Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig

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Crazy Zeiten - 1975 etc. - Stefan Koenig


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des Kapitalismus zu ärgern, und sie erzählte ihm von unserem Kampf um die Rettung Sveas.

      *

      John hatte vorgeschlagen, wir sollten auf den Zoco Chico zurück, um nach den drei Holländerinnen zu suchen, die uns zum Jardins des Tanger geführt hatten. Immerhin waren sie außer dem Jugendherbergswirt die einzigen, die bisher unmittelbar mit Svea zu tun hatten. Wir fanden die drei prompt vor genau der Bar, wo wir sie bereits zuvor angetroffen hatten.

      „Fehlt jemand aus eurer Gruppe?“, fragte Sören. „Ich meine, fehlt eine Frau?“

      Die drei Mädels begannen ihre Freundinnen aufzuzählen, konnten sich aber weder darauf konzentrieren, noch auf eine Erkenntnis einigen. Es lag wohl an dem Stoff, den sie gerade geraucht oder in Form von Plätzchen gegessen hatten. Sören schob sie kurzentschlossen in Wolles Bulli und wir fuhren mit ihnen zurück zum Krankenhaus. Gerade als wir hineingingen kam uns die Oberschwester entgegen. „Sie ist tot.“

      Sie führte uns in das Kellergeschoss mit dem Kühlraum, wo die junge Frau bedeckt mit einem weißen Laken dalag und ihr frei gelassenes Gesicht das Elend offenbarte: eingefallene Wangen, hervorstehende Backenknochen, verbraucht, Endzustand eines Drogenlebens. Die Holländerinnen sagten sofort, dass dies Olivia sei.

      Kommissar Hassan zog das Laken beiseite und fragte: Olivia wer?“

      „Sie ist aus Stockholm.“

      „Und ihr Nachname?“

      „Olivia, aus Stockholm.“

      Hassan schaute auf die Armvenen der Toten, deckte sie wieder zu, sah uns irgendwie ausdruckslos an und sagte dann nur ein Wort: „Heroin“.

      Auf der Rückfahrt ins Zentrum saß ich im Polizeiauto hinten, neben John und bemerkte, wie er zitterte. Ich wollte ihn trösten und ihm meine Hand auf den Arm legen, aber er drehte sich zur Seite und ich hörte ihn schluchzen. Im Hotelzimmer ließ er sich aufs Bett fallen, vergrub sein Gesicht im Kissen, drehte sich dann langsam zu mir und fragte wieder einmal: „Können wir sie noch finden?“

      Diesmal konnte ich nicht mit „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ antworten. Ich zuckte mit den Schultern und sagte: „Wir können sie suchen und finden, egal was mit ihr ist, aber wir MÜSSEN sie finden – und wir WERDEN sie finden!“

      „Hast du eine Idee, what to do now, Sören?“, fragte Stella.

      „Eine Idee hab‘ ich noch“, antwortete er.

      Ich muss ehrlich sagen, dass ich nur noch in ihm, der sich zweifellos an Sveas Zustand – jedenfalls in den letzten Monaten – mitschuldig gemacht hatte, eine Hoffnung sah.

      „Und die wäre?“, fragte ich.

      „Ich kenne einen Kellner in einer anrüchigen Bar nahe am Zentrum. Er ist zwar der korrupteste Bursche in ganz Marokko. Aber was soll’s! Lasst uns jetzt ausruhen. Die Bar öffnet erst gegen 23 Uhr. Wer weiß, wie lang die Nacht für uns wird. Der Typ ist unsere letzte Chance.“

      Kurz vor 23 Uhr liefen wir zu fünft – Stella, Jan-Stellan, Sören, John und ich – über den hell erleuchteten und voll belebten Zoco Chico. Viele Studenten mit teils noch langen Haaren wie zu guten alten Hippiezeiten, Junghippies und ältere, mehr oder minder aus der Bahn geworfene Weltenbummler trieben sich hier herum. Eigentlich wollten viele von ihnen weiter gen Süden, nach Marrakesch, doch sie waren hier in Tanger hängengeblieben, hohläugig, ohne Geld, verwahrlost, von der Hand in den Mund lebend.

      Sören ging auf eine auffallend beleuchtete Bar zu, deren Werbung um Besucher auf dem Dach mit Farblichtern wie aus Tausendundeine Nacht anmutete. Drin­nen nahmen wir an einem Ecktisch in einer Nische Platz, die wie ein Séparée erschien, denn links und rechts war ein Seidenvorhang zum Zuziehen angebracht. Eine Wasserpfeife stand auf dem Tisch. Sören ging zur Theke.

      Er kam mit einem Kellner zurück, dessen Alter zwischen Ende Zwanzig und Ende Dreißig liegen konnte. Vielleicht war er auch schon Ende Vierzig, schwer zu schätzen, ein ziemlich undefinierbarer Typ. Er war mir nicht gerade sympathisch.

      „Seien Sie herzlich willkommen, meine Herren!“ Stella übersah er geflissentlich. „Sie kommen mit meinem guten Freund Sören, dem ich vertrauen kann. Und so vertraue ich Ihnen und empfehle Ihnen eine Reise in das libanesische Paradies. Beste Ware.“

      „Wie?“, fragte Jan-Stellan.

      „Ich biete nur das Beste“, sagte der Kellner und zwinkerte süffisant lächelnd.

      „Was?“, fragte Jan-Stellan erneut.

      „Marihuana!“ Der Mann sah uns erwartungsvoll an. „Natürlich verdammt gutes Kraut.“

      „Azza“, sagte Sören und zog den Kellner näher zu sich heran. „Wir haben nur Eines im Sinn: Wo finden wir unsere Freundin Svea?“ Azza konnte wohl nichts mit dem Namen anfangen, deshalb fuhr Sören fort: „Sie ist eine junge Dänin, zweiundzwanzig Jahre alt. Tochter eines dänischen Diplomaten im Libanon. Er zahlt gut, wenn wir sie lebend wiederfinden.“

      Das war zwar eindeutig geschwindelt. Über Sveas Elternhaus wussten wir absolut nichts. Aber es war legitim, dem Bakschisch-empfänglichen Araber den Mund wässrig zu machen.

      „Wir telefonieren am Abend mit ihm. Er macht sich große Sorgen um seine Tochter. Er zahlt, wie er bereits sagte, alle Auslagen, die entstehen“, warf ich, ohne rot zu werden, ein.

      „Und wenn er nicht zahlt?“, fragte Azza hinterlistig.

      „Dann zahle ich!“ Wieder wurde ich nicht rot.

      Azza war es zufrieden. Ein zahlungskräftiger Deutscher hier vor Ort und für ihn greifbar, schien ihm eine Anstrengung wert. Doch zu unserer Enttäuschung sagte er: „Ich kenne so ein Mädchen nicht. Skandinavierin? Seht euch selbst um: Es gibt hier Hunderte, und sie sehen sich alle sehr ähnlich. Aber ich werde für euch Erkundigungen einholen. Vielleicht will es der Zufall und …“ Er brach ab, weil ein anderer Kellner für jeden von uns einen Mokka und ein Glas Wasser brachte.

      Dann setzte er sich zu uns und ließ sich alles erzählen, was er über Svea wissen musste, ihre Aufent­haltsorte und Hotels, die Männer, die man bei ihr gesehen hatte, die tote Schwedin, die mit ihrem Pass unterwegs gewesen war. Mit diesen Informationen verließ er uns, und wir verließen die Bar, um später zurückzukommen. Es war jetzt dreißig Minuten nach Mitternacht.

      Wir drehten noch eine Runde über den Zoco Chico und studierten das Milieu intensiver als vorher. In Marrakesch, auf dem Djemaa, schien eine wesentlich entspanntere Atmosphäre vorzuherrschen als hier. Wir sahen hier echtes Elend und durchgängig eine Art hilfloser Apathie unter den nichtarabischen Jugendlichen. Sie hatten sich zu dem großen Abenteuer einer Reise ins Land ihrer Rauschträume aufgemacht und waren in Tanger tief enttäuscht hängengeblieben.

      Um Marrakesch zu erreichen, bedurfte es ausreichenden Geldes, gleichwohl hier alles sehr billig war. Es verlangte jedoch hauptsächlich Willenskraft und Ausdauer und die Möglichkeit, unterwegs etwas dazu zu verdienen, wenn die Reserven erschöpft und die Eltern nicht mehr zahlungsbereit oder nicht mehr erreichbar waren.

      Anders verhielt es sich, um nach Tanger zu kommen. Da reichte ein einfaches, erschwingliches Ticket für die spanische Fähre. Wir sahen in dieser Nacht all jene, die es zwar nach Tanger, aber keinen Schritt weiter geschafft hatten. Und nun fehlte ihnen das Geld für die Fähre zurück. Zwei Jungs und ein Mädel aus München im Alter von zirka fünf- oder sechsundzwanzig Jahren setzten sich zu uns und meinten, dass das 1975er-Tanger von heute lange nicht mehr das wäre, was es noch zur alten Hippie-Aufbruchzeit vor sieben Jahren gewesen wäre.

      Wir erzählten ihnen, weshalb wir hier seien, stießen jedoch auf keinerlei näheres Interesse der Drei, die offenbar zu jenen hoffnungslos in dieser Stadt Hängengebliebenen zählten.

      „Das passiert jeden Tag“, sagte einer der Jungs. „Sie wird schon wieder auftauchen.“ Dann lenkten sie das Gespräch auf ein anderes Thema. Vielleicht hatten sie die Erfahrung gemacht, dass es besser war, wenn sie sich nicht in solche Affären einmischten.

      John


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