Das Dschungelbuch. Rudyard Kipling

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Das Dschungelbuch - Rudyard Kipling


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Froschhetze vor zehn Jahren!«

      Mogli rannte und rannte durch den Wald, und hoch schlug ihm das Herz. Als der Abendnebel stieg, gelangte er zu der Höhle, schöpfte Atem und blickte hinab ins Tal. Seine Brüder waren fort, aber Mutter Wolf lag hinten im Dämmer der Höhle. Sie hörte seinen keuchenden Atem und wußte sogleich, daß ihr kleiner Frosch Kummer hatte.

      »Was hast du, Sohn?« fragte sie.

      »Ach, nichts, nichts, nur dummes Geschwätz von Schir Khan!« rief er zurück. »Ich jage auf den gepflügten Feldern heute nacht!« und fort war er, seinen Weg durch das Dickicht bahnend, fort zum Flusse im Talgrunde. Da plötzlich stutzte er, denn er vernahm das Geheul des jagenden Rudels, hörte dumpfes Röhren gehetzter Sambarhirsche und das wilde Schnauben des Bockes, der sich den Verfolgern stellte. Dann ertönte das höhnische, böse Heulen der jungen Wölfe. »Akela, Akela! Der Einsiedlerwolf zeige seine Stärke. Platz dem Führer des Rudels. Spring an, Akela!«

      Und Akela sprang, mußte aber gefehlt haben, denn Mogli hörte das scharfe Zuklappen des Gebisses und gleich darauf ein Wehgeheul, als der wütende Hirsch mit seinen Vorderläufen den Wolf niederschlug.

      Mogli verharrte nicht länger, sondern preschte weiter. Das Bellen und Heulen hinter ihm ward schwächer, als er durch die Äcker und Saatfelder lief zu den Wohnungen der Menschen.

      »Baghira sprach wahr«, keuchte er und ließ sich auf einem Strohhaufen neben dem Fenster einer Hütte niederfallen, »morgen gilt's uns beiden – Akela und mir!«

      Dann erhob er sich geräuschlos, preßte das Gesicht gegen das kleine Fenster und beobachtete das Feuer auf dem Herd. Er sah, wie in der Nacht das Weib des Dörflers aufstand und dem Feuer kleine schwarze Stücke zur Nahrung gab. Als dann der Morgen anbrach und weiß und kalt die Nebel zogen, gewahrte er, wie der Knabe des Dörflers einen Weidenkorb nahm, der innen mit Lehm ausgelegt war, Stücke rotglühender Holzkohle hineintat, ihn zudeckte und hinaustrat, um nach den Kühen im Stall zu sehen.

      »Ist das alles?« sagte Mogli zu sich. »Wenn das ein Menschenjunges tun kann, so ist keine Gefahr dabei.« Er bog rasch um die Ecke, trat auf den Knaben zu, entriß ihm den Topf und war im Nebel verschwunden, während der Junge in ein Angstgeheul ausbrach.

      Sie sehen ganz aus wie ich – die Menschen, dachte Mogli und blies in den Topf, wie es die Frau gemacht hatte. Es wird sterben, wenn ich es nicht füttere. Und er legte kleine Zweige und Baumrinde auf die rote Blume. Er war schon wieder weit den Berg hinauf, als er Baghira traf, auf dessen Fell die Tautropfen des Morgens wie Mondsteine glänzten.

      »Akela hat den Sprung verfehlt«, erzählte der Panther. »Sie hätten ihn schon diese Nacht getötet, aber auch dich wollten sie haben. Überall in der Dschungel suchten sie nach dir.«

      »Bei den Hütten der Menschen war ich. Jetzt bin ich bereit. Sieh!« Er hielt den rauchenden Topf in die Höhe.

      »Gut, aber höre. Ich sah, wie die Menschen einen trockenen Ast in die Masse bohrten, und dann blühte plötzlich die rote Blume an seinem Ende auf. Hast du keine Angst?«

      »Nein! Warum sollte ich denn? Jetzt entsinne ich mich – wenn es kein Traum war –, wie ich einst, bevor ich ein Wolf wurde, neben der roten Blume lag; warm war sie und freundlich.«

      Mogli saß den ganzen Tag in der Höhle bei seinem Feuertopf und steckte trockene Zweige hinein, um zu sehen, wie die rote Blume aufzüngelte. Zuletzt fand er einen starken Ast, der ihm gefiel. Am Abend dann, als Tabaqui in die Höhle kam und ihm höhnisch zurief, er werde gewünscht auf dem Ratsfelsen, da lachte er und lachte, bis Tabaqui entsetzt davonlief. Und lachend noch ging Mogli zur Ratsversammlung der Wölfe.

      Akela, der Einsiedlerwolf, lagerte am Fuß seines felsigen Sitzes zum Zeichen, daß die Führerschaft des Rudels frei war. Schir Khan schritt stolz auf und ab, umschmeichelt von seinem Anhang, den abfallfressenden Wölfen. Baghira lag dicht bei Mogli, der den Feuertopf zwischen den Knien hielt. Als alle vollzählig versammelt waren, hob Schir Khan an zu sprechen, wie er's zur Zeit von Akelas kraftvoller Führung nie gewagt haben würde.

      »Er hat kein Recht zu reden«, flüsterte Baghira. »Sage ihm das! Ein Hundesohn ist er! Sag es ihm! Er wird dann Furcht haben!«

      Mogli sprang auf. »Freies Volk!« rief er. »Ist Schir Khan des Rudels Führer? Was hat ein Tiger mit der Führerschaft zu tun?«

      »In Anbetracht dessen, daß die Führerschaft frei ist – in Anbetracht, daß ich ersucht worden bin, zu sprechen...«, begann Schir Khan.

      »Ersucht? Von wem?« rief Mogli. »Sind wir denn alle Schakale, daß wir vor diesem lahmen Viehschlächter kriechen? Die Führerschaft über das Rudel steht ganz allein dem Rudel zu.«

      Wildes Geschrei erhob sich: »Schweige, du Menschenjunges!« Und andere riefen: »Er rede! Er hat das Gesetz gehalten!« Endlich übertönte die donnernde Stimme des Ältesten des Rudels das Gewirr: »Der tote Wolf soll sprechen. Akela hat das Wort.« Sobald nämlich der Führer des Rudels seine Beute verfehlt hat, wird er der »tote Wolf« genannt, solange er noch am Leben ist.

      Akela hob müde sein graues Haupt und sagte:

      »Freies Volk, und auch ihr, Schakale Schir Khans! Zwölf Jahre lang führte ich euch vom Lager zum Schlagen, vom Schlagen zum Lager, und während der ganzen Zeit geriet keiner in Fallen, kam keiner zu Schaden. Nun habe ich meine Beute gefehlt. Ihr alle wißt von der Verschwörung gegen mich. Ihr wißt, wie ihr mich zu dem Bock in der Brunft gebracht habt, um dem Rudel meine Schwäche zu zeigen. Die Falle war gut gestellt. Euer Recht ist nun, mich hier am Ratsfelsen zu töten. Ich frage daher, wer kommt an, um mit dem alten Führer ein Ende zu machen? Denn mein Recht ist nach Dschungelgesetz, daß ihr einzeln kommt, um mit dem alten Führer ein Ende zu machen. Denn mein Recht ist nach Dschungelgesetz, daß ihr einzeln kommt, um mich anzugehen, einer nach dem anderen.«

      Tiefes Schweigen herrschte ringsum; niemand regte sich, denn keiner hatte den Mut, Akela zu Tode zu kämpfen. Da brüllte Schir Khan:

      »Bah! Was haben wir denn mit diesem zahnlosen Narren zu schaffen? Er ist sowieso dem Tode verfallen! Aber das Menschenjunge ist's, um das es sich handelt! Freies Volk, er war meine Beute von Anbeginn! Liefert ihn mir aus! Meine Geduld mit ihm ist zu Ende! Dieser Menschenwolf hat zehn Jahre lang in der Dschungel sein Unwesen getrieben! Gebt ihn heraus, oder ... ich schwör's ... ich werde immerdar in euren Gründen jagen und keinen trockenen Knochen übriglassen. Mensch ist er, eines Menschen Kind – ich hasse ihn, bis in das Mark meiner Gebeine hasse ich ihn!« Mehr als die Hälfte des Rudels heulte:

      »Ein Mensch ist er! Was haben wir mit einem Menschen zu schaffen? Zum Menschenpack gehe er, wo er hingehört!«

      »Um alle Dörfler gegen uns aufzuhetzen?« fragte Schir Khan. »Nein, gebt ihn mir. Mensch ist er, und keiner von uns vermag ihm in die Augen zu blicken.«

      Wieder erhob Akela den grauen Kopf. »Er hat mit uns sich gesättigt. Er hat mit uns geschlafen. Er hat uns das Wild zugejagt. Er hat niemals ein Gesetz der Dschungel gebrochen.«

      »Ich zahlte einen Bullen für ihn als Preis für seine Aufnahme. Gewiß, der Wert eines Bullen ist gering, aber für seine Ehre wird Baghira möglicherweise zu kämpfen wissen«, sagte der Panther mit sanfter Stimme.

      »Ein Bulle, vor zehn Jahren bezahlt«, knurrte das Rudel. »Was kümmern uns alte gebleichte Knochen?«

      »Auch nicht Verträge?« Baghira fletschte sein weißes Gebiss. »Freies Volk nennt man euch und mit Recht.«

      »Kein Menschenjunges darf laufen und leben mit den Völkern der Dschungel«, heulte Schir Khan. »Gebt ihn mir frei!«

      »Er ist unser Bruder in allem – nur nicht im Blute!« fuhr Akela fort, »und dennoch wollt ihr ihn erwürgen? Wahrlich, zu lange schon habe ich gelebt! Manche unter euch sind Viehfresser geworden, und andere – so hörte ich sagen – schleichen sich nachts im Gefolge Schir Khans in die Dörfer und stehlen kleine Kinder von den Türschwellen! Feiglinge seid ihr und Hundegezücht, und zu Feiglingen spreche ich jetzt. Ich bin dem Tode verfallen, und keinen Wert hat mein Leben, sonst würde ich es euch anbieten, um das Menschenjunge zu retten. Aber um der Ehre


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