Der Plethora-Effekt. Jon Pan
Читать онлайн книгу.war sie auch bereit, sich zu erregen. Damit setzte sich aber nur ihre Oberfläche in Bewegung, die äußerste Schale ihres Kerns. Alle tiefer liegenden Schichten blieben davon unberührt. Dort herrschte eben jene Gleichgültigkeit, die mich an ihr so störte.
»Du hast mich betrogen«, sagte sie keine Spur leiser. »Wenn du also kein Feigling bist, dann triffst du dich mit mir. Jahrelang habe ich für dich Verständnis gehabt. Du warst für mich nie ein schlechter Mensch. Selbst jetzt nicht. Das muss dir doch etwas bedeuten, sonst hat alles keinen Sinn gehabt.«
Es erstaunte mich, dass mein Körper bereits wieder trocken war. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich innerlich glühte. Vielleicht lag es daran, dass ich den ganzen Tag in der Sonne verbracht hatte. Ich legte den Kopf zurück und starrte in das milchige Licht der Deckenlampe. Dazu kniff ich die Augen zu, als würde ich in die Sonne blicken. Dass ich mir einen Telefonhörer ans Ohr hielt, war mir für Sekunden gar nicht mehr bewusst. Dann kam es mir so vor, als hätte ich irgendeine mechanische Auskunft am Draht, etwa der Wetterbericht oder die Zeitansage. Kein Wort kam über meine Lippen. Stummheit panzerte meinen Mund. Nicht, dass es mir die Sprache verschlug, da war auch keine Wut. Ich stand nur da, den Hörer am Ohr, den Blick zur Decke gerichtet. Hinter mir lief nach wie vor die Dusche. Doch auflegen wollte ich diesmal nicht. Ganz still machte ich mich, wie ein leerer Raum, in dem sich Charlottes Worte restlos verloren. Das brachte sie dazu, immer weiterzumachen. Nichts füllte sich auf. Die Überzeugung, nur so dastehen zu können, nackt und das monotone Geräusch der Dusche im Hintergrund, um miterleben zu können, wie Charlotte ihre in Worte gekleidete Energien aus sich herausschoss, gab mir ein gutes Gefühl. Ich löste meinen Blick vom Deckenlicht, beugte meinen Oberkörper etwas vor. Nun konnte ich mich in einem kleinen, goldgerahmten Spiegel sehen, der gegenüber an der Wand hing. Ich lächelte.
»Weiß sie überhaupt, was du alles auf dem Kerbholz hast?«, sagte Charlotte.
Ich verstand diesen Satz deutlich, aber er interessierte mich nicht. Noch vor wenigen Stunden hätte sie mich damit zutiefst getroffen. Nun nicht mehr. Ich lächelte weiter. Wie gut, dass es diesen kleinen Spiegel hier im Zimmer gab.
»Wenn du es nicht tust, so werde ich es ihr sagen.« Sie erschöpfte sich weiter. »Das viele Geld, das du verspielt hast, weiß sie davon? Und weiß sie auch, wer dieses Geld verdient hat? Weiß sie auch, dass der Wagen, den du fährst, von Onkel Samuel bezahlt wurde, nachdem du meinen zu Schrott gefahren hast? Aber das interessiert dich alles nicht. Du bist mich nun ja los. Das glaubst du zumindest. Doch so leicht ist es nicht! Darauf kannst du dich verlassen.«
Ich fand es angenehm, zu wissen, dass sie noch lange so weiterreden würde. Doch hoffte ich, ihre Oberfläche könnte sich bald soweit ausgedünnt haben, dass sie auf tiefer liegende Schichten zurückgreifen müsste, um weiter zu machen. Sicher war ich mir da allerdings nicht. Trotzdem, Kraft brauchte sie so oder so. Warum setzte ich mich nicht in einen Sessel? Nein, ich wollte mich nicht bewegen. Die Stille meiner Person musste unangetastet bleiben. Es durfte mich in gewisser Weise nicht mehr geben.
»Du forderst die Gemeinheit geradezu heraus«, fuhr Charlotte fort. »Du willst es eben nicht anders. Du kannst nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Es gibt auch so etwas wie eine Verantwortung. Davor hast du dich zwar immer gedrückt. Nur werde ich diesmal kein Verständnis für deine Drückebergereien haben. Diese Zeiten sind vorbei. Nun musst du Farbe bekennen. Ohne Gnade, verstehst du?«
Ich verstand sie klar und deutlich. Ohne Gnade! Aber ebenso klar und deutlich war mir jedes Wort, das sie sprach, gleichgültig. Sie verausgabte sich umsonst. Und sie spürte es. Darum machte sie immerzu weiter. Ich hätte zum Fenster hintreten können, um mit einer der Fliegen, die sich dort wie kleine Geschosse ins Glas hinein verflogen, zu sprechen, oder mit dem Stuhl, dem Tisch und was sich sonst noch so alles im Zimmer befand – tausend Antworten und Fragen brannten in mir, solange ich nur keine Silbe an Charlotte verschwenden musste. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich einen solchen Zustand von Entschlossenheit erreicht.
»Du wirst keine Ruhe mehr finden«, steigerte sie sich ins Reich der Drohungen hinein. »Ich werde euch auf Schritt und Tritt folgen, euch jeden Tag zur Hölle machen. Du kennst mich noch nicht richtig. Man sollte mich nicht auf diese Weise provozieren. Mach dich – macht euch also auf harte Zeiten gefasst!«
Meine Hand fuhr nieder und knallte den Hörer auf den Apparat. Sofort bereute ich es. Ich hatte mich gehen lassen. Schwäche hatte mich überrollt. Aber es war zu spät. Der leere Raum war zusammengeschrumpft. Ich selbst stand wieder da. Nackt, schwitzend. Klein und erbärmlich fühlte ich mich. Charlotte hatte mich besiegt. Ich war wütend, weil ich wütend war. Was für ein Teufelskreis! Ich holte aus und schlug mit dem Handrücken den Hörer herunter. Er baumelte am Spiralkabel hin und her, einen leisen, kaum hörbaren Summton ausstoßend. Dann rannte ich unter die Dusche und schrie dort, so laut ich konnte: »Du wirst mich in Ruhe lassen!«
Nach wenigen Minuten hatte ich mich wieder beruhigt. Ich zog mir eine frische Unterhose an und setzte mich in den Sessel. Doch der raue Stoff des Überzugs kratzte mich am nackten Rücken und ließ mich die Hitze im Raum bereits wieder deutlich spüren. Ich kam mir vor, als hätte ich nie geduscht. Meine Augen starrten gegen den Telefonhörer, der nun bewegungslos am Kabel hing.
Was war, wenn mich Martina anrufen wollte? Aber wozu sollte sie mich anrufen? Wir waren doch um neun Uhr verabredet. Sie könnte unsere Verabredung höchstens rückgängig machen wollen. Das hatte sie in den vier Wochen, in denen wir uns kannten, zwar nie getan. Und wenn Charlotte sie nun anrief? Wenn Charlotte ihr alles erzählte? Warum tat ich mir gegenüber die ganze Zeit so, als wüsste ich nicht, warum ich mich zu Martina so zurückhaltend benahm? Von mir aus sollte sie alles erfahren. Ich hatte Fehler gemacht. Nun war das nicht mehr so. Vorbei. Wenn sie an mich glaubte, so musste sie auch daran glauben. Einen anderen Weg gab es für uns nicht.
Um halb neun Uhr verließ ich das Haus. Es war noch immer taghell und eine unerträgliche Schwüle lag in der Luft. Ich hatte mich vor wenigen Minuten nochmals geduscht, und mein Körper roch nach frischer Seife. Eine stetig ansteigende Unruhe nagte in mir. Dieses Gefühl war nicht neu. In den letzten vier Wochen hatte ich es täglich erlebt.
Mein Wagen sprang an, und ich fuhr los. Durch die seitlich heruntergekurbelten Fenster strömte warmer Fahrtwind, der mir das Nackenhaar aufwirbelte. Ich nahm die eine Hand kurz vom Steuer weg, um damit in meiner Achselhöhle nachzuprüfen, ob ich nicht etwa schon wieder schwitzte. Bei dieser Hitze schien sich alles bloß noch um Flüssigkeiten zu drehen. Für den Notfall bewahrte ich im Handschuhfach ein Deodorant auf. Kein Fehler durfte mir unterlaufen. Zu viele hatte ich früher gemacht. Auch wenn es nun um eine ganz andere Sache ging, Martina durfte ich nicht verlieren. Ich überlegte, ob wir später nicht noch zu Samuel fahren sollten. Ich könnte ihm Martina doch endlich vorstellen. Über die Drohungen von Charlotte machte ich mir kaum mehr Gedanken. Sie war eine Angeberin. Was konnte sie gegen uns denn schon ausrichten? Bestimmt war sie nun noch wütender, weil ich mein Telefon blockiert hatte. Um selbst vorbeizukommen, war sie wohl zu feige. Gut, dass sie glaubte, Martina würde mich in meiner Wohnung besuchen. Das hielt sie sicher davon ab, bei mir aufzukreuzen.
Mein Entschluss war gefasst: Ich wollte so schnell wie möglich mit Martina über mein früheres Leben reden. Das klang natürlich fast so, als hätte ich etwas verbrochen. Unsinn war das. Damit hatte ich nie etwas zu tun gehabt. Sie davon zu überzeugen, würde mir sicher nicht schwer fallen. Und der Rest ergab sich von selbst. Wenn mir nur Charlotte inzwischen keinen Strich durch die Rechnung gemacht hatte!
Wie schon die ganze Woche, hatte ich mich auch heute mit Martina nur einige Schritte von ihrem Haus entfernt verabredet. Sie wohnte mit ihrer Mutter zusammen in einer kleinen Mietwohnung. Vermutlich wollte sie nicht, dass ihre Mutter mich sah. Darum durfte ich nicht direkt vor dem Haus parken. Anfänglich hatte mir das nichts ausgemacht. Doch inzwischen kam es mir so vor, als wollte sie mich vor ihrer Mutter verheimlichen. Martina stritt das mir gegenüber zwar ab. »Mutter ängstigt sich, wenn ich mit jemandem im Auto mitfahre«, hatte sie mir erklärt. »Und daher ist es besser, sie sieht deinen Wagen nicht.« Das verstand ich. Ich wäre dazu bereit gewesen, den Wagen weiter oben abzustellen und mich dann zu Fuß vors Haus zu begeben. Doch meine speziell für Martina erwachte Zurückhaltung ließ es nicht zu, ihr diesen Vorschlag zu unterbreiten. Es ging nicht um meinen Wagen,