Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp

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Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp


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alles in Ordnung, danke dir“, lächelte Inga. „Es ist enorm, was man mit einer Hand hinbekommt. Nur Dosen öffnen ging gar nicht. Janne ist am ersten Abend mit rüber gekommen, hat fünf Dosen Katzenfutter auf Vorrat aufgemacht und sie mit Frischhaltefolie bedeckt in den Kühlschrank gestellt.“

      Was eine enorme Leistung gewesen war. Marianne fand den Geruch von Dosenfutter schier unerträglich. Sie hatte die ganze Zeit mit ihrem Brechreiz zu kämpfen gehabt und nach jeder Dose den Kopf zum Küchenfenster hinaus stecken müssen.

      „Diese verdammte Katze. Das nächste Mal sagst du mir Bescheid, und ich schieße sie runter.“

      Inga grinste. Nach aussen hin gab Ralf sich stets bärbeißig, doch er würde nicht mal eine Mücke erschlagen. Alles, was atmete, drückte er liebevoll an seine breite Brust.

      „Miezi kann ja im Grunde nichts dafür. Aber ich bin froh, dass Frau Reuter heute zurückkommt.“

      Ein hektischer Dr. Rettig nahm Inga die Gipsschiene ab, testete ihre Reflexe und schickte sie zum Röntgen. Auf dem Rückweg kam ihr der gutaussehende Oberarzt entgegen. Er stutzte und warf einen Blick auf ihren linken Arm. „Wo ist denn Ihr Gips?“

      „Doktor Rettig hat ...“

      „Einen Moment.“ Mit beherrschter Miene und langen Schritten verschwand er in Richtung der Röntgenabteilung.

      Inga schwante nichts Gutes. Zwar hatte sie sich flüchtig gewundert, als ihre Hand ohne die Schiene bewegt und zurechtgelegt wurde, aber alles war so schnell gegangen. Und die Ärzte hier mussten doch wohl wissen, was sie taten?

      Dr. Oliveira kehrte zurück und blieb mit ernstem Gesicht vor Inga stehen. Sie wusste es, bevor er es aussprach.

      „Tja, der Bruch ist verrutscht. Ich habe mir Ihre Bilder angesehen. Wir könnten das theoretisch nochmal richten und es mit einer neuen Schiene versuchen, aber ...“

      Inga fühlte sich wie betäubt. Also doch eine Operation. Dieser blöde Pfuscher! Ob sie gleich hierbleiben musste? Wie sollte sie das alles organisieren? Ihr Job, die Kunden ... völlig unmöglich. Sie hatte nicht einmal Unterwäsche zum Wechseln dabei. Die Ponybesitzer waren zum Glück wieder zu Hause, aber da blieben immer noch ihre Meerschweinchen ... Andererseits - was, wenn sie aus reiner Ungeduld einen bleibenden Schaden riskierte? Und mit der operierten Hand würde sie mehr arbeiten dürfen als mit dem Gips ...

      Dr. Oliveira stand abwartend da, die Hände in die Taschen seines weißen Kittels vergraben, und schaute auf sie herunter. Lächelte dieser schreckliche Mensch denn nie? Inga riss sich zusammen und nickte stumm.

      „Gut. Sie sind wahrscheinlich am späten Nachmittag dran, je nachdem, wie viele Notfälle dazwischen kommen. In drei Tagen können Sie wieder nach Hause. Eine Schwester holt Sie ab und bringt Sie auf Ihr Zimmer.“

      Inga stand mit zitternden Knien auf und atmete tief durch. Im Hintergrund schlich Dr. Rettig über den Flur, nicht ganz so selbstbewusst wie zuvor. Blitzschnell drehte sie sich zum Oberarzt herum, hätte am liebsten mit beiden Händen den Kragen seines Kittels gepackt und sich an ihm festgeklammert.

      „Dieser Rettig operiert mich aber nicht!“

      Dr. Oliveira sah Inga fest in die Augen. „Ich operiere Sie selbst.“

      Kurz vor Mitternacht schob eine betont muntere Krankenschwester Ingas Bett in den Operationbereich und half einer Kollegin, die Patientin auf einen OP-Tisch umzulagern. Inga konnte beim besten Willen nicht begreifen, wozu das gut sein sollte. Schließlich hatte sie sich nicht die Beine gebrochen. Von dem Moment an, als sie auf die Station gekommen war, hatte man sie wie ein schwachsinniges Kind behandelt. Da sie privat versichert war, hatte die Dame in der Aufnahme suggeriert:

      „Sie haben doch sicher Anspruch auf Chefarztbehandlung und Einzelzimmer?“

      Nach einem Blick durch die Glastür in die überfüllte Station überschlug Inga die Konsequenzen. Man würde kurzerhand drei andere Patienten auf den Flur schieben, um ein Zimmer für sie frei zu machen. Außerdem wollte sie überhaupt nicht vom Chefarzt operiert werden. Womöglich war der so mit dem Schütteln von Privatpatientenhänden beschäftigt, dass er über weniger Routine verfügte als sein Fußvolk. Jedenfalls stellte er eine unbekannte Größe dar. Inga fühlte sich nicht mehr in geneigter Stimmung für unbekannte Größen. Sie blieb lieber bei dem Oberarzt. Der benahm sich zwar nicht übermäßig freundlich, doch er schien wenigstens seinen Job zu beherrschen.

      „Nein, habe ich nicht“, log sie.

      Nun teilte sie ein enges Zimmer mit einer jungen Frau aus Russland, die wegen zweier angebrochener Wirbel ein Korsett trug, einer reizenden kleinen Omi mit gebrochener Schulter und einer mürrischen Dicken, die kein Wort sagte.

      Der entsetzliche Dr. Rettig traute sich tatsächlich noch einmal zu ihr hinein und nahm ihr etliche Röhrchen Blut ab, wobei er ununterbrochen redete und einen aufdringlichen Geruch nach Aftershave verbreitete. Inga begann sich gerade zu fragen, warum ein Arzt sich mit einer solchen Arbeit aufhielt - da machte er sie wortreich darauf aufmerksam, dass der Knochen sich vermutlich bereits vorher verschoben habe und sie niemandem ein Verschulden würde nachweisen können. Aha. Nach dem Einlauf, den dieses Frettchen zweifellos von Dr. Oliveira empfangen hatte, wurde nun die Gelegenheit genutzt, um sich wieder in eine günstigere Position zu manövrieren. Nun fing Rettig auch noch mit bissigen Bemerkungen über den Oberarzt an. Er glaubte doch nicht im Ernst, dadurch besser dazustehen? Inga wäre es lieber gewesen, wenn der Arzt seine Energie auf die Heilung ihrer Hand gerichtet hätte.

      Sie rief Hilke an, die zum Glück sofort ans Telefon ging. Hilke zeigte sich voller Mitgefühl und bereit, Rettig bei nächster Gelegenheit zu verhauen. Eine Aufgabe, der die kräftige Hilke im Gegensatz zu ihrem friedfertigen Mann durchaus gewachsen schien. Vorerst jedoch würde sie die Fütterung der Meerschweinchen organisieren und dafür sorgen, dass jemand die notwendigsten Sachen zu Inga ins Krankenhaus brachte.

      Das Erste, was Inga im Operationssaal auffiel, war ein dicker, alter Mann, der zusammengesunken auf einem Drehstuhl mitten im Raum hockte und von der OP-Pflegerin durch leichtes Rütteln an der Schulter geweckt wurde.

      Um Himmels Willen, dachte Inga und schoss in die Senkrechte, nun hab ich doch den Chefarzt erwischt, und der ist schon völlig fertig.

      Da beugte sich eine andere grüne Gestalt über sie, drückte ihren gesunden Arm und sagte:

      „Ich bin da. Es ist alles gut.“

      Gerettet. Zutiefst erleichtert sank Inga wieder zurück. Seine dunkelbraunen Augen über dem Mundschutz schauten sie beruhigend und ein wenig spöttisch an. Dann tat das Narkosemittel seine Wirkung, der Anästhesist rückte ihre Sauerstoffmaske zurecht und die grün gekachelten Wände verschwammen im Nebel.

      Inga verschlief den gesamten folgenden Tag. Sie nahm undeutlich wahr, wie man ihr Medikamente verabreichte, weiße Kittel ein und aus gingen und eine große Tasche neben ihrem Bett abgestellt wurde. Als sie jemanden sagen hörte, sie könne voraussichtlich am Freitag entlassen werden, wachte sie kurz auf und protestierte.

      „Am Donnerstag! Drei Tage, hat Dr. Oliveira gesagt.“

      „Na, wenn Dr. Oliveira das gesagt hat ...“, murmelte einer der Ärzte der Visite ironisch.

      Inga hörte ihn nicht mehr. Sie war schon wieder eingeschlafen.

      Robson Oliveira betrat mit einer Brötchentüte in der Hand und der taz unter dem Arm seine Penthauswohnung in der Ilmenaustraße. Wenn sein Dienst erst am Nachmittag begann, gönnte er sich eine Stunde mehr Schlaf, joggte zwölf Kilometer und lief auf dem Rückweg beim Bäcker vorbei. Er warf seine verschwitzten Sportklamotten in die Ecke, aus der seine Putzfrau sie später aufsammeln würde, und stellte sich unter die Dusche. Aah, das tat gut. Bei dieser Kälte war er keinem einzigen anderen Läufer begegnet. Doch Rob ließ sich weder durch glatten Schnee, noch durch Regen oder drückende Hitze von seinem Training abhalten. Nächstes Jahr wurde er fünfzig, und er war stolz darauf, dass man es ihm bei Weitem nicht anmerkte. Teufel, er konnte es locker mit den meisten Vierzigjährigen aufnehmen. Einen Bandkumpel hatte er letztens beim Squash


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