Wilde Zeiten - 1970 etc.. Stefan Koenig

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Wilde Zeiten - 1970 etc. - Stefan Koenig


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eben ein typischer Postgewerkschaftler aussah. Seine Freundin, die achtzehnjährige Rosi, ein hellhäutiges, schlankes Blondinchen, trug ihre Haare schulterlang.

      Rolfs wochenlange Bemühungen, sich eine Mähne stehen zu lassen, scheiterten merkwürdiger Weise bei jedem neuen Frisörbesuch, was eine lange, ebenso merkwürdige Entschuldigung des Gescheiterten, hinter sich herzog.

      Darüber machte sich mit intellektuellem Humor mein alter Schulkamerad Richy regelmäßig lustig, der als Einziger von uns wallend lange Christushaare trug; dazu hatte er die passenden Jesus-Gesichtszüge, was ihm eine dauerhaft lächelnde Milde und eine gewisse Würde verlieh. Er konnte so schön leise und immer überzeugend reden. Auch wenn er sich über etwas belustigte, klang es nie gemein oder gar gehässig. Im Gegenteil, es klang wie ein zarter göttlich-köstlicher Hinweis.

      Meinen 181 Zentimetern standen Karins zierliche 164 Zentimeter gegenüber. Meine gelegentlich mit Wasserstoffperoxyd aufgeplusterten dunklen Haare wurden von einem Schnauzer und manchmal von einem Vollbartversuch ergänzt und umrandeten meine allzu scharf geratene Nase, unter der – dem Herrgott sei’s gedankt – kein typisch männliches schmallippiges Plappermaul zugange war. Mit meinen Lippen war ich sehr zufrieden und Karin auch. Karin trug ihre volle, brünette Haarpracht halblang und hatte verführerische Kurven, die sie ohne Gewissensbisse einsetzte, um irgendwelche abstrusen Sympathisanten für ihren Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung zu gewinnen.

      Zeit für Wohngemeinschaften

      Eine Woche vor Jahreswechsel war Jean-Francois, genannt Frankholz, zu Besuch gekommen. Ich ahnte bereits, dass er bleiben würde. Und so war es auch. Er war ein typischer Franzose, trug Cordhose und stets Hemd, manchmal ein Jackett, und er war wirklich nett und konnte gut kochen. Seine Brille und seine etwas gelockten wirren Haare machten aus ihm einen ausgeflippten Akademiker, der stets auf Durchreise und auf der Suche nach der Weltformel schien. Nun also waren wir eine Siebener-WG, und wenn wir alles teilen würden, wären wir eine Siebener-Kommune. Darüber mussten aber erst noch einige klärende Diskussionen geführt werden. Wir hatten Zeit und wir ließen uns zur Klärung Zeit.

      Jeder hatte eine Arbeit und wir beschlossen, vorerst zu gleichen Teilen in eine Gemeinschaftskasse einzuzahlen. Der Betrag für die Miete war nach Zimmergröße gestaffelt. Die Gemeinschaftsräume wurden zu gleichen Teilen aufgeteilt. Blieben noch Strom, Telefon und Lebensmittel.

      Die Zimmeraufteilung ging problemlos. Wir hatten ja bereits spontan bei Einzug entschieden, und jeder war zufrieden gewesen. Wenn nun jemand neu in die WG aufgenommen wurde, stand natürlich nicht jeder Raum zur Disposition sondern nur der frei gewordene. Tommis Freundin Rosi stellte dieses „Naturprinzip“, wie Rolf es einmal getauft hatte, in Frage. Tommi und ich hatten ihr Paroli geboten, aber jetzt – bei sieben Personen – sahen wir ein, dass wir neu aufteilen mussten, und es kam uns beiden gar nicht so ungelegen. Tommi und Rosi zogen gemeinsam in eines der großen Zimmer, Karin und ich in das andere.

      So kamen wir alle problemlos in der Fünf-Zimmer-Wohnung unter. Als Gemeinschaftsraum mit Fernseher und sauteurer Blaupunkt-Stereoanlage diente uns der riesig große Flur, der mit unserer Gemeinschaftsküche eine räumliche Einheit bildete und gar nicht wie ein Flur wirkte.

      Während wir heiß über Rolfs gescheiterte Beziehung, über Besitzansprüche, Egoismus, Neid und Eifersuchtsprobleme diskutierten, bereitete der oberbayrischen Stadt Laufen, der Quiny entstammte, eine Anti-Kriegsparole Kopfzerbrechen. Ein Unbekannter – oder war es gar ein heimliches und heimisches Revoluzzerweib? – hatte mittels gut haftender Farbe einen Kampfspruch aufs alte Stadttor gesprüht. Nachdem der Bürgermeister Anzeige wegen Sachbeschädigung gestellt und die Polizei ergebnislos nach dem Täter gefahndet hatte, beschäftigten sich jetzt auch die Stadträte mit dem Spruch auf der geschichtsträchtigen Pforte:

      „Vietnam 150.000 Tote – Amis raus!“

      In einem Antrag an den Rat hatte der evangelische Ortspfarrer Dr. Hohenberger, 47 Jahre alt, gefordert, die Parole nachträglich zu genehmigen und als improvisiertes Mahnmal „gegen einen der schmutzigsten Kriege der Menschheit“ zu erhalten. Pfarrer Hohenberger: „Ein solches Mahnmal fehlte leider bisher in Laufen. Jetzt haben wir eins. Noch dazu kostenlos!“ Davon jedoch wollten die ehrenwerten konservativen Stadtväter nichts wissen. Der Antrag wurde einstimmig abgeschmettert. Quiny hätte den Stadträten gewiss literweise Bier über die Seppelhosen gekippt … hätte, hätte, Fahrradkette.

      *

      „Hier werden Sie von Willy Brandt gefahren!“ Mit diesem Slogan an der Windschutzscheibe sollte auf Vorschlage eines stern-Reporters der Namensvetter des Bundeskanzlers, Taxifahrer Willy Brandt aus Bonn, für sein Unternehmen werben. Um die Wettbewerbsgleichheit nicht ins Schleudern zu bringen, verzichtete der Droschkenbesitzer jedoch auf diese Art von Public Relation. Nachher würde vielleicht der Kanzler mit der Parole „Hier regiert Sie ein Taxifahrer“ werben; wir Ex-Frankfurter lachten uns schepp, wie man in unserer Heimatstadt so schön sagte – aber wie konnten wir damals wissen, dass Jahre später tatsächlich ein Taxifahrer als Außenminister regierte?

      Dass der im vergangenen Oktober neu gewählte Bundeskanzler Gas gab und die als „Zone“ verpönte DDR anerkennen wollte, machte uns Mut. Entspannungspolitik konnte die Kriegshetzer entwaffnen. Entwaffnend freundliche Ostpolitik konnte dem inneren wie äußeren Frieden nur nützlich sein. Für viele Erzkonservative war das aber zunächst verwunderlich. Doch große Teile der Bevölkerung waren des langen Wartens auf ein Zeichen der überfälligen Grenzöffnungen müde und wollten endlich eine realistische Politik.

      Mein guter altsozialdemokratischer Vater Otto schrieb in einem Brief Anfang Januar: „Mein lieber Sohn, es wird Zeit, dass man verhandelt. Das finde ich gut an unserer neuen Regierung. Jedem Vernünftigen muss klar sein, dass man die Existenz eines zweiten deutschen Staates nicht wegwischen und übersehen kann …“

      Ich hätte ja gerne gewusst, welcher Partei meine Eltern im September letzten Jahres bei der Bundestagswahl ihre Stimme gegeben hatten. Ob sie Willy Brandts SPD gewählt hatten? Als ich Vater gefragt hatte, berief er sich auf das Wahlgeheimnis: „Das nehme ich ernst!“

      Mutter sagte, dass sie nach dem Wahlgang traditionsgemäß ins Wirtshaus gegangen seien. „Weißt du, was ich da gewählt habe? Rippchen mit Sauerkraut!“

      Otto schrieb noch etwas zur neuen Ostpolitik, was ich gut fand: „Brandt macht eine Politik des Realismus. Das ist längst überfällig. Auch die Aussöhnung mit den Russen. Wir haben denen viel Leid zugefügt. Und der ostdeutsche Staat ist ein Produkt des Nazi-Krieges. Man muss das anerkennen, man muss den Tatsachen ins Auge sehen.“

      Tja, den verdammten Tatsachen ins Auge sehen. Das fällt manchmal schwer. Insbesondere, wenn es um die Liebe geht. Irgendwann später rief Quiny an. Erst war Rolf am Apparat. Ein Gedöns machte der! „Blöde Schlampe! – Wortbrüchiges Luder! – Untreues Weib! – Bleib wo der Pfeffer wächst!“, brüllte er in den Hörer. Ich befürchtete, dass er unseren teuren neuen Telefonapparat auf den Boden pfeffern könnte und machte ihm ein Handzeichen, mich ran zu lassen und sich zu beruhigen.

      „Mach mal auf Entspannungspolitik!“, rief ich ihm zu. Er zog eine Fratze, gab mir den Hörer und verzog sich in sein Zimmer, ließ aber die Tür einen Spalt offen.

      „Kannst du Rolf bitten, dass er meine Sachen zusammenstellt, damit ich sie morgen abholen kann?“, fragte Quiny. Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Weißt du, im Moment kann ich nicht vernünftig mit ihm reden.“

      „Ich versuch‘ mein Bestes“, beruhigte ich sie. „Ich bin jedenfalls da. Vielleicht hat Rolf morgen eine Verabredung …“. Das sagte ich besonders laut in Richtung der angelehnten Tür. „Dann braucht ihr euch nämlich nicht zu begegnen und eure emotionalen Tretminen werden nicht scharf gemacht.“

      Apropos Minen: Willy Brandt würde der DDR-Regierung Verhandlungen über eine Entschärfung der sogenannten Todesgrenze und über beidseitige Gewaltverzichts-Erklärungen vorschlagen, berichtete entrüstet ein CDU-INTERN-Pamphlet; das war so etwas wie eine stille Post für konservative Scharfmacher. Das wäre doch Verrat. Purer Verrat!

      Wie


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