Geschichte meines Lebens. George Sand

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Geschichte meines Lebens - George Sand


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aber meine Erinnerungen drängen sich oft in etwas verworrener Weise zu und verlassen mich dann wieder, so daß ich fürchten müßte, ganz und gar zu vergessen, was ich auf den folgenden Tag verschöbe.

      Obwohl der Abbé Deschartres unter der Schreckensherrschaft meinen Vater und die Interessen meiner Großmutter aus das Sorgfältigste überwachte, wurde er durch seine Vorliebe immer noch von Zeit zu Zeit in Spitäler und Sectionssäle geführt. Es gab damals zwar genug blutige Schauspiele im wirklichen Leben, aber die Liebe zur Wissenschaft hinderte den Abbé philosophische Betrachtungen über die Leichen anzustellen, die von der Guillotine zur Anatomie geschickt wurden. Eines Tages jedoch hatte er eine kleine Gemüthsbewegung, die ihn sehr in seinen Beobachtungen störte. Einer der Eleven, der die Sachen leicht nahm, hatte mit den Worten: „sie sind frisch abgeschnitten“, mehrere Köpfe auf den Secirtisch gelegt. Ein gräßlicher Kessel war bereit, sie aufzunehmen, um sie durch Kochen zum Skelettiren vorzubereiten. Deschartres nahm die Köpfe, einen nach dem andern, und that sie hinein. „Hier ist der Kopf eines Geistlichen“, sagte der junge Mann, indem er ihm den letztern reichte; „er trägt die Tonsur“. Deschartres sieht ihn an und erkennt das Gesicht eines Freundes, den er seit vierzehn Tagen nicht gesehen hatte und von dem er nicht wußte, daß er gefangen war. Er hat mir diesen schrecklichen Vorfall selbst erzählt. „Ich sagte kein Wort, indem ich diesen armen Kopf mit den weißen Haaren betrachtete; das Antlitz war noch ruhig und schön und schien mir zuzulächeln. Ich wartete, bis der Eleve sich abwendete, um einen Kuß auf diese Stirn zu drücken, dann legte ich das Haupt in den Kessel zu den andern. Ich habe es dann für mich skelettirt und habe es lange besessen; aber es kam eine Zeit, wo diese Reliquie zu gefährlich wurde und da habe ich sie in einer Ecke des Gartens begraben. Dieser Zufall erschütterte mich übrigens so sehr, daß ich lange Zeit unfähig war, mich mit der Wissenschaft zu beschäftigen.“

      Doch laßt uns schnell zu lustigern Geschichten übergehen.

      Mein Vater lernte sehr schlecht; aber Deschartres wagte nicht, ihn zu züchtigen, denn obgleich er ein eifriger Anhänger der alten Methode, der Ruthe und des Stockes war, so machte ihm doch die übergroße Liebe meiner Großmutter für ihren Sohn alle durchgreifenden Mittel unmöglich. Er versuchte nun durch Eifer und Beharrlichkeit das Prügelsystem zu ersetzen, das seiner Meinung nach der mächtigste Hebel des Verstandes gewesen wäre. Er theilte mit seinem Zögling allen Unterricht, den er nicht selbst geben konnte, wie deutsche Sprache, Musik, und machte sich zu seinem Repetitor in Abwesenheit der Lehrer. Er ging in der Aufopferung so weit, daß er Fechtstunde nahm, um die Ausfälle mit ihm einzuüben. Mein Vater, der zu jener Zeit von schwacher Gesundheit und etwas träge war, pflegte auf dem Fechtboden aus seiner Erschlaffung aufzuwachen, aber wenn sich Deschartres hineinmischte, der arme Deschartres, der die Gabe hatte, die interessantesten Dinge langweilig zu machen, fing das Kind wieder an zu gähnen und schlief fast stehend ein.

      „Herr Abbé,“ sagte er ihm eines Tages mit kindlicher Unbefangenheit, „wird es mir mehr Vergnügen machen, wenn ich mich ernsthaft schlage?“ — „Ich glaube nicht, mein Freund,“ antwortete Deschartres, aber er irrte sich; mein Vater hatte früh kriegerische Neigungen und selbst eine Leidenschaft für den Kampf. Nie fühlte er sich so wohl, so ruhig und so sanft bewegt, als wenn er mit der Cavalerie zum Angriff eilte.

      Aber dieser tapfre Mann war ein schwächliches, entsetzlich verzogenes Kind, das buchstäblich in Baumwolle aufgezogen wurde; und als er beim raschen Wachsen etwas leidend war, gestattete man ihm, sich seiner Indolenz insoweit hinzugeben, daß er den Bedienten klingelte, um ihm einen Bleistift oder eine Feder aufzunehmen. Er änderte sich gänzlich, Gott sei Dank! und als Frankreich an seine Grenzen eilte, war er immer einer der Ersten, die mit fortgerissen wurden und seine rasche Umwandlung war ein Wunder mehr unter den Tausenden.

      Als die Revolution zu drohen begann, sah meine Großmutter, wie alle aufgeklärten Aristokraten ihrer Zeit, ihr Herannahen ohne Furcht. Sie war zu sehr mit Voltaire's und Rousseau's Geist genährt, um die Mißbräuche des Hofes nicht zu hassen und sie gehörte sogar zu den glühendsten Gegnern der Coterie der Königin. Unter ihren Papieren habe ich Mappen voll Verse, Madrigals und beißende Satyren gegen Maria Antoinette und ihre Günstlinge gefunden. Die vornehme Welt schrieb diese Pasquille ab und verbreitete sie. Die feinern sind von der Hand meiner Großmutter geschrieben und vielleicht sind sie ihr Machwerk, denn es gehörte zum guten Ton, einige Epigramme gegen die Skandalosa des höchsten Kreises zu schleudern und es war die geistige Opposition jener Zeit, die sich in diese ganz französischen Formen hüllte. Es waren zum Theil sehr gewagte und sehr sonderbare Dinge; über die Geburt des Dauphin, über die Verschwendungen und Galanterien der „Deutschen“ legte man dem Volke unerhörte Lieder in den Mund, die in der Sprache der Hallen verfaßt waren; man ging so weit, Mutter und Kind mit der Peitsche und dem Schandpfahl zu bedrohen. Und man glaube nicht etwa, daß diese Lieder aus dem Volke hervorgingen; sie stiegen aus dem Salon in die Straßen hinab. Ich habe Gedichte verbrannt, deren Anhalt so obscön war, daß ich nicht gewagt haben würde, sie bis zu Ende zu lesen und die, von Abbés geschrieben, die ich in meiner Jugend gekannt habe, und aus dem Kopfe vornehmer Edelleute hervorgegangen, mir keinen Zweifel über den tiefen Haß und die wahnsinnige Entrüstung der Aristokratie jener Zeit gelassen haben. Ich glaube, daß selbst, wenn das Volk sich nicht geregt hätte, die Familie Ludwig's XVI. das gleiche Schicksal gehabt haben würde, ohne zum Ruhm des Märtyrerthums zu gelangen.

      Uebrigens bedaure ich sehr, daß ich mich in meinem zwanzigsten Jahre durch einen Anfall von Prüderie dazu bringen ließ, die meisten dieser Manuscripte zu verbrennen. Da sie von einem so keuschen, so erhabenen Wesen, wie meine Großmutter herrührten, verletzten sie meine Augen; und doch hätte ich mir sagen müssen, daß es historische Dokumente waren, die vielleicht einen bedeutenden Werth besaßen. Mehrere waren vielleicht einzig in ihrer Art oder doch höchst selten. Die, welche ich behalten habe, sind bekannt und schon in mehreren Werken angeführt.

      Ich glaube, daß meine Großmutter eine bedeutende Verehrung für Necker und Mirabeau fühlte; aber ich verliere die Spur ihrer politischen Meinungen mit dem Augenblicke, wo die Revolution für sie selbst ein niederschmetterndes Ereigniß und ein persönliches Unglück wird.

      Unter allen ihren Standesgenossen war sie vielleicht am wenigsten darauf gefaßt, von den Folgen dieser großen Katastrophe getroffen zu werden. Wie hätte sie auch ihr Bewußtsein daraus hinweisen sollen, daß sie, als Theil des Ganzen verdient haben könnte, der allgemeinen Buße mit unterworfen zu werden. So weit es sich mit ihrer Stellung vertrug, hatte sie den Glauben der allgemeinen Gleichheit angenommen. Sie hatte das Verständniß aller freisinnigen Ideen ihrer Zeit. Sie war einverstanden mit Rousseau's „Gesellschaftsvertrag“, sie haßte den Aberglauben wie Voltaire; sie konnte sich selbst für großherzige Schwärmereien erwärmen; das Wort Republik enthielt nichts Schreckliches für sie. Von Natur war sie liebevoll, hülfreich, leutselig und sie sah ihres Gleichen auch in jedem niedrigen und unglücklichen Menschen. Wenn die Revolution ohne Gewaltthaten und Irrthümer fortgeschritten wäre, würde sie ihr, ohne Bedauern und ohne Furcht, bis an's Ende gefolgt sein; denn sie war eine große Seele und hatte ihr Leben lang die Wahrheit gesucht und geliebt.

      Aber um die unvermeidlichen Kämpfe, die mit solcher Ungeheuern Umwälzung verbunden sind, freudig hinzunehmen, müssen wir mehr als rein, mehr als gerecht sein; wir müssen das Reich Gottes mit Begeisterung, mit Heldenmuth, mit Fanatismus sogar anstreben. „Der Eifer für sein Haus muß uns verzehren“, wenn wir die Einwirkungen und den Anblick der schrecklichen Einzelnheiten der Krisis ertragen sollen. Jeder von uns ist fähig, sich zu einer Amputation zu entschließen, wenn es sich um die Erhaltung des Lebens handelt, aber wenige sind im Stande, unter Folterqualen zu lächeln.

      In meinen Augen ist die Revolution eine der thätigen Phasen des christlichen Lebens; eines Lebens, das zu gewissen Stunden stürmisch, blutig, schrecklich, voll Convulsionen, Wahnsinn und Verzweiflung ist. Es ist der heftige Kampf der Gleichheitslehre, die Jesus verkündigt hat — der Lehre, die bald wie eine strahlende Kerze, bald wie eine glühende Fackel von Hand zu Hand geht, bis in unsre Tage; um zu streiten gegen die alte heidnische Welt, die nicht zerstört ist, und noch lange nicht zerstört sein wird, trotz der Sendung des Heilandes und anderer göttlicher Missionen — trotz so vieler Scheiterhaufen, so vieler Schaffotte und so vieler Märtyrer. Aber die Geschichte der Menschheit besteht aus so vielen unvorhergesehenen, sonderbaren, geheimnißvollen


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