MAGAZIN für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur. Thomas Ostwald

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MAGAZIN für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur - Thomas Ostwald


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in der Anonymität. Aber zweifellos stammte der kenntnisreiche, schreibgewandte Bearbeiter der aufsehenerregendsten und folgenreichsten „Entdeckungsgeschichte“ des asiatischen Kontinents aus dem preußischen Küstenland. Sein Wortschatz, namentlich aus den Bereichen der Fischerei und Schifffahrt (etwa: leitnic, sigeler, wazzerwer, kescher, schifflouge), sowie Vergleiche mit Urkunden und Wirtschaftsbüchern des Deutschordensstaates beweisen es eindeutig. Ein Ordensritter oder Bürger des Landes? Wohl eher letzteres. Er war gebildet, beherrschte das Lateinische. In dieser Sprache lag ihm eine Übertragung der französischen Originalhandschrift vor. Er selbst schrieb in Ostmitteldeutsch; sein Text ist uns in Cod. 504 der Bibliothek des Benedektinerklosters Admont in der Steiermark bewahrt worden.

      Natürlich legte der Verfasser seinem Werk das des Marco Polo zugrunde: diesen realistischen, ja nüchternen Bericht des Handelsmannes. Der Venezianer hatte exakt beobachtet, erfahren, sich erzählen lassen. Dann erzählte er selbst, auch von Land und Leuten der von ihm bereisten Länder, von ihren Religionen, von Besonderheiten in Verwaltung, Handel und Verkehr, vom Kriegswesen – zum Beispiel vom Einsatz der Kampfelefanten. Das zeitübliche phantastische Rankenwerk fehlte fast ganz. Vielmehr kann man in der Tat bei seinem Augenzeugenbericht „von vil elefantin und wunderlichin eynhom und von affin menschin gelich“ (ostmitteldeutsch) bereits von einer Naturbeschreibung sprechen; das sagenhafte Einhorn ist zum Nashorn geworden (Wenzlaff Eggebrecht). Und dennoch mussten die – anders als bei Mandeville – auf eigenem Erleben beruhenden Aufzeichnungen des venezianischen Ostasienfahrers seinen Zeitgenossen abenteuerlich genug Vorkommen.

      So sehr abenteuerlich und wissenswert dazu, dass sich ein Bürger eines fernen Landes an die Arbeit begab, dieses wundersame Reisebuch seinen Mitbürgern bekannt zu machen. Aber seine Bearbeitung des lateinischen Marco Polo Textes geriet ihm unversehens über die schlichte Übersetzung hinaus zu einem durchaus eigenen Werk. Der mit den örtlichen Verhältnissen wohlvertraute Autor erlaubte sich mancherlei literarische Freiheiten. Er flocht höchst aufschlussreiche Bemerkungen über Sitten und Gebräuche der alten Pruzzen und Litauer ein, verbreitete sich über Fischfang und Schifffahrt an den baltischen Küsten und zählte weitere kulturgeschichtlich interessante Fakten auf, die nur ein im Ordensstaat Ansässiger so gründlich darzustellen vermochte. So fügte er etwa Polos Mitteilung von der Erfindung des Papiergeldes seinen Bericht über das Prägen russischer Münzen hinzu.

      Alles in allem, ein preußischer Marco Polo, der auf seine Art teilnahm an grösser Entdeckungsfahrt und eigenes Fernweh seinen Lesern übertragen haben mochte. So spüren wir bereits in diesem „ältesten“ deutschen Reisebuch eines unbekannten Autors von der Bernsteinküste jene untergründige Spannung, die herrührte von der Polarität zwischen dem Bemühen des denkenden und tätigen Bürgers um weltweite Erfahrung des Seienden in jeglicher Gestalt – und der Enge, der Beschränktheit der frühbürgerlichen Lebensumstände: dieselbe Spannung zweifellos, die auch die spätere Reise und Abenteuerliteratur mitgeprägt hat.

      Literaturhinweise:

      Der mitteldeutsche Marco Polo aus der Admonter Handschrift. Hrsg. v. Ed. Horst von Tschamcr (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 40), Berlin 1935 Karl Helm u. Walther Ziesemer, Die Literatur des Deutschen Ritterordens, Gießen 1951 F.W. u. E. Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250 1450, Bd. IH: Neue Sprache aus neuer Welterfahrung. Mit Lesestücken, u.a. 3 aus dem mitteldeutschen Marco Polo. Reinbek 1971 Peter Assion, Altdeutsche Fachliteratur, Berlin 1973 Günther Eis, Mittelalterliche Fachliteratur, Stuttgart 1962, 2. Auflage 1967

      Thomas Ostwald

      In der Einleitung zu meinem Artikel über die Entwicklung der Indianergeschichten bei Karl May erwähnte ich auch die berühmte Detektiv-Figur C. Doyles, den Meisterdetektiv Sherlock Holmes – oft kopiert, nie erreicht! Dadurch habe ich offensichtlich das Interesse einer größeren Leserschar angeregt, wie mir einige Zuschriften bewiesen. Nun, mit Doyles Figur werden wir uns im Graff-Anzeiger sicher noch häufiger beschäftigen, auch in Bezug auf die Romanheft-Serien, die in Deutschland ab 1907 erschienen (vgl. auch den Artikel von Werner G. Schmidtke!). Dieser Artikel soll einige Informationen zu Sherlock Holmes vorab bringen.

      Zunächst einmal sei auf das „Holmes-Museum“ hingewiesen, das sich in einem Restaurant befindet und von einem findigen Geschäftsmann in der Northumberland Street (oder Road) Nr. 10, in der Nähe des Trafalgar Square in London eingerichtet wurde. Das „Restaurant-Museum“ ist voll von „Erinnerungsstücken“ an Doyles fiktive Figur – denn Sherlock Holmes hat nie gelebt! Der staunende Besucher findet die berühmte Geige, auf der der berühmte Detektiv – oft tief in Gedanken versunken – „herumgekratzt“ hat, natürlich seine berühmte karierte Mütze (Deerstalker-Mütze), die Pfeife und vieles andere. Bei diesen Formen der Verehrung fühlt sich mancher Leser vielleicht an Karl Mays Figuren erinnert, denen teilweise ja noch heute ähnliches widerfährt – siehe auch meine Ausführungen in dem erwähnten Artikel in Bezug auf die plötzliche Realisierung Winnetous, wenn der Segeberger Darsteller auftritt.

      Doch damit noch lange nicht genug – Sherlock Holmes begeistert auch heute noch zahlreiche Leser durch seine scharfsinnigen Kombinationen, und Doyles Bände, einmal im Heyne-Verlag als Taschenbücher erschienen, haben inzwischen den Verlag gewechselt und kommen nach und nach wieder als Neuauflagen bei Ullstein heraus. Noch immer greift der Krimi-Freund, trotz der zahlreichen „modernen Detektive“, denen Computer und große Polizeizentralen mit riesigen Karteiarchiven zur Verfügung stehen, gern wieder auf den „Altmeister“ zurück.

      Die „Welt am Sonntag“ berichtete am 8. Juni 1975: „Der Detektiv, der so viele Geheimnisse enthüllte, gibt inzwischen selber Rätsel auf: Sherlock Holmes, fast neunzig Jahre alt und schon mehrfach gestorben, erlebt in Amerika ein Comeback, das die Krimifans staunen lässt. Allein in den letzten Monaten erschienen sechs neue Bücher zum Thema, obwohl es schon zweitausend (!) Schriften über den Mann gibt, dessen Verstand so scharf ist wie sein Profil.“ Man hört, liest und staunt: zweitausend Schriften über eine fiktive Figur! Wann endlich kommt jemand auf die Idee, eine Biographie Winnetous zu erstellen? Das Rezept, nach dem auch schon Baring-Gould verfuhr, habe ich bereits im GA 5 beschrieben: Sorgsame Auslese und Auswertung jedes kleinen Details, das der Autor in den zahlreichen Geschichten „preisgegeben hat“. Baring-Gould wusste schließlich über Stouts Detektiv-Figur Nero Wolfe besser Bescheid als der Autor selbst! Seine Wolfe-Biographie (und hier kann ich mich gleich korrigieren) erschien im Jahre 1972 im Ullstein-Taschenbuch Verlag, ist jedoch leider vergriffen und bestenfalls noch antiquarisch zu bekommen. Auch seine Holmes-Biographie, genauso herrlich zu lesen wie der Wolfe-Band, ist seit Jahren vergriffen. Aber der Holmes-Fan kann jetzt wieder aufatmen – zahlreiche Biographien kommen auf den amerikanischen Buchmarkt, und vielleicht erscheint auch die eine oder andere wieder in deutscher Sprache. Gleich einflechten muss ich dabei, dass mir z.Zt. noch keine bibliographischen Angaben vorliegen und ich deshalb weder Verlag noch Preis dem Interessenten angeben kann.

      Ach so, Sie meinen, diese Biographien wären kaum wissenschaftlich zu nennen und bestenfalls etwas für „ganz verrückte Holmes-Fans“? Da muss ich widersprechen, denn auch Sherlock Holmes ist inzwischen auf der Couch des Psychiaters gelandet – warum dann nicht auch eine Untersuchung Winnetous? „Die Welt“ schreibt weiter: „Mr. Holmes jedoch gehört zu den wenigen Romanfiguren, denen regelrechte Biographien gewidmet wurden. Die amüsanteste dürfte die von Williams S. Baring-Gould sein, die zu dem Schluss kommt, Holmes sei im Jahre 1957 im Alter von 103 Jahren auf einer Londoner Parkbank gestorben und habe sich in den letzten Tagen seines Lebens ausschließlich von „gelee royale“ ernährt.

      Während Baring Gould selber Detektiv-Arbeit leistete und jede Seite aller Holmes-Stories auf biographische Details abklopfte, wendet Nicholas Meyer in seinem soeben in New York erschienenen Roman „The Seven-Percent-Solution“ („Die Sieben-Prozent-Lösung“) andere Methoden an. Wobei der Titel nicht die Lösung eines Falles meint, sondern die siebenprozentige Kokain-Lösung, die sich der Meister laut Conan Doyle gelegentlich zu injizieren pflegte – aus Langeweile, weil er seine Probleme immer so schnell löste.

      Nicholas Meyer stützt sich in seinem Roman auf einen


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