Männerrock. Holger Hähle
Читать онлайн книгу.leere „Festplatte“ im Gehirn geschrieben. Unsere kulturelle Umgebung wird so gespeichert einschließlich ihrer Veränderungen. Weil wir mit der Geburt erst anfangen aus Erlebnissen und Erfahrungen zu lernen, können wir uns der Umwelt und ihren Veränderungen anpassen. Ein Gazellenkitz und seine Artgenossen, die dramatische und schnelle Umweltveränderungen erleben, werden sterben, wenn sie bei einem Klimawandel z. B. nicht lernen können, sich auf andere Nahrung umzustellen.
Es sind die enormen Möglichkeiten eines anfangs unentwickelten Menschenhirns, sich in einer Weise zu entwickeln, die sich bei der Geburt noch nicht erahnen lässt, die den Menschen so sehr von anderen Lebensformen unterscheidet.
Der Mensch kann durch Lernen auf seine Umwelt reagieren und er kann durch Lernen die Umwelt selbst verändern. Die geistigen Fähigkeiten, die sich durch neuronale Vernetzungen im Gehirn entwickeln, sind das Potential unserer kulturellen Perspektiven. Je mehr wir denken, umso mehr vernetzen sich unsere Neuronen. Dies hilft besonders Babys, Kleinkindern und Teenagern, wenn wir sie beschäftigen. Aber die Fähigkeit, unser Gehirn zu entwickeln, besteht ein Leben lang. In diesem Sinne funktioniert unser Hirn ähnlich wie ein Muskel, der erst leistungsfähig wird, wenn er trainiert wird. Denken macht schlau. Das ist eine aktuelle Erkenntnis der Neurowissenschaften (5).
Mit den besonderen Ausformungen des Menschenhirns und der Sprachentwicklung haben sich die kognitiven Fähigkeiten, die Umwelt wahrzunehmen und Sinneseindrücke mit strategischem Denken zu verarbeiten, gegenüber anderen Säugetieren drastisch verbessert. Der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass grundsätzlich alle Säugetiere einen Neocortex haben und dass sie diesen nutzen. Der Psychologe Wolfgang Köhler konnte bei seiner Arbeit mit Schimpansen bereits von 1913-1920 feststellen, dass die Tiere nicht nur nach dem Trial-and-Error-Prinzip, also durch zielloses Ausprobieren, lernten.
Die Affen in seinen Versuchen unterbrachen ihre Versuche an Nahrung zu kommen, wenn diese erfolglos blieben, nur vorübergehend. Sie nutzten die Zeit zum Schlafen oder Nachdenken und probierten danach neue Strategien. In ähnlichen Situationen in späteren Versuchen griffen sie dann direkt auf die gelernte und erfolgreiche Strategie zurück (6).
Und zu welchen Gefühlsleistungen ein Affenhirn in der Lage ist, hat Jane Goodall Anfang der 1960er Jahre mit ihren Langzeituntersuchungen an Menschenaffen und Schimpansen in deren natürlicher Umgebung eindrucksvoll dokumentiert. Selbstverständlich können Primaten auch trauern (7).
Aber Menschen können das alles noch viel komplexer, womit auch die Folgerungen und Möglichkeiten für Reaktionen größer werden. Die Fähigkeit zu Reflektion, Abstraktion, Deutung und vorausschauenden Planungsprozessen sind erstmals im menschlichen Gehirn realisiert. Der Mensch kann Dinge denken, die es noch gar nicht gibt. Darüber hinaus ist sich der denkende Mensch seiner selbst bewusst. Die Auseinandersetzung mit sich zeigt er in rituellen Handlungen und Kulten. Es entsteht über Generationen Kultur durch die Weitergabe von Erfahrung, deren Weiterentwicklung und Tradierung.
Leider werden wir es nie erfahren, aber der Urmensch war sicher zu einer Äußerung, wie wir sie vom Philosophen René Descartes kennen fähig, die da heißt „Ich denke, also bin ich“.
Mit dem Gehirn als geistigem Prozessor für Handlungsmöglichkeiten und den Händen als Werkzeug zur Umsetzung gedachter Intentionen, schafft der Mensch Leistungen, die grundverschieden sind von den Leistungen aller anderen Lebewesen, einschließlich der Vormenschen wie Lucy. Der Mensch beginnt sich die Welt so zu denken und zu machen, wie er sie haben möchte. Kultur ist die Gestaltung der Umwelt, die so immer unabhängiger von der Natur wird. Es zählt nur noch der Wille und das Wissen um Möglichkeiten.
Mit diesem modernen Menschen beginnt der Aufstieg an die Spitze der Nahrungskette. Die geistige und handwerkliche Dominanz machte die Menschen autark und gab ihnen Zeit für Muße. Töpferwaren und Kleidung wurde verziert und animistische Kulte kunstvoll praktiziert, wie wir es von atemberaubenden Wandmalereien kennen.
In diesem geistigen Umfeld entwickelt sich unsere Kulturgeschichte. Kultur ist unser Gegenentwurf zur Natur. Sie wird den Menschen immer mehr von der Natur entfremden. Gerade in den Städten leben wir heute weitgehend ohne Natur. Wir arbeiten für Geld in Büros oder Fabriken. Damit kaufen wir Lebensmittel im Supermarkt, die wir somit weder in der Wildnis sammeln noch erjagen müssen. Wir reisen nie zu Fuß, häufig aber mit Autos, Schiffen und Flugzeugen. Wir treiben Sport in Fitnessstudios und Schwimmbädern. Wir konsumieren kulturelle Angebote im Fernsehen, Internet, Theater, Opernhaus etc. Der moderne Mensch hat mit seiner Kultur das Anthropozän geschaffen (8). Das ist das Zeitalter, in dem Menschen fast alle Prozesse auf unserer Erde beeinflussen oder gar kontrollieren und die „wilde“ Natur immer mehr zurückdrängen.
Gruppenkonformes Verhalten
Menschen mögen vereinzelt Einzelgänger sein, aber selbst dann leben sie nicht ganz und gar unabhängig von ihren Mitmenschen. Alleine auf sich gestellt ist der Mensch heute nicht überlebensfähig. Zu früheren Zeiten war das nicht anders. In der Steinzeit vom Clan ausgestoßen zu werden, kam einem Todesurteil gleich. Nur durch Kooperation in einer Gruppe ist für Menschen ein Überleben möglich.
Damit Gruppen funktionieren, braucht es Regeln, die als Normen das Zusammenleben organisieren und ordnen. Normen setzen den Wertekanon der mehrheitlichen Gesellschaft oder den des herrschenden Teils der Gesellschaft um. Sie definieren die politischen, religiösen, ökonomischen und erzieherischen Standards, die festlegen, was gedacht und geglaubt werden soll. Sie geben für alle Lebenssituationen vor, wie sich die Gruppenmitglieder verhalten und anziehen sollen. Sie schreiben einem Arzt einen weißen Kittel und einem Mechaniker den Blaumann vor. Je nach Epoche ordnen sie Krawatten den Männern und hohe Absatzschuhe den Frauen zu. Die Regeln können funktional, hierarchisch oder repräsentativ sein. Die Identifikation mit den Normen ist gewünscht. Ihre Befolgung oder Nichtbefolgung wird von der Gesellschaft verfolgt.
Mit der richtigen, konformen Kleidung weist sich der Träger als Mitglied seiner Gemeinschaft aus. Wer dem Dresscode folgt, stimmt seiner Rolle zu. Menschen ordnen sich in ihre Gruppe genauso ein wie auch Wölfe und Elefanten in ihre Rudel und Herden. Das Individuum profitiert von der Gruppe, aber es muss für die Gruppe arbeiten und gegebenfalls individuelle Bedürfnisse zurückstellen. Das Kernmerkmal von Gruppen ist die Kooperation ihrer Mitglieder zum gemeinsamen Vorteil. Dadurch hat sich solidarisches Verhalten gegenüber der Gruppe und ihren Mitgliedern evolutionär durchgesetzt. Es ist in uns angelegt und wird vererbt, wie auch bei Tiergemeinschaften. Die Gemeinschaft ist stärker und erfolgreicher als jedes ihrer Individuen und in der Regel auch stärker als die Summe der Gruppenmitglieder.
Mode als individueller Ausdruck einer Persönlichkeit gibt es nur theoretisch, wenn eine Person sich unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben kleidet. Praktisch gesehen besteht ein individueller Stil darin, eine Auswahl von Bekleidung aus dem Angebot zu treffen, das Hersteller gendergerecht bereitstellen. Deren Angebote sind schon mal gewagt, aber immer noch gesellschaftsfähig.
Überhaupt entstand Individualität erst mit der Erfindung von Kaminen und Schornsteinen, so dass man sich in ein Zimmer zurückziehen konnte. Davor, am offenen Feuer, war Privatsphäre fast unmöglich. Das ganze Leben war öffentlich.
Gesellschaftliche Kategorien und ihre Symbole
Menschliche Gesellschaften haben gegenüber tierischen Gesellschaften ihre eigene Sprache oder ihren eigenen Dialekt, ihre Wertvorstellungen und Ethik sowie ihre geistigen und materiellen Schöpfungen wie Kunst und Kleidung. Wenn die von einer Gesellschaft geteilten und gelebten Werte und Artefakte von Generation zu Generation weitergegeben werden entsteht Kultur. Eine gemeinsame Kultur hat gemeinsame Merkmale, die als Symbole die Menschen einer Gruppe verbindet. Gesellschaften, ihre größten Einheiten sind heutzutage in der Regel Nationen, haben charakteristische Merkmale. Modisch gehört der Kimono zum japanischen und der Sari zum indischen Kulturkreis (1).
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