Zum wilden Mann. Wilhelm Raabe

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Zum wilden Mann - Wilhelm  Raabe


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Kristeller einen erstaunten Blick für die Pforte, durch welche die Schwester so plötzlich wieder verschwunden war, übrig haben.

      »Herr Jesus!« sagte er; und dann versuchte er es von neuem, sich ruhig zu setzen, allein es wollte nicht angehen. Das bedeutungsvolle Datum brannte wie in feurigen Ziffern und Buchstaben vor seinen Augen, und so schob er denn den Stuhl unter den Tisch und schlurfte, immerfort den Kopf schüttelnd, in seiner Bildergalerie auf und ab; und immer klarer und deutlicher stieg die Welt, welche vor dreißig Jahren, vor einem Menschenalter, war, in seiner Seele empor. Ja, von seiner frühesten Kindheit an lag mit einem Mal alles in den schärfsten Umrissen vor ihm, und nur seine ihm allzu früh gestorbenen Eltern durchzogen schemenhaft die helle Landschaft. Dagegen stand der Vormund in derber, ungemütlicher Deutlichkeit in dem Zauberlicht und in der Mitte der Scenerie jener kleinen Provinzialstadt jenseits des Gebirges, dem Thüringerlande zu, mit dem Kyffhäuser in der Nähe und dem Kickelhahn in der blauen magischen Ferne.

       »Der allergewöhnlichste Mensch hat doch immer etwas erlebt, wenn er so ein Menschenalter über ein Menschenalter hinaus zurückdenken kann,« murmele der Alte. »Wie lebendig das nun alles ist, was eben tot und vergessen in meiner Seele lag. Da ist ja der alte Biedermann, der Grauwacker, mein Lehrherr, mit seinem ganzen Haus und Hauswesen. Welch ein schnurriger, verbissener Patron er war; und dann die Patronin, ich meine die Frau Prinzipalin. Herrgott, wie sorgst du in deiner Güte und Weisheit dafür, daß denen, welchen du einen kleinen Löffel auf den Lebensweg mitgiebst, auch der Brei nach dem richtigen Maße zugemessen wird! Ist es mir doch, als verspürte ich heute noch das Magenknurren aus jener guten, alten Zeit unter dem Zwerchfell. Und es war doch eine glückliche, gesunde Zeit! Und gelernt hat man auch das Seinige bei dem alten Grauwacker; man muß es ihm lassen, er verstand das Geschäft, die Kunst, und er wußte uns darin zurecht zu schütteln. Alles, was nachher kam —«

      Die Glocke der Offizin klingelte von neuem; abermals ging der Apotheker in seine Werkstatt zu seiner Arbeit, die diesmal etwas länger als vorhin dauerte. Während er seinen Trank mischte und kochte, führte er im landläufigen Dialekt eine Unterhaltung, die wir dem Leser nicht vorenthalten wollen, die Mundart freilich abgerechnet.

      »Ihr habt euch bei einem schlimmen Wetter auf den Weg machen müssen, Gevatterin. Es steht wohl gar nicht gut zu Hause?«

      »Wie mit dem Wetter draußen,« sagte das frische, sehr gesunde Bauerweiblein verdrossen. »Man hat seine liebe Not, daß man sich darüber selber gern vom Tage thun möchte. Er kann nicht leben und will nicht sterben; — ich glaube, er hält sich eben durch das Ärgernis, welches er uns macht; — recht machen kann man ihm gar nichts mehr, und von dem Verdruß lebt er so hin von einem Tage zum andern.«

       »Hm, hm,« brummte Herr Philipp.

      »Ja, es ist doch so, und der Doktor zieht dann das Beste davon. Das Ding hat er gestern Abend verschrieben, und es ist uns sehr eilig gemacht; ich meine aber, Sie wissen es am besten, Herr Kristeller, daß kein Tag vergeht, an welchem Sie mich nicht auf dieser Bank sitzen sehen. So dachte ich denn, es hat wohl Zeit bis morgen, und weggeworfenes Geld ist es doch.«

      »Hm, hm,« brummte Herr Philipp, fügte aber diesmal hinzu: »Doktor- und Apothekerrechnungen zahlt wohl niemand gern; — aber wir machen es so billig als möglich, Gevatterin.«

      »Wie es sich schickt für eine arme, elende Witfrau,« schluchzte die muntere Bäuerin hinter ihren Schürzenzipfeln.

      »Na, na,« sagte der Apotheker, »zum Teufel, noch lebt er ja! Witfrau? junge Frau! ei freilich! — und meiner Meinung nach wird er es noch manches lange, gute Jahr durchmachen. Der Doktor und ich wollen schon das Unsrige thun.«

      Die untröstliche Gattin auf der Bank stieß einen Ton hervor, der alles bedeuten konnte: Dankbarkeit, Hoffnung, Freude, Schreck, Mißmut, Ärger und Hohn. Der Apotheker hatte seine Mixtur fertig, reichte sie durch das Fenster, und die jammergeschlagene junge Witwe in spe ging ab und zwar zu seinem innigsten Genügen gerade in ein erhöhtes Aufwüten und Lostosen des Herbststurmes hinein.

      »Die Canaille!« brummte der Alte, als er in seine Bildergalerie zurückkam und sich unter dem Eindrucke der Unterhaltung wieder recht fest niederließ, nachdem er mit merklicher Energie vorher frisches Holz in den Ofen geworfen hatte. »Dies Frauenzimmer hätte mir beinahe meine süßesten Erinnerungen für jetzt zu nichte gemacht,« murmelte er. »Eben geriet ich in dieselben hinein, als das Weib die Glocke zog; aber das ist freilich immer mein Los in der Welt gewesen, und anderen wird es wohl nicht besser gehen. Und dann ist ja doch auch nichts daraus geworden, Johanne! Zusammen sind wir nicht gekommen. Jeder hat seinen eigenen Weg gehen müssen; ich unter so sonderbaren Umständen in diesen verlorenen Weltwinkel, du, mein armes Kind und Herz, in dein Grab. Nunc cinis ante rosa, einundzwanzig Jahre alt — ach, Johanne, liebe, liebe Johanne! — Ja, ja, es wäre doch schön und gut gewesen, wenn wir zusammengekommen wären und ich dich heute nach einem Menschenalter hier bei mir hätte als alte, gute, schöne Frau!«

      Es duldete den guten würdigen Herrn an diesem merkwürdigen Abend nimmer lange auf seinem Sitze. Jetzt holte er ein Paket vergilbter Briefe aus dem oben erwähnten Pult und löste den Bindfaden davon ab.

      »Trockene Blumen und Blätter,« seufzte er. »Alles, was ich da in meinen Büchsen und Schachteln habe, grünte und blühte auch einmal wie jedes Wort auf diesem Papier. Apothekerwaren? Droguerien? Nein, nein, nein! Jenes ist tot und bleibt so; aber dies hier ist noch lebendig und blüht fort und kennt keine Zeit und keinen Jahreswechsel. Es hat seine Wurzeln in meiner Seele geschlagen: wie könnte es da welken und zu nichte werden? In der Sonne, im fliegenden Wolkenschatten, im Mondschein, im Nebelziehen, im grauen Landregen, im lustigen Schneegestöber liegt das Thal, liegen die Berge lebendig. Das ist die alte Stadt — ja, da ist sie, wie sie war, als wir jung waren; — jedes Haus ein guter Bekannter. Da ist das Eckfenster, an welchem ich stets vorbeigehe, wenn der Alte mich auf die Pflanzenjagd schickt. Da sitzt das gute Kind mit seinem Nähzeug, und es währt lange, sehr lange, ehe sie mich bemerkt, und noch länger, ehe ich an die Thatsache glaube, daß sie mir wirklich entgegenschaut und nachsieht. Es ist lange, lange eine Liebe ohne Worte, bis der Himmel ein Einsehen hat und ein Regenschauer zur richtigen Zeit auf einer Landpartie schickt, nachdem er mir vorher die glückselige, heilbringende Idee eingegeben hat, beim schönsten Sonnenschein und blauesten Himmel einen Schirm mitzunehmen. So lernten wir uns in der Nähe kennen — vom Herzen zum Herzen, von Seele zu Seele. Da ging das beste Erdenleben an. — Sie hatte wenig und ich gar nichts; aber der liebe Gott hatte ungezählte Schätze für uns und gab eine kurze, kurze Zeit alles mit vollen Händen. Erst im zweiten Sommer nach unserem geheimen Verlöbnis, nachdem wir ein volles Jahr durch in unserem Glück und unserer Hoffnung Millionäre gewesen waren, fiel uns ein, darüber nachzudenken, was wohl weiter daraus werden möge und könne —«

      Abermals klang die Glocke und unterbrach den erinnerungsvollen Traum. Es waren aber diesmal keine Kunden, welche den Apotheker »zum wilden Mann« störten. Die stets recht deutliche Stimme der Schwester Dorette ließ sich draußen vernehmen:

      »Da sind Sie, meine Herren! Gottlob, daß Sie gekommen sind. Das ist schön, das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich wußte es aber auch, daß ich Sie nicht vergeblich bitten würde. Dem Bruder ist die große Merkwürdigkeit eben erst eingefallen, und da hat es sich mir sogleich schwer auf das Herz gelegt, und ich habe dann den Fritz losgejagt. Ich kenne ihn ja nur zu gut, den Bruder; er würde sich ohne gute Gesellschaft eine traurige Nacht zurecht gemacht haben, seine melancholischen Einbildungen würden uns kläglich genug mitgespielt haben. Aber nun ist es gut, denn an diesem Abend gehören wir ja doch zusammen, und der Bruder wird sich nun recht sehr freuen, — schönsten guten Abend, meine Herren!«

       Die beiden Herren, zu denen die Schwester Dorette der melancholischen Einbildungen ihres Bruders wegen sofort geschickt hatte, nachdem er ihr die Bedeutung des heutigen Abends zugerufen, waren der Pastor des Ortes, Herr Schönlank, und der Förster Ulebeule. Ersterer kam, dicht in den Mantel gewickelt, mit seiner Laterne und seinem Regenschirm, letzterer, jeglicher Witterung Trotz bietend, in kurzer, grünkragiger Flausjacke, den derben, eisenbeschlagenen Hakenstock unterm Arme. Beide aber schüttelten sich vor allen Dingen tüchtig auf der Hausflur und sagten wie jedermann weit


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