Zum wilden Mann. Wilhelm Raabe

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Zum wilden Mann - Wilhelm  Raabe


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gemütlich an. Aus der einen Ecke versendete ein eiserner Ofen eine behagliche Wärme, in der anderen war gegen einen mächtigen gepolsterten Lehnstuhl, der leer stand und von dem später noch die Rede sein wird, ein runder Tisch gezogen, an welchem auf gleichfalls gepolsterten, hochlehnigen Stühlen sich die jedesmaligen Gäste, mit der Pfeife im Munde und ein offizinelles oder nicht offizinelles warmes oder kaltes Getränk vor sich, den Aufenthalt sicherlich recht bequem und behaglich machen konnten. Gegenwärtig jedoch hatte nur der Herr des Hauses, der Besitzer der Apotheke »zum wilden Mann«, allein auf seinem Stuhle Posto gefaßt, und ob er an diesem stürmischen Abend wirklich noch jemand zum Besuch erwartete, und ob wirklich jemand der Erwartung entsprach, können wir augenblicklich noch nicht angeben. Wir sind mit der Schilderung unserer Bühne noch nicht zustande und fahren vorerst darin fort.

      Das Kabinettchen hinter der Offizin war mit einer gelblichgrauen, grauschwarz geblümten Tapete, soweit sich das überblicken ließ, ausgeklebt. Auf der Fensterbank stand neben einigen Blumentöpfen ein Käfig mit einem schlafenden Zeisig, der jedesmal, wenn ein Baumzweig im Garten, vom Winde gepackt und geschleudert, schärfer an der Glasscheibe herkratzte, oder wenn ein Regenstoß heftiger an der Scheibe trommelte, fester und behaglicher im Gefühle seiner Sicherheit sich in eine Federkugel zusammenzog.

      Eine Eckschenke mit allerlei Tassen, bunten Töpfen und Gläsern und auf ihr eine ausgestopfte Wildkatze in einem Glaskasten dürften in der Inventaraufnahme nicht zu vergessen sein. Ein vordem recht blumiger, aber nunmehr längst verblaßter und abgetretener Teppich bedeckte den Boden; von der Decke hing eine künstlich geflochtene Graskrone, ein Staub- und Fliegenfänger herab; und wenn wir nun noch den Bildern an den Wänden einige Worte gewidmet haben werden, so hindert uns weiter nichts, fürderzugehen und interessanter zu werden.

      Die Bilder an den Wänden freilich waren schon an sich interessant. Ihre Anzahl allein mußte jeden eintretenden Betrachter höchlichst in Erstaunen setzen und für eine geraume Zeit in ein mundoffenes Umherstarren an allen vier Wänden, nach allen vier Himmelsgegenden. Hatte er sich von seiner Überraschung erholt, so konnte er anfangen zu zählen oder die Zahl wenigstens annähernd zu schätzen. Beides aber war schwer, denn die Bilder und Bildchen unter Glas und Rahmen bedeckten in kaum zu berechnender Menge die Wände von oben bis unten, das heißt so weit nach unten, als es nur irgend möglich war. Alle Arten und Formate in Kupferstich, Stahlstich, Lithographie und Holzschnitt, alle Gegenstände und Situationen im Himmel und in der Hölle, auf Erden, im Wasser, im Feuer und in der Luft, schwarz oder koloriert.

      Viele Ramberg'sche und Chodowiecki'sche Kunstschöpfungen, unzählige Scenen aus dem Leben Friedrichs des Zweiten und Napoleons des Ersten, die drei alliirten Monarchen in drei verschiedenen Auffassungen auf dem Leipziger Schlachtfelde, die am Palmbaum hängende Riesenschlange, an welcher der bekannte Neger hinaufklettert, um ihr die Haut abzuziehen, Scenen aus dem Corsar, »ein Gedicht von Lord Byron«, Modebilder, ein Porträt von Washington, ein Porträt der Königin Mathilde von Dänemark und des Grafen Struensee und, verloren unter all der bunten, kuriosen Nichtsnutzigkeit, zwischen zwei Straßenscenen aus dem Jahre 1848, ein echter alter Dürer'scher Kupferstich: Melancholia!

      Wir beendigen die Kalalogisierung. Dreißig Jahre hatte der während dieser dreißig Jahre fest an seine Offizin gebundene Apotheker Philipp Kristeller gebraucht, um seine Bildergalerie zusammenzubringen; es war ihm also gar nicht zu verdenken, wenn er auf seine Galerie hielt, auf seine Kunstliebhaberei und seinen Geschmack sich etwas zu gute that. Sein Hinterstübchen war wohl geziert, und er hatte außerdem noch einiges andere, worauf er sich etwas zu gute thun durfte.

      Wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf den Mann am Tische. Er mochte ein Alter zwischen den fünfziger und sechziger Jahren erreicht haben, war von Leibesbeschaffenheit mehr hager als dick, von Farbe mehr gelb und grau als rot und braun und von Statur mittlerer Größe. Er trug einen grauen Schlafrock, niedergetretene, dunkelrote Pantoffeln und auf dem silbergrauen, schlichten Haar eine dunkelgrüne Hauskappe mit abgegriffener Goldstickerei, einen Kranz von Eicheln und Eichenblättern darstellend. Er rauchte aus einer langen Pfeife, auf deren Kopf ein Maikäfer gemalt war, und stützte nachdenklich die Stirn mit der Hand, den Blick auf den großen, leeren, bequemen Lehnstuhl ihm gegenüber gerichtet.

      Zum ersten Male blickte er empor, als die Thür, welche aus dem Hinterzimmer nicht in die Offizin, sondern auf die Hausflur führte, leise geöffnet wurde, und ein alter Frauenzimmerkopf sich hineinschob:

      »Aber Bruder, welch ein Wetter!«

      »Freilich ein bewegtes Wetter, liebe Schwester.«

      Ob die alte Dame die Antwort noch vernommen hatte, muß zweifelhaft bleiben, denn sie hatte die Thür eben so rasch und leise, wie sie dieselbe geöffnet hatte, wieder zugezogen.

      »Ein vernehmbar bewegtes Wetter, in der That,« murmelte der Apotheker »zum wilden Mann« lächelnd und nach dem bestürmten Fenster horchend. In demselben Moment klang die Glocke der Hausthür, und es wurde an das Schiebfenster der Offizin gepocht. Herr Philipp Kristeller erhob sich, stellte die Pfeife an den Stuhl und ging gebückt in seine Werkstatt. Kopfschüttelnd kam er nach einer viertelstündigen Arbeit im Berufe zurück; die Hausthürglocke erklang von neuem, und eiligen Laufes entfernte sich jemand, durch die Wasserlachen der Landstraße dem Dorfe zuplatschend, ohne im geringsten auf seinen Weg Obacht zu haben.

      Kopfschüttelnd nahm der Alte seinen Sitz wieder ein, zündete seine Pfeife von neuem an und sagte:

      »Eine ungesunde Jahreszeit — ein Apothekerherbst. — Gute Kasse, aber doch ein schlechtes Geschäft.«

      Er seufzte dabei, und das Wort wie der Seufzer zeugten unstreitig von einem guten Herzen.

      Nun saß er wieder einige Minuten, bis er plötzlich zusammenschrak:

      »Mein Gott — ja aber — ist es denn so?!«

       Er erhob sich von neuem hastig, schritt diesmal eilig in die Offizin, schloß ein Stehpult am Fenster auf, nahm ein Buch hervor und blätterte darin. Seine Finger zitterten, seine Lippen zuckten, er sah sich mehrere Male wie zweifelnd in dem aromatisch durchdufteten Raum um: es war kein Zweifel, jede Büchse und jedes Glasgefäß, mit oder ohne Totenkopf, befand sich noch auf seinem Platze. Der Apotheker Kristeller schloß das Buch, legte die Hand darauf und rief:

      »Es ist wahrhaftig so! Es ist richtig; heute ist der Tag oder vielmehr der Abend. Es sind dreißig Jahre auf die Stunde — ein Jubiläum — und ich hatte das vollständig, vollständig vergessen. Dorothea, Dorothea!«

      »Lieber Bruder?« klang es draußen schrill.

      Der Alte schritt in seiner Aufregung fünf Minuten lang auf und ab; dann war seine Geduld zu Ende. Er öffnete die Thür:

      »Dorette, Dorette!«

      »Was giebt es denn, Philipp?« ertönte es aus der Ferne. »Ich höre den Wind wohl; aber was kann man dagegen thun, — Thür und Fenster sind verwahrt, und das Übrige steht in Gottes Hand.«

      »Ei, ei,« murmelte Herr Philipp und rief dann: »Es handelt sich nicht um Wind und Wetter. Komm doch einmal einen Augenblick herein, Dorothea!«

      Es dauerte noch verschiedene Augenblicke, ehe das möglich war; aber zuletzt geschah es doch. Da war das Altjungfergesicht wieder und jetzt die ganze übrige Figur und zwar mit einem über jeden höflichen Zweifel erhabenen Buckel zwischen den Schultern.

      »Wir haben es augenblicklich ziemlich eilig in der Küche, lieber Philipp. Wünschest du etwas, bester Bruder?«

      »Nein; aber heute vor dreißig Jahren um diese Stunde verkaufte ich in diesem Hause für den ersten Groschen Wundspiritus. Den Altvater Zimmermann — Gott habe ihn selig! — hatte der Gaul an die Hüfte geschlagen. Ich habe es mir notirt vor dreißig Jahren, und ich hatte es gänzlich vergessen — dem Lehnstuhle dort zum Trotz!«

      »O du meine Güte!« rief das alte Fräulein und verschwand nach einigem, wie es schien, ratlosen Zögern, schlug dann aber die Thür um so heftiger hinter sich zu. Schon auf dem Hausflur wußte Fräulein Dorette Kristeller ganz genau, was sie zu thun habe, und man hatte für den ferneren Abend es noch um ein Bedeutendes eiliger in der Küche der Apotheke »zum wilden Mann«.

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