HERBERGSSCHIRME. Paul-Heinz Schwan

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HERBERGSSCHIRME - Paul-Heinz Schwan


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kommen ungezählte Aufsätze, Kommentare, Videovorträge, -interviews. Er ist ein Mensch, d.h. ein unruhiger, umtriebiger. Ein Denker mit Fragen an die „Alten Philosophen“, an sicher geglaubte „Phrasen“, findet immer wieder neue Antworten, ist der lebende Beweis für seine von Nietzsche übernommene, variantenreich aufgelegte Feststellung, dass „der Mensch das nicht festgestellte Tier“ sei.

      Auch, wenn ich mich an seinen ausladenden Stil erst gewöhnen musste. Aber es lohnt sich, immer wieder mal bei „den Alten“ nachzulesen, sie neu, mit aber auch gegen sie zu denken.

      Mit diesem Autor werden es Freiflüge über verblühte Weisheitsfelder, Fahrten zu bekannten Grabungsstätten, an denen er den routinierten Einsichten seines Faches neue, anders beleuchtete Wendungen ausgräbt. Immer wieder zieht es ihn ans Sterbebett der Philosophie (so in „Kritik der zynischen Vernunft“) um der knorrigen Gedankenverwaltung, dem Aufenthaltsort für Ausflüchte und halbe Wahrheiten großer Themen seine Anschrift und Ansprache zu hinterlassen.

      Sloterdijk: Manchmal ist der größte Umweg der direkteste zum Ziel.

      Dass er es mit den drei Bänden auf 2.500 Seiten bringt, ist sicher (k)ein Zufall.

      So ergab sich die Neugier auf die Mammutaufgabe, Seiten Satz für Satz, Abschnitt für Abschnitt so zu lesen, bis Gemeintes verstehbar erschien. Wenn der Mensch eine attraktiv gelegte Spur wittert, wird er leicht ein williges Wesen seiner Erwartungen, seiner erhofften Offenbarung, seiner wissen-wollen-neugier.

      Achtung! HerrFrau Geburtlicher - beim Um-, Abbiegen!

      Annäherung an die drei Sphären-Bände (1/4)

      Fragt man sich, wie Autor und Text sich finden, so läßt sich das aus externer Sicht nur schwer sagen. In seinem Buch „Eurotaosimus“ von 1996 findet sich ein Zitat von E.M.Cioran aus „Vom Nachteil geboren zu sein“:

      „Im Paradies hielt ich es für keine Saison, ja keinen Tag lang aus. Wie soll ich dann die Sehnsucht nach ihm erklären, die ich verspüre? Ich erkläre sie nicht, sie lebt in mir seit jeher, sie war in mir, bevor ich war.“

      Ist der Band „Blasen“ ein Echo auf Cioran?

      Sloterdijk selber fasst seine Intention zu „Sphären“ in einem Interview aus 1997 zusammen:

      „Mein Hauptbeweggrund für diese drei Bände, ist das Abhandenkommen von Solidarität. Man hat bemerkt, das sie in der Sprache der Ökonomen „eine knappe Ressource“ geworden sei. Man hat sie bisher immer vorausgesetzt wie Erdöl, gute Laune oder Sonnenlicht, als eine aus sich selbst heraus entstehende, erneuerbare Energiequelle. Etwas was Menschen animiert, sie verbindet. Man hat immer Politik getrieben, als dürfe man solidarische Menschen voraussetzen. Das ist nicht wahr. Wir haben Raubbau mit Solidaritätsressourcen getrieben. Wir kommen und stechen in eine Kulturrevolutionäre Veränderung der Lebensstile hinein, der berühmte Individualismus, der im gesamten Westen Furore macht, einen dramatischen Schnitt in den Lebensformen gemacht hat. Da entsteht ein Mensch, der Weltgeschichtlich ziemlich beispiellos, das Eremitentum einmal abgezogen, in riesigen Zahlen sein Leben aufs Alleinleben hin zugeschnitten hat. Das will erst einmal verstanden werden.“

      Eine „Zusammenfassung“ von 2500 Seiten ist schon wie Foul spielen oder wie eine Ansichtskarte vom Gebirge, die den Urlaub ersetzen soll. Vielleicht komme ich mit einer gelben Karte davon und die Ansichtskarte lockt zur Hinreise:

      Ein wesentlicher Punkt erscheint mir, dass er an die (persönliche!) seismografische Kompetenz erinnert, die in jedem vor-geburtlich untilgbar „tätowiert“ ist.

      Nicht auf, sondern unter der Haut des seit seiner Einnistung „initiiert-bewegten“ Etwas. Diesem fetalen Kreislauf mit Nerven-Hormonen-Organen-Gehirn-Muskeln-Knochen des sich ausfaltenden Wesen. Mit Stimmungskiller und - aufheller ausgestatte, mit frühem Gehörsinn angreichert, um angenehme und unangenehme Töne zu erlauschen, lockende Zustimmung oder gruselige Ablehnung zu registrieren, Signale zu überhören oder ihnen „blind“ nachzuträumen. „Lagen“ und „Stimmungen“ zu empfangen, "Sphären"? zu empfinden. Dann am Ende der Fötalzeit: den Drang, die Notwendigkeit zu spüren „jetzt“ zur Welt zu kommen. Eine tätowierte-Mitgift die in den ersten neun und folgenden zwölf Monaten entsteht, uns aus dem „fötalen Basislager“ „ausstößt“, durch eine Enge „treibt“ und uns als „Tatooträger“ (jedem sein Päckchen) in den postnatalen Kreislauf, in „die Welt“,entlässt.

      Noch kürzer? : Ein „Innen-Sphären-Brüterwesen“ das jetzt in „Welt-Sphären“ lebt, Ausstattung und Ausstatter ist.

      Der zweite wesentliche Punkt (sorry, aber es gibt noch ein Stürmerfoul): Wir werden möglicherweise mit einem Verlustgefühl geboren, der Abwesenheit eines neunmonatigen treuen Begleiters in der intrauterinen Klausur in der Mutter, der Plazenta, dem „MIT“. Als Umgebender, Umgebendes „schafft“ es die „erste ideale Sphäre“ für das „AUCH“.

      Im Idealfall wird dieser Verlust durch einen märchenhaften Empfang kompensiert. Durch die „reiche“ Mutter, den „reichen“ Vater und die folgenden nahen „Vermögenden“. Das Adjektiv „reich“ irritierte den Einsteiger, bis er die Definition auch als Imperativ fand: „Sei reich an förderlichen ‚Stimmungen‘ und ‚Handlungen‘ die dem Neuankömmling eine Fortsetzung des ersten intrauterinen Schwebeglücks ermöglichen und in ihm den Verdacht erhärten: Ich bin willkommen“.

      Annäherung an die drei Sphären-Bände (2/4)

      Denn wir alle waren in dieser „Blase“ die uns mit dezentem Abstand umgab, in dessen Fruchtwasser wir schwebten, ernährt ohne zu ertrinken, in der wir durch schwarzes hindurch schwarze-schatten-sehen lernten, weil wir in unglaublicher Positions-Leichtigkeit mit traumhafter Sicherheit gehalten, getragen, betreut, versorgt wurden.

      Könnte es der erste Grund dafür sein, das wir ergänzungs--verwöhn-süchtige Wesen wurden und bleiben? Das MIT hinterlässt eine offene Stelle, vielleicht auch Wunde,

      ein „Unbehagen in-der-Kultur“ (Freud), vielleicht eine Melancholie, eine Depression, die ja auch wie die leer bleibende Stelle in uns wirkt, nicht ohne weiteres gestillt werden kann. Ist es das, was uns beschleicht, wenn wir das vage, unbestimmte Gefühl haben, das uns etwas fehlt, ohne sagen könnten, was genau? An den „flauen“ Sonntagnachmittagen oder ersten Arbeitstagen nach einem Urlaub?

      Hierfür suchen wir dringend-drängend-ärgerlich-flehend-flennend Nachfolger im Außen. Es melden sich viele „Bewerber“. Heerscharen von Ersatzbegleiter. Echte, Attrappen, schmeichelnde, heimelige, geneigte, schamlose aufdringliche, manche ewig haltbar, unglaubliche. Schatz-Anbieter, Wunden-Heiler, Wunder-Heiler, Götter, göttliches. Sie alle setzen auf das menschliche „Schicksal“:

      Den Ergänzungsbedürftigen-Schatzsucher! Deshalb kennen Feinde uns oft besser als wir uns selbst, schweben in dieser Formation immer auf einem schmalen Grat, zwischen dem glücklich ergänzten Schatzfinder oder dem untröstlichen Wund-Schmerz-Wesen.

      So kommt ein erstes Wolkenweltbild zustande, ohne alle Wolken berücksichtigt zu haben. Diese vor-Präfigurationen eines „Wesens“ das von innen kommt, „das nicht-mehr-Tier“, wurde viel zu lange „in den Theorien und großen Erzählungen“ verschwiegen, übersehen oder durch Erziehung, Gesellschaft, übergangen. Auch der überwiegende Teil der Philosophie hat hier ihren blinden Fleck. Von der Pädagogik ganz zu schweigen.

      Man spricht von „dem Menschen“ ohne ihn näher bestimmt, beschrieben, konkretisiert zu haben. Für Sloterdijk liegt in den wahrnehmbaren äußeren Tatsachen immer auch eine Davor, ein Woraus, ein Auf-Grund-dessen:

       „Nichts ist im Großen was nicht vorher im Kleinen angelegt ist.“

      Annäherung an die drei Sphären-Bände (3/4)

      Für die ganz langen Rückblicke fragte er sich realistisch-spekulierend in „den Anfang“


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