Die Begabten. Juryk Barelhaven
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Juryk Barelhaven
Die Begabten
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Inhaltsverzeichnis
Das hässliche Entlein
STEPHAN LASSER
Windelsbleicher Straße 253
33659 Bielefeld
015161712386
Für die einzige Hexe in Mooswald mangelte es nie an Verbänden, die gewechselt werden mussten, oder werdenden Müttern die einen Rat benötigten. Hexen leisteten Geburtshilfe, und wenn die Hexe mit ihrem spitzen Hut und ihrem Korb eintraf, kamen plötzlich rein zufällig andere Leute zu Besuch und bestaunten aus sicherer Entfernung die Arbeit der Frau. Jeder gab, soviel er konnte: ein frisch gebackenes Laib Brot, ein Gurkenglas, ein selbstgestrickter Schal vielleicht… das war die Währung, die Hexen bevorzugte. Nur drei Frauen in der Stadt waren so arm, dass sie wirklich nichts geben konnten, aber das hinderten Hexen nicht zu helfen. Hexen nahmen ihren Beruf sehr ernst.
An den meisten Tagen standen Besuche bei den Alten im Dorf an, dort wo die ausgemergelten Körper nach alten Kartoffeln rochen, die Haut papierdünn und gelblich war und die Kraft eines jungen Menschen wie seltener Wein hochgeschätzt wurde. Bei den Alten fühlte sich die Hexe wohl: beim Waschen, Essenreichen und Rasieren tauschte man Tratsch aus und erfuhr so alles Wissenswerte.
Von der Seite kam ein junges Mädchen daher, passte sie ab und erkundigte sich, warum Hexen Alten und Bedürftigen die Haare schneiden und eine warme Mahlzeit gaben.
„Wir tun, was getan werden muss. Wer sollte es sonst tun?“
„Könntest du ihnen nicht mit Magie helfen?“, fragte das dürre Mädchen.
„Ich benutze Kräuter aus dem Wald. Es ist Magie, wenn man über Dinge Bescheid weiß, die andere Menschen nicht kennen“, sagte die Hexe und schickte sich an, weiterzugehen.
„Der alte Schuster kann nicht mehr ohne seinen Stock gehen und hat drei Söhne. Sie könnten sich kümmern. Ist das fair?“
Die alte Weise hatte kurz innegehalten und sich das Mädchen genauer angeschaut: eine viel zu lange Nase und den Anzeichen eines Buckels, der später gewiss gewaltig werden dürfte, schätzte die Hexe. Dann strähnige, pechschwarze Haare, die schief über das rechte Gesicht hingen als könnte sie problemlos mit nur einem Auge schauen. Schmale Schultern, zerschlissenes Kleid und rote Striemen auf den Handrücken. „Du bist die Tochter des Wirts, oder? Du bist Sonia“, schlussfolgerte sie und versuchte nicht zu sehr auf die Striemen zu starren. „Ich habe den „Grauen Frosch“ nie gemocht. Zuwenig Fleisch in der Suppe. Das Bier ist schal.“ Eine freundliche Untertreibung. Jedermann kannte die Taverne am Stadtrand vom Mooswald. Nicht nur das Bier war dort schlecht. „Er ist dein Onkel, oder? Soll ich mal mit ihm reden?“
Das Mädchen verkrampfte sich sofort und schüttelte den Kopf. „Nein, das kommt vom Spielen.“ Sie mied den Blick.
„Ja, ich hatte heute auch einen Holzfäller bei mir, der sich beim Spielen im Wald verletzt hatte“, bemerkte sie lakonisch.
„Das ist nicht nötig, es war meine Schuld, das geht schon, keine Sorge…“
„Wenn du meinst.“ Die Hexe spürte wie ihre Laune sich verfinsterte. Das arme Ding hatte etwas Besseres verdient. „Sag, kannst du nicht woanders leben?“
Sofort leuchteten die Augen auf: „Ich… ich hatte gehofft, verehrte Madame, ich könnte als Hexe…“ Sie sprach nicht weiter und errötete leicht. „Ich kann gut aufräumen. Ach, lesen kann ich auch. Und Rechnen.“ In ihren Sätzen schwang so viel Hoffnung mit, dass es der Frau leidtat, dieser Bitte nicht zu entsprechen.
„Ich selbst bilde nicht aus, Kind.“ Sie kniete sich hin, missachtete den kurzen Stich in ihrer Hüfte und versuchte mitfühlend zu klingen. „Zum Herbst im Monat des Dachses könntest du die Oberhexe im Buckelwald um einen Platz bitten. Das verstehst du doch, oder?“
Hoch im nördlichen Osten lag das einzige Dorf der Hexen; eines der ersten unabhängigen Völker, das dem Menschenreich beigetreten war. Tatsächlich war die Kultur der Hexen aber viel älter. Weit entfernt von neugierigen Augen und gierigen Händen lehrten die weisesten Hexen die jungen Frauen in den Künsten der Kräuterkunde und der Pflege von Alten und Schwachen. Wohl dem, der sich ihrer Gunst erfreut und hier lernen durfte! In einer hierarchischen Gesellschaftsordnung, die auf der mit Studien verbrachten Zeit und dem persönlichen Fortschritt auf dem Weg zur ultimativen Meisterschaft begründet war.
Die kleinen Schultern sackten noch mehr in sich zusammen. Man musste kein Prophet sein, um zu erahnen, was das für die Kleine bedeutete. Ein Jahr für sie war kein Jahr wie für Erwachsene – es war ein ganzer Sommer und ein ganzer Winter als Kind in der Taverne ihres Onkels. Schlimme Kunde brachten Tränen.
Die Alte nahm sie sanft in den Arm und wünschte sich, sie könne helfen. Ausnahmen wurden selten erteilt und auch nicht gerne von den Hexen gesehen. Wo sollte sie schlafen? Wer wollte schon sein Essen mit ihr teilen? Hexen waren nicht knauserig, aber reich waren sie auch nicht. Eine ungerechte Welt war das. Sie nahm eins ihrer bunten Taschentücher und wischte damit über ihre Augen. „Na, so ein nettes kleines Mädchen muss doch tapfer bleiben, oder?“ Nett gemeinte Worte, die nicht viel halfen. „Ich könnte einen Boten zur Oberhexe schicken und sie um Rat fragen. Du hast mein Wort.“
Sonia wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und trat einen Schritt zurück. Lächelte traurig und nickte. Enttäuschung schien sie gewohnt. Dann drehte sie sich um und trottete davon. „Danke“, hauchte sie leise und schniefte dabei, dass es einem das Herz erweichen konnte. Hinkend schlurfte das kleine Elend von dannen und war bald verschwunden, während die Hexe ihr mit bitteren Gedanken nachsah.
Sobald war sie ihrer Arbeit nachgegangen. Als junge Hexe, so erinnerte sie sich, hatte sie anfangs davon geträumt mit Zauberstab und reichlich Magie jeden Tag Wunder zu wirken, und hatte schnell einsehen müssen, dass die Tätigkeit von Hexen große Ähnlichkeit mit harter Arbeit hatte. Sie benutzte immer seltener ihren Besen und hatte nach einer langen Einarbeitungszeit festgestellt, dass auch ohne Magie ihre Speisekammer gut gefüllt war und die Leute zufrieden waren.
Nach ihrem Besuch bei den Alten schaute sie kurz beim Blechschmied