Die Begabten. Juryk Barelhaven
Читать онлайн книгу.verächtlich hervor und flatterte aufgeregt mit ihren Flügeln. „Du willst ein Kind schutzlos in der Wildnis allein lassen und gibst mir noch Erziehungsratschläge!? Ein feiner Herr Soldat, sage ich.“
„Pah!“ Der Mann schnaubte Kamile verächtlich an und wandte sich danach von ihr ab, als hätte er beschlossen, dass der Krähe seine Zeit nicht wert war. Stattdessen sagte er zu Sonia: „Ich wünsche euch viel Glück. Sonne auf die Klinge, Sonia. Du wirst es brauchen! Dort draußen leben Monster und Banditen, Skorpione und Trolle… Einige dieser Wesen waren schon alt, als die Welt noch jung war. Sie haben das Recht, sich in den Schatten zu verstecken und auf unvorsichtige Reisende wie Euch zu stürzen“, bei diesen Worten pikste er Sonia mit einem seiner starken Fingern gegen die Brust, „die nicht wachsam genug sind. Du solltest kämpfen lernen, sag ich. Eine feine Schildmaid würdest du abgeben. Wenn du den rechten Weg nimmst, kommst du in Quelsbach an, wo eine Brigade stationiert ist. Das ist ein guter Weg.“
Sonia schüttelte den Kopf. „Nein. Ich möchte eine Hexe werden.“
Der Soldat lachte schallend auf.
Doch der alte Mann gebot ihm zu schweigen. Der Kaufmann sah aus, als wäre er sich nicht sicher, ob Sonias Antwort sarkastisch gemeint war oder nicht. Als er schließlich zu der Auffassung gelangte, dass Letzteres der Fall war, bedeutete er ihr, doch näher zu kommen. Sonia kam der Aufforderung nach.
„Buchsenstübl“, knurrte der alte Mann.
„Wie bitte?“
„Ihr müsst nach Buchsenstübl gehen.“
„Muss sie das?“ Kamile sah Sonia an, doch die zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe noch nie von diesem Ort gehört.“
„Genau das will Buchsenstübl ja auch.“ John Fahrenztein deutete auf eine Bergkette in der Ferne. „Diese Berge dort hinten sind die äußerste Grenze unseres Reiches. Es ist ein kleiner verschlafener Ort, fern von Krieg und Monsterangriffen. Nur zwanzig Familien groß, aber friedlich und sicher. Bleibt einfach auf diesem Weg, passiert Quelsbach und folgt dem verschlungenen Pfad, bis ihr dort angekommen seid. Auf zwei Beinen seid ihr morgen Abend dort. In Buchsenstübl traf ich einst eine Frau. Wunderschön. Schwarzes Haar und zwei pralle…“ Er verstummte, hüstelte kurz. „Na, das ist eben Buchsenstübl.“
„Und was ist in Buchsenstübl, dass diese ganze Mühe wert ist?“
„Die Hexe.“
„Welche Hexe?“
„Nun, eben eine Hexe“, sagte der Alte mit säuerlichen Blick und schien offenbar verärgert darüber, dass Kamile noch einmal nachgefragt hatte. „Hatte mir damals wegen meinen Rückenschmerzen geholfen. Die einzige Hexe, die ich sonst noch kenne, ist in Mooswald, und von dort kommen wir ja gerade, nicht wahr?“
„Das könnte bloße Zeitverschwendung sein“, murmelte Kamile leise und putzte sich ihr Gefieder.
Der Kaufmann bedachte sie mit einem verächtlichen Blick, spuckte aus und stand schwerfällig auf. „Mit euch habe ich nicht gesprochen. So, es wird Zeit. Gehabt euch wohl. Auf mich wartet meine Familie und mein Geschäft. Ich habe schon genug Zeit verschwendet.“
„Es ist mitten in der Nacht“, warf Kamile kopfschüttelnd ein.
„Klöster werden in der Regel als Erstes überfallen. Es gibt kaum Wachen, aber Frauen und Kostbarkeiten. Denkt nur an den Raub der Heiligen Insignien von vor vier Monaten im Kloster der Stadt Ghravendulf. Die Schwachen fallen zuerst im Krieg. Das ist doch keine Lösung. Wenn ich mich auf meiner Reise mit einem Winselwelpen und einem vorlauten Krähen abgebe, wird mich das nur behindern. Es war ein Fehler, das Mädchen von Mooswald wegzuführen, Krähe.“, warf er knapp ein und packte seine Sache zusammen, als hätte er plötzlich eilig. „Wenn die besorgten Bürger sich auf die Suche machen, werden sie nicht lange Fragen stellen, wenn sie einen Fremdländer mit dem Kind entdecken. Ich suche keinen Streit mit Stadtwachen. Mein Entschluss steht fest. Ich wünsche euch beiden alles Gute.“ Kurz hielt er inne, griff an seinen Gürtel und warf ihr einen kleinen Lederbeutel zu. Ein paar klingende Münzen. „Damit solltest du dir ein paar gute Kleider kaufen können. Gehabt euch wohl, und danke nochmal.“
Ohne ein weiteres Wort schwang er sich wieder auf den Kutschbock und seine Wachen folgten ihm. Zurück blieb ein Lagerfeuer, die Decke um Sonias Schultern und zwei einsame Gestalten in der Tiefe der Nacht. In der Ferne hörten sie noch das Rumpeln der Räder – dann war er verschwunden.
Kamile seufzte leise. „Er… er ist weitergezogen.“
„Wieso?“ Sie war den Tränen nahe.
„Er will uns loswerden“, sagte Kamile und bedauerte sofort ihre Worte.
Sonia schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. „Es… es ist wegen mir, oder? Weil ich hässlich bin.“
In Kamile gefror alles. Sofort eilte sie zu ihr und legte eine ihrer Flügel um die Schultern des kleinen Mädchens. „Nein, Sonia. Das ist es nicht. Du bist ein hübsches Mädchen, wirklich. Der Alte will zurück nach Hause um seine Familie wiederzusehen.“
Sonia war nicht zu beruhigen. Sie schniefte leise und wandte sich ihr zu. „Im Dorf nannten mich alle die Hässliche. Ich hatte einen Spiegel zuhause. Meine Mutter meinte, die wahre Schönheit komme von innen. Wie meinte sie das? Wirst du mich auch verlassen?“
Sie ist wirklich keine Schönheit, dachte Kamile bekümmert, aber lieber wäre sie einem Koch freiwillig in den Kochtopf gesprungen als ihr das zu sagen. Der Buckel, die lange Nase und die gekrümmte Haltung. Sicher hatte sie wenig Freunde gehabt, schlussfolgerte Kamile. Sie blickte sie ernst und feierlich an: „Lieber lasse ich mich in Paniermehl drehen und in einen Kuchen einbacken, als dass ich dich allein lasse. Versprochen, Sonia. Du weißt, dass man Versprechen halten muss?“
Sie nickte und wischte sich über die Nase.
„Du willst wirklich eine Hexe werden?“ fragte Kamile zweifelnd.
„Ja.“
„Sollen wir es mit Buchsenstübl versuchen?“
„Bitte.“
Die Krähe krächzte leise und nickte langsam. „Worauf warten wir dann?“
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