Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig

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Crazy Zeiten - 1975 etc. - Stefan Koenig


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Medizintechnik überbrachte.

       Es war eine kuriose Situation, denn der Typ war manchmal durchsichtig. Ich konnte durch ihn hindurchsehen. Dann sah ich hinter ihm ein Einmachglas stehen, in dem ein Embryo lag. Der Student lachte und sagte: Ich habe das Baby vor den GI’s gerettet.

       Ich sah eine Whiskyflasche und begann wieder zu trinken. Dann legte ich mich noch einmal neben Peggy und schlief.

       2. Februar: Peggy ist ausgezogen.

      Rolf hatte den stern abonniert. Vielleicht hatte Peggy die erste Januar-Ausgabe des stern als Aufforderung an sich selbst verstanden. Die Titelgeschichte lautete: »Frauen machen mobil – Kinderzimmer, Heim und Herd sind kein ganzes Leben wert«. Statt „Kinderzimmer“, für das es noch keinen Anlass gab, hatte Peggy wahrscheinlich „Alkohol“ eingesetzt.

      Von Rolfs Drama – eigentlich war es auch Peggys Drama – ahnte ich auf dem Weg zum Zoco Chico nichts. Auch nichts von Tommis Drama bei seiner Poststelle. Es war völlig anderer Natur. Es war ein permanentes Nervendrama, bei dem sich Tommi zu behaupten wusste. Ein Vorgesetzter war bei der morgendlichen Sortierarbeit an ihn herangetreten.

      „Lettau, ich habe eben mitgestoppt. Sie haben dazu 36 Minuten gebraucht.“

      Tommi gab ihm keine Antwort.

      „Ist Ihnen bekannt, welche Zeitvorgabe hierfür eingeplant ist?“

      „Nein.“

      „Sind Sie schon lange hier?“

      „Etliche Jahre.“

      „Und Sie kennen die Norm nicht?“

      „Nein.“

      „Sie verteilen die Post in die Verteilerkästen, als sei sie Ihnen völlig gleichgültig.“

      Tommi schaute sich um; er war mit seiner Verteilung fertig und die anderen waren noch am Einsortieren der Briefe. Der Antreiber stand vor den Blechkästen und zeigte mit dem Finger auf sie. „Sehen Sie die Zahl hier vorne am Kasten?“

      „Klar doch.“

      „Was sagt Ihnen diese Zahl?“

      Tommi zuckte mit den Schultern.

      „Diese Zahl sagt Ihnen, wie viele Briefe Sie pro Minute einzusortieren haben. Ein 75-cm-Behälter muss in 29 Minuten geleert sein. Sie haben sieben Minuten länger gebraucht, als die Norm vorschreibt.“

      Er zeigte auf die 29.

      „Für mich hat die 29 nichts zu bedeuten.“

      „Was meinen Sie damit?“

      „Das soll heißen, dass irgendein Bürokrat auf eigene Faust oder auf Geheiß irgendeines anderen Sesselfurzers hier vorbeikam und nach dem Zufallsprinzip eine 29 anklebte.“

      „Das sehen Sie völlig falsch. Die 29 ist das Ergebnis jahrelanger Erfahrungen und Durchschnittsberechnungen.“

      Wozu wurde hier ein Aufstand geprobt, fragte sich Tommi und gab ihm keine Antwort.

      „Ich werde das protokollieren müssen für Ihre Personalakte, Lettau. Sie müssen dann zu einer Belehrung.“

      Ein paar Tage später betrat Tommi das Büro, um sich belehren zu lassen. Da saß ihm wieder einmal der Gewerkschaftskollege Schöll gegenüber, diesmal als Vertreter der Arbeitgeberseite. Er hatte einen breiten Kopf, eine breite Boxernase, ein breites Kinn. Der ganze Kerl sah aus wie ein breitschnauziger Boston Terrier.

      „Setzen Sie sich, Kollege Lettau.“

      „Lassen Sie das am Besten!“

      „Was lassen?“

      „Das mit dem Kollegen!“, sagte Tommi.

      Schöll hatte eine Menge Papiere in der Hand, die er nun mit wichtigtuerischer Mine überflog.

      „Lettau, Sie brauchen 36 Minuten, um einen 29-Minuten-Behälter zu leeren. Das ist entschieden zu lang!“

      „Mensch Meier, bleiben Sie mir mit dem Scheißdreck vom Hals. Ich könnte kotzen.“

      „Wie?“

      „Ich habe gesagt, Sie sollen mir mit diesem Scheißdreck vom Hals bleiben! Ich unterschreibe Ihren komischen Belehrungswisch und damit basta. Sie sparen Zeit. Ich spare Zeit.“

      „Meine Amtspflicht im Interesse unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates und der Allgemeinheit, insbesondere aber im Interesse der Deutschen Bundespost ist es, Sie hier und heute zu belehren!“

      Tommi stöhnte auf, wie ein Mann nach einem Orgasmus. Den Orgasmus bekam wahrscheinlich jedoch Schöll.

      „Wegen mir. Schießen Sie los. Was haben Sie so Großartiges zu sagen?“

      „Jeder Ihrer Kollegen muss hier für die Allgemeinheit der Steuer- und Gebührenzahler, von denen Sie Ihren Lohn beziehen, eine Mindestleistung bringen, Lettau.“

      „Gewiss.“

      „Wenn Sie also nicht die Leistung bringen, muss jemand anderes Ihre Post erledigen. Das bedeutet Überstunden.“

      „Wollen Sie andeuten, dass ausgerechnet ich für die zwei Überstunden, die Sie sich fast jeden Tag unberechtigt aufschreiben, verantwortlich bin?“

      „Lassen Sie sich gesagt sein: Sieben Minuten machen bei vier Leerungsarbeiten pro Tag schon eine halbe Stunde aus. Was glauben Sie, wer die ableistet?“

      Tommi schaute, nein stierte ihn an und legte los: „Sie machen es sich zu einfach. Und Sie wissen, dass es eine Milchmädchenrechnung ist. Jeder Behälter ist fünfundsiebzig Zentimeter lang. In manchen sind viele Briefe, in anderen weniger, in manchen sogar dreimal so viel wie in anderen. Das macht etwas aus! Die Kollegen schnappen sich die Behälter mit der günstigsten Befüllung. Das Wettrennen am Morgen spare ich mir. Irgendjemand muss ja letztendlich doch die übervollen Behälter abarbeiten. Doch ihr Aufpasser wisst immer nur, dass jeder Behälter fünfundsiebzig Zentimeter misst und in neunundzwanzig Minuten geleert sein muss. Wir stecken aber nicht die Behälter in die Sortierfächer, sondern die einzelnen Briefe. Und jeder einzelne Brief kommt jeweils in das dazugehörige Straßenfach. Können Sie mir folgen?“

      „Sie sind ja ein ganz Schlauer. Aber nein, nein, man hat alles genau über Jahre hinweg berechnet.“

      „Wer immer das berechnet hat, hat noch nie etwas von Adam Riese gehört. Man kann bei einer Stoppuhraktion nicht nur EINEN Behälter überprüfen. Man muss nach zehn oder zwanzig oder noch mehr Behältern die Leistung eines ganzen Morgens oder gar Tages beurteilen. Nur dann erhält man einen mathematisch relativ sauberen Durchschnitt. Alles andere ist statistischer Dünnschiss. Ihr supertreuen Hofhunde eurer Spitzenbeamten klammert euch doch nur an diese Zahl 29, um so unliebsame Mitarbeiter wie mich fertigzumachen. Weil Leute wie ich euch an die echten gewerkschaftlichen Ziele erinnern und ihr ein schlechtes Gewissen habt.“

      „Nun gut, Lettau, Sie hatten Ihre Chance und haben ihre bekannten Sprüche brav aufgesagt. Aber jetzt rede ich, und ich sage Ihnen: Sie brauchen sieben Minuten zu lange, um einen Behälter einzusortieren. Das, und NUR das zählt für uns. Wenn Sie noch einmal bei diesem Zeitbetrug erwischt werden, wird man Sie zu einer erweiterten Belehrung laden!“

      „Es bleibt noch eine wichtige Frage zu klären.“

      „Bitte.“

      „Wenn ich einen Behälter mit wenigen Briefe bekomme, was gelegentlich der Fall ist, und wenn ich ihn in zehn statt in neunundzwanzig Minuten sortiere, kann ich dann die überschüssigen neunzehn Minuten in die Kantine gehen und bei einem Kaffee Zeitung lesen, um danach wieder an die Arbeit zu gehen?“

      Jetzt stierte Schöll Tommi an und brüllte: „Nein, Sie müssen dann sofort mit einem neuen Behälter beginnen und ihre Kollegen entlasten!“

      Tommi unterschrieb den mit Kaffeeflecken verkleckerten Wisch, den Schöll ihm über den Tisch zuschob. Darin stand, dass Schöll ordnungsgemäß


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