Krakatit. Karel Čapek

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Krakatit - Karel Čapek


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»Was willst du hier?« schrie er sie an. »Marsch, hinaus!« Anni rührte sich nicht; sie preßte die Hände an die Brust, einer Ohnmacht nahe.

      Der Doktor kehrte zu Prokop zurück. Erst hantierte er mit Watte, und dann zwackte die Schere. »Licht!« rief er. Anni stürzte zum Schalter und drehte das Licht an. »Steh hier nicht herum!« brauste der alte Herr auf, während er eine Nadel in Benzin badete. »Was hast du hier zu suchen? Reich mir den Zwirn!« Anni sprang zum Schrank und brachte eine Rolle mit Zwirn. »Jetzt geh!«

      Anni blickte auf Prokops Rücken und tat etwas anderes. Sie trat näher, faßte mit beiden Händen die verletzte Hand und hielt sie. Der Doktor wusch sich gerade die Hände; er wandte sich nach Anni um und wollte lospoltern, statt dessen brummte er: »So, jetzt halt fest! Und näher ans Licht!«

      Anni schloß die Augen und hielt fest. Als nichts mehr zu hören war als des Doktors Schnaufen, wagte sie aufzublicken. Unten, wo der Vater gerade arbeitete, war alles blutig und häßlich. Sie sah Prokop an. Er hatte das Gesicht abgewandt, seine Augenlider zuckten vor Schmerz. Anni zitterte und verschluckte die Tränen; ihr begann übel zu werden.

      Inzwischen wuchs um Prokops Hand eine Menge Watte, Billrothbatist und wohl ein Kilometer festgewickelter Verbandsstoff zu einem weißen Riesengebilde an. Anni hielt immer noch fest, ihre Knie bebten; die schreckliche Operation schien kein Ende zu nehmen. Plötzlich begann sich ihr der Kopf zu drehen, und dann hörte sie den Vater sagen: »Da, trink das schnell!« Sie öffnete die Augen, merkte, daß sie im Operationsstuhl saß, daß der Vater ihr ein Glas mit etwas Gelblichem darin reichte, daß hinter ihm Prokop stand, der ihr zulächelte, die verbundene Hand wie eine Riesenknospe an sich drückend. »Trink das aus!« drängte der Doktor und zeigte die Zähne. Sie schluckte es gehorsam und bekam einen Hustenanfall; es war sehr starker Kognak.

      »Jetzt kommen Sie an die Reihe«, wandte sich der Doktor an Prokop und reichte ihm das Glas. Prokop war etwas bleich und erwartete standhaft das Donnerwetter. Schließlich trank auch der Doktor, räusperte sich und legte los: »Also, was haben Sie hier eigentlich angestellt?«

      »Einen Versuch«, antwortete Prokop mit dem schiefen Lächeln des Schuldbewußten.

      »Was für einen Versuch? Womit denn?«

      »Nichts Besonderes. Ich – ich wollte nur sehen, ob sich mit Kaliumchlorid etwas machen läßt.«

      »Was machen läßt?«

      »Ein Sprengstoff«, flüsterte Prokop in der Rolle eines reumütigen Sünders.

      »Das hat sich gelohnt!« sagte der Doktor mit einem Blick auf die verbundene Hand. »Es hätte Ihnen die Hand wegreißen können. Fühlen Sie Schmerzen? Recht geschieht Ihnen, Sie verdienen's nicht anders«, erklärte er blutdürstig.

      »Aber Vater«, mengte sich Anni ein, »laß ihn jetzt in Ruhe.«

      »Was hast du hier zu schaffen?« knurrte der Doktor und fuhr ihr mit der nach Karbol und Jodoform riechenden Hand über die Wange.

      Von jetzt ab trug der Doktor den Schlüssel zum Ordinationszimmer bei sich. Prokop hatte eine Sendung wissenschaftlicher Bücher erhalten, trug die Hand in der Schlinge und studierte tagsüber. Schon blühten die Kirschbäume, das klebrige junge Laub flimmerte in der Sonne, die Goldlilien öffneten die schweren Knospen. Im Garten ging Anni mit ihrer rundlichen Freundin spazieren; sie hielten sich umfaßt und kicherten in einem fort; dann steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten einander etwas zu, lachten errötend und begannen einander zu küssen.

       Nach Jahren verspürte Prokop wieder einmal ein körperliches Wohlbehagen. Lebensdurstig gab er sich der Sonne hin und kniff die Augen zu, um auf das Rauschen in seinem Körper zu horchen. Mit einem Seufzer setzte er sich an die Arbeit. Aber dann mußte er sich wieder Bewegung machen, streifte in der Gegend umher und widmete sich leidenschaftlich der Freude des Atmens. Manchmal begegnete er Anni im Hause oder im Garten und versuchte, ihr etwas Nettes zu sagen. Anni sah ihn bloß von der Seite an und wußte nichts zu reden. Auch Prokop fiel nichts Rechtes ein, und so schlug er immer einen brummigen Ton an. Am wohlsten fühlte er sich doch allein.

      Er merkte beim Studium, daß er viel vernachlässigt hatte. Die Wissenschaft war nicht stehengeblieben, und über vieles mußte er sich neu orientieren. Eine besondere Scheu empfand er, an seine eigene Arbeit zu denken, denn da, so fühlte er, waren die Zusammenhänge am empfindlichsten zerrissen. Er arbeitete viel und angestrengt oder träumte, träumte von neuen Laboratoriumsmethoden und ließ sich von der subtilen, kühnen Berechnung des Theoretikers verlocken. Er wütete gegen sich, wenn sich sein grobes Gehirn als unfähig erwies, das feine Haar eines Problems zu spalten. Er wußte, daß seine ›destruktive Laboratoriumschemie‹ die merkwürdigsten Einblicke in die Theorie der Materie eröffnete. Er stieß auf unerwartete Zusammenhänge, zerstörte sie aber gleich wieder durch seine allzu schwerfälligen Erwägungen. Verdrossen ließ er es dann sein, um sich in irgendeinen dummen Roman zu versenken. Aber auch so wurde er die Besessenheit nicht los; statt der Worte las er immer wieder chemische Formeln. Es waren närrische Formeln bisher unbekannter Elemente, die ihn bis in die Träume hinein beunruhigten.

      10

      In jener Nacht träumte er, daß er einen sehr gelehrten Artikel in ›The Chemist‹ las. Bei der Formel An Ni stockte er und wußte sich keinen Rat damit. Er grübelte und grübelte, plötzlich begriff er, daß es Anni bedeutete. Da stand sie ja vor ihm im Zimmer, die Arme hinterm Kopf verschränkt, und blickte ihn spöttisch an. Er trat auf sie zu, packte sie mit beiden Händen und begann sie wild auf den Mund zu küssen. Anni wehrte sich heftig mit Knien und Ellbogen. Er hielt sie brutal fest, und mit der einen Hand riß er ihr die Kleider in langen Streifen vom Leibe. Schon fühlte er ihren jungen Körper unter den Händen. Anni wehrte sich so wütend, daß ihr die Haare ins Gesicht fielen, jetzt, jetzt ermattete sie und sank. Prokop stürzte zu ihr nieder, fand jedoch nichts als lange Streifen und Wickelbinden unter den Händen; er riß daran, zerrte daran, wollte sich davon befreien . . . da erwachte er.

      Er schämte sich seines Traumes sehr. Leise kleidete er sich an, setzte sich ans Fenster und erwartete den Morgen. Es gibt keine Grenze zwischen Tag und Nacht. Der Himmel verblaßt ein wenig, und durch die Luft fliegt das Signal, das weder Licht noch Laut ist und der Natur befiehlt: Erwache! So beginnt der Morgen noch inmitten der Nacht. Die Hähne krähen, die Tiere im Stall bewegen sich. Der Himmel wird perlmutterfarben, erhellt sich und überzieht sich mit sanfter Röte; dann flammt der erste rote Streifen im Osten auf. Die Vögel zwitschern und lärmen, und der erste Mensch geht schwingenden Schrittes an sein Tagewerk.

      Auch der gelehrte Mensch setzte sich ans Werk. Er kaute lange am Federhalter, ehe er sich entschloß, die ersten Worte niederzuschreiben. Es sollte etwas Großes werden, die Zusammenfassung seiner experimentellen und denkerischen Arbeit der letzten zwölf Jahre, ein schwer erkämpftes Werk. Das hier war vorerst nur als Entwurf gedacht, als eine Art physikalischer Philosophie, als physikalisches Gedicht oder Glaubensbekenntnis. Das Weltbild darin sollte aus Zahlen und Gleichungen gewölbt sein. Aber diese Ziffern der astronomischen Ordnung sollten etwas anderes messen als die Erhabenheit des Himmels; sie waren bestimmt, die Unbeständigkeit und Zerstörbarkeit der Materie zu berechnen.

      Alles, was ist, gleicht einem trägen, abwartenden Sprengstoff; aber wie immer auch seine Beharrungszahl laute, sie stellt nur einen verschwindenden Bruchteil seiner Sprengkraft dar. Alles, was vor sich geht, der Kreislauf der Gestirne, die tellurische Arbeit, das emsige, unersättliche Leben selbst, alles das lockert und bindet nur an der Oberfläche, unmerklich und unmeßbar, jene Explosivkraft, die Materie heißt. Wisset denn, daß die Fessel, die sie bindet, nur ein Spinngewebe an den Gliedern eines schlafenden Titanen ist. Gebt mir die Kraft, sie zu zerstören, und er wird die Erdrinde von sich abschütteln und Jupiter auf den Saturn schleudern. Du aber, Menschheit, du gleichst nur einer Schwalbe, die sich geschäftig ihr Nest unter dem Dache dieses kosmischen Pulverlagers gebaut hat. Du zwitscherst bei Sonnenaufgang, während in den Fässern unter dir das furchtbare Potential der Explosion lautlos vibriert.

      Diese Dinge schrieb Prokop freilich nicht nieder; sie waren bloß die heimliche Melodie, welche die schwerfälligen Sätze einer Fachstudie beflügelte. Für ihn lag


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