Der Plethora-Effekt. Jon Pan

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Der Plethora-Effekt - Jon Pan


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und ich hatte den Eindruck, jeder einzelne wurde verstanden. OHN debattierte heftiger, rannte los, an mir vorbei. Ich drehte mich um, schaute ihm nach. Im Raum nebenan presste er sich gegen die Wand, zeigte dann hinüber. MIT, LIN und REC folgten ihm. Als jedoch MIT den Trichter mit der Saite hervorholte, schob ihn OHN weg. Nach einer kurzen Auseinandersetzung betraten sie alle vier erneut das Cockpit. Vermutlich war das der sicherste Ort an Bord. Wie ich aus ihrem Handeln entnehmen konnte, schien es nicht ratsam, nun den Trichter mit der Saite zu benutzen.

      Gewaltsam riss ich mich aus meiner Starre heraus und fragte: »Was ist passiert?«

      MIT, OHN und KUB 5 schauten in meine Richtung.

      »Was ist passiert?«, wiederholte ich lauter.

      OHN kam auf mich zu, doch KUB 5 hielt ihn zurück, durchbohrte mit seinem Arm die Luft, streckte ihn nach oben aus. Diese Geste war mir rätselhaft.

      »Kennt ihr unsere Sprache?«, fuhr ich fort. »Wenn ja, so sagt es mir.«

      MIT, LIN und REC kamen nun KUB 5 zu Hilfe, und zusammen brachten sie OHN zum schwarzen Quadrat zurück. Dort wirbelten ihre Laute durcheinander. Sie erhitzten sich bei einem wilden Disput. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, es ginge dabei um mich.

      »Ist es besser, im Augenblick den Trichter mit der Saite nicht zu benutzen?«, fragte ich. »Den Trichter«, betonte ich und hielt ihn hoch.

      Die zwölf Besatzungsmitglieder wurden noch lauter. OHN’s Stimme schallte, so sehr erregte er sich. Jetzt hatten sie draußen im All etwas entdeckt. Ihr Verhalten verriet mir das deutlich. Länger schaffte ich es nicht mehr, mich zu beherrschen. Ich musste hin und mich ebenfalls über das Fenster zum Weltraum beugen. Nach wenigen Schritten stand ich dort. Der Ausblick machte mich sofort schwindelig.

      Plötzlich fesselte etwas meinen Blick. Und ich wusste sofort, dass auch die zwölf Außerirdischen ihre Aufmerksamkeit voll und ganz darauf lenkten. Das war es, was sie in Aufregung versetzte.

      Sich langsam drehend und von uns wegbewegend, so schwebte er im All – der Kugelschreiber, den ich gegen die Wand geworfen und der darauf von ihr verschluckt worden war. OHN‘s Aufruhr hatte seinen Höhepunkt erreicht, worauf eine Beruhigung eintrat, die von allen anderen mit vollzogen wurde. Erleichterung kehrte ein.

      War die Gefahr überstanden?

       3. Eintragung

       Ich habe mir die weißen Wände einmal ganz aus der Nähe angeschaut, denn der Vorfall mit dem Kugelschreiber lässt mich nicht los. Folgendes ist mir aufgefallen: Der Stein, wenn es sich überhaupt um Stein handelt, ist nicht dicht. Die stellenweise porösen Flächen zeigen deutlich, dass da eine ständige Bewegung vor sich geht. Es scheint, als ob der Stein – ich bezeichne das Material weiterhin so, weil ich keinen anderen Ausdruck dafür wüsste und Stein eigentlich recht gut passt –, sich ununterbrochen auflöse, um gleich darauf wieder dichter zu werden, sich erneut aufzulösen, und so weiter, wobei das rasend schnell hintereinander geschieht. Ich kann mir die Ursache dafür vorstellen. Dieses Vibrieren, das ständig zu vernehmen ist, könnte von einer riesigen Saite stammen. Durch diesen Klang geschieht nun dasselbe wie mit dem Trichter, nur eben auf das ganze Raumschiff bezogen. Warum der Stein jedoch nicht ständig aufgelöst bleibt, weil ja der Klang immerzu da ist, das verstehe ich jedoch nicht, oder besser, noch nicht. Wie herausgefunden habe, sondert der Stein auch eine sauerstoffhaltige Substanz ab, die durch die Vibration herausgelöst und in die Luft der Räume gebracht wird. Nur so lässt es sich erklären, dass sowohl ich wie aber auch diese Fremden – die offensichtlich ebenfalls sauerstoffhaltige Luft zum Leben brauchen – im Raumschiff atmen können.

       Das Eindringen des Kugelschreibers in das weiße Material könnte nun eine Störung hervorgerufen haben, die sich auf das gesamte Raumschiff auswirkte. Erst als er sich durch das Material gearbeitet hatte und ins All fiel, war die Gefahr gebannt. Ich muss also vorsichtiger sein! Die Außerirdischen verhalten sich nun aber wieder ruhig. Der Alltag ist zurückgekehrt, wenn man das so sagen kann.

       Wie ich schätze, müssen inzwischen etwa zwei Monate vergangen sein. Die Purpur-Blätter ernähren mich ohne jede Nebenwirkung. Genuss bereitet mir diese Form von Essen jedoch nicht. Überhaupt muss ich hier auf vielerlei Genüsse verzichten, die mir auf der Erde lieb und wichtig waren. Einige Grundbedürfnisse weiß ich zwar zu befriedigen. Auch wasche ich mich – wie es die Fremden ebenfalls tun – mit den Purpur-Blättern. Obwohl ich mich durch das schwarze Gewebe schütze, setzt sich nach einiger Zeit doch weißer Staub auf meiner Haut ab. Er lässt sich mit einem der welken Blätter und seinem Saft, der durch Zusammendrücken herausgepresst wird, leicht entfernen. Es gibt sogar eine Art Toilette an Bord, was ich leider zu spät entdeckt habe. Nun habe ich aber auch das begriffen. Für mein physisches Überleben ist erst mal gesorgt,

       Wir fliegen ununterbrochen. Irgendwann werden wir irgendwo landen. Das hoffe ich zumindest. Das Haar auf meinen Kopf und der Bart in meinem Gesicht – der ursprünglich nicht vorhanden war – haben schon eine beträchtliche Länge. Da ich keinen Spiegel besitze, kann ich das bloß ertasten. Das ist mir recht so, denn ich möchte momentan nicht mit meinem Aussehen konfrontiert werden.

       Manchmal denke ich an Onkel Samuel. Vielleicht sitzt er in seinem Garten und schaut zum Himmel hoch. Er hat keine Ahnung, welche Wirklichkeiten es gibt. Er glaubt an das, worauf seine Füße stehen. Und wenn er mal schlecht träumt, so lächelt er darüber. Die Welt besteht aus dem Sichtbaren. Natürlich. Hier kann ich ja auch alles sehen und anfassen. Meine Umgebung ist nicht das Ergebnis einer übersteigerten Phantasie. Das Unwirkliche tritt mir im Gewand einer klaren Wirklichkeit entgegen.

       (Rupert Dill)

      

      Die Zeit floss dahin. Immer seltener verließ ich den Raum mit den irdischen Gegenständen. Manchmal machte ich mir nicht einmal die Mühe, unter der Zeltplane hervorzukriechen. Im matten, stickigen Dunkel lag ich da, stumpf vor mich hinbrütend, in der Hoffnung, es möge endlich etwas geschehen.

      Ich war entschlossen, mich zurückzuziehen. Wie ein krankes Tier schleppte ich mich von einem Augenblick zum anderen, mitten durch die Wüste der sich zur Ewigkeit dehnenden Zeit.

      

       4. Eintragung

       Man hat mich lebendig begraben. Ich sterbe den qualvollen Tod des Einsamen, der in das seichte, abgestandene Meer endloser Langeweile gestürzt wurde. Damit ich den Raum nicht verlassen muss, habe ich einige Portionen Purpur-Blätter hergeholt. Nach meiner eigenen Zeitrechnung esse ich einmal täglich. Ein Tag hat also die Länge von einer Mahlzeit zur anderen. Monate sind seit meiner Entführung vergangen, vielleicht sogar schon ein Jahr. Die Haare hängen mir ins Gesicht, verheddern sich in meinem Bart. Wenn ich mit der flachen Hand auf meine Hose klopfe, so wirbeln kleine Wolken weißen Staubs aus ihr hervor. Ab und zu ziehe ich sie aus, um sie durch Schütteln zu reinigen. Wäre es mir nicht zu aufwändig, so würde ich mir ein ganzes Gewand aus dem schwarzen Gewebe anfertigen, so wie es die Fremden tragen. Ich mag aber nicht. Das Nötigste will ich tun, weil ich in meiner Passivität trotzdem an eine Chance glaube. Was das allerdings für eine Chance sein soll, wie es also irgendwann weitergeht, und zwar so, dass das Leben für mich wieder lebenswert wird und meinen Bedürfnissen als Mensch entspricht, davon wage ich inzwischen nicht einmal mehr eine Vorstellung zu haben. Wenn es mir ganz schlecht geht, hole ich die Fotoalben aus der Kommode hervor und schaue sie mir an. Es beruhigt mich dann ein wenig, mir diese Bilder einer, wie es scheint, glücklichen Familie zu betrachten. Ich kenne bereits jedes einzelne Gesicht, das Spiel des Lichts auf Personen und Hintergrund. Und ich sehe mich selbst unter ihnen. Plötzlich stehe ich da, lächle den Personen neben mir zu, und sie lächeln zu mir zurück. Ich bin nicht mehr allein. Die Fotografien sind der Beweis dafür. Ich klappe das Album zu und fühle mich für Sekunden glücklich. Dann überkommt mich jäh der Zweifel. Mit zitternden Händen klappe ich das Album auf, entdecke den Betrug. Es gibt mich nicht, niemand lächelt mir zu, denn dort, wo ich mich gesehen habe, steht nichts als ein Haselstrauch, oder eine Schaukel, oder eine Hausmauer, alles, nur nicht ich. Weiter nach mir zu suchen,


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