in der Warte fortsetzen und in ein paar Jahren dieses Land mitführen.« Er nimmt einen Schluck und schenkt mir ein erneutes Lächeln.

      »In meinen Träumen sehe ich dich in einem eleganten Abendkleid vor den Stufen des Regierungspalastes stehen und in die Kamera winken.


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