Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl

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Ströme meines Ozeans - Ole R. Börgdahl


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vor einem Jahr waren wir gerade auf unserem Spaziergang und dann bin ich an dem großen Stein mit meiner Julie niedergekommen. Eine halbe Stunde später war auch Thérèse auf der Welt. Die beiden schlafen jetzt nebenan, ich habe eben gerade noch an ihrem Bettchen gestanden und diesem Moment gedacht. Den Geburtstag feiern wir natürlich erst morgen Nachmittag, wenn Victor vom Dienst zurück ist.

      Papeete, 26. März 1896

      Ein Brief von Anne. Ich habe mich schon gefragt, warum sie nicht schreibt, wo sie doch an meinen letzten Tagen in Frankreich so sehr meine Nähe gesucht hat. Sie gratuliert den Mädchen zum Geburtstag. Erst im zweiten Absatz schreibt sie von diesem Mann. Sie trifft sich weiterhin mit ihm, sie scheint weiterhin für ihn zu schwärmen. Ich erinnere mich, dass Annes Liebhaber, denn so muss, ich ihn wohl nennen, dass dieser Mann noch verheiratet ist und dass seine Frau sogar ein Kind erwartet. Ich hatte den Eindruck, dass Anne mir noch mehr anvertrauen wollte, aber ihr Brief nimmt plötzlich eine andere Wendung. Sie schreibt über Pierre und Jacques. Sie hat ihren Brüdern meine Adresse geschickt. Den beiden geht es gut. Die Fabrikarbeit haben sie aufgegeben und sind dafür jetzt bei einem Weinhändler in Lohn und Brot. Pierre arbeitet im Lager und Jacques im Versand. Dann gibt es noch Grüße von ihren Eltern, von Tante Carla und Onkel Joseph.

      Papeete, 2. April 1896

      Victor hat am Montag an einer Jagd teilgenommen. Ich hatte ja schon einmal von den wilden Ziegen berichtet, die sich an den Hängen des Orohena tummeln. Ein paar Mal im Jahr werden sie geschossen, damit sie sich nicht zu sehr vermehren. Ich weiß nicht, ob Victor die Ziege wirklich selbst erlegt hat, denn er hatte nur sein altes Chassepotgewehr zur Jagd mitgenommen. Zumindest aber hat er uns frisches Fleisch mit nach Hause gebracht. Es war so viel, dass Fanaa einiges in ihrer Gemeinde verteilen durfte.

      Papeete, 14. April 1896

      Ich habe kaum daran gedacht und schon werde ich erhört. Mutter sollte ja noch die fehlenden Ausgaben des Cosmopolitan mit den übrigen Dschungel-Abenteuern schicken. Dabei hat sie in Liverpool das beinahe druckfrische Buch gefunden, in dem alle Geschichten enthalten sind. Eine wunderschöne Ausgabe und die Bilder sind noch wirkungsvoller, noch viel lebhafter als im Cosmopolitan. Bei dem Klima in diesem Teil der Welt ist ein Buch mit seinen dickeren Seiten etwas angebrachter als die dünnseitigen Magazine, die sich schnell abgreifen. Drucksachen müssen allerdings immer trocken gelagert werden, damit sie nicht zu feucht werden oder gar verschimmeln. Meine Bibliothek bewahre ich daher in einem Schrank auf, in den einige Säckchen mit Reiskörnern gelegt sind. Diesen Trick kenne ich von Salzstreuern. Mutter hat in ihrem Brief noch einen Namen erwähnt, der mir gleich bekannt vorkam. Victor hatte auch gleich die Lösung und sagte mir, dass wir den Herrn vor fast zwei Jahren in Rouen gesehen haben und dann fiel es mir ebenfalls wieder ein. Vater hat mit Monsieur de Dion Bekanntschaft gemacht, dessen Dampfwagen damals als Erster und schnellster das Ziel bei der Wettfahrt Paris-Rouen erreicht hatte und daher der eigentliche Sieger des Rennens war. Da dieses Gefährt allerdings nicht dem Reglement entsprach, wurde ihm nur der ehrenvolle zweite Platz anerkannt. Monsieur de Dion hat anscheinend andere Ziele als die, Automobilrennen zu gewinnen. Mutter berichtet, dass Vater eine nicht unerhebliche Summe gespendet hat, um Monsieur de Dion bei der Gründung eines Automobil-Clubs zu unterstützen. Mutter schreibt, dass sie gänzlich gegen diese Ausgabe gewesen sei, weil Vater derzeit weder in Frankreich lebt, noch selbst ein Automobil fährt oder besitzt. Außerdem reiche es ihr, dass ein Fußballverein von Vaters geschäftlichen Erfolgen profitiert. Vielleicht werde ich Monsieur de Dion einmal schreiben und ihn bitten, ein paar Automobile nach Tahiti zu schicken. Ich würde dann auch Mitglied in seinem Club werden, wenn es Vater nicht schon stellvertretend für die ganze Familie ist. Dann noch eine dritte Sache, über die Mutter schreibt und die sie sogar mit einem Exemplar des La Nature belegt. Im Gare Montparnasse hat es ein Zugunglück gegeben, das, so schrecklich es anmutet, auch recht kurios erscheint. Das Kuriose daran sind die Zeichnungen, die den verunglückten Zug skizzieren. Die Lokomotive hat im Bahnhofsgebäude nicht nur den ihr bestimmten Prellbock, sondern auch den angrenzenden Bahnsteig überfahren und ist schließlich durch die große Glaswand gestoßen, die hinaus auf den Platz vor dem Bahnhof führt. Auf einer Zeichnung ist die Lokomotive zu sehen, wie sie von der oberen Galerie gerutscht ist. Mit dem Tender hing sie noch auf der Galerie, während sich der vordere Teil schräg auf dem Place de Rennes stützte. Im Bahnhof selbst blieb der Rest des Zuges unversehrt und war noch nicht einmal entgleist, sodass es unter den Passagieren nur wenige Verletzte gab. Solch ein Spektakel gibt es auf Tahiti nicht und es ist vielleicht auch ein Glück, denn es war auch ein Todesopfer zu beklagen. Es war eine Zeitungsfrau, die unten auf dem Place de Rennes von der stürzenden Lokomotive erschlagen wurde. Das Ganze ereignete sich schon Ende Oktober letzten Jahres.

      Papeete, 26. April 1896

      Bisher ist Victor in dienstlichen Angelegenheiten immer auf Tahiti geblieben. Dies wird sich im Mai oder Juni ändern, er muss eine Reise zu anderen Inseln des Protektorats antreten. Zum Glück soll er nur wenige Tage unterwegs sein. Das Ziel sind die Inseln der Marquesas-Gruppe. Er wird die dortigen Militäreinrichtungen inspizieren.

      Papeete, 6. Mai 1896

      Fanaa hat mir heute ein Geschenk überreicht. Es ist ein Ziegenfell. Wir hatten ja damals, nach Victors Jagd, nur einen kleinen Teil für einen Braten behalten. Fanaa hatte das fast unversehrte Tier mitgenommen und das Fleisch in ihrer Gemeinde verteilt. Irgendjemand hat das Ziegenfell dann gegerbt und getrocknet und die Ränder kunstvoll vernäht. Es ist eine richtige kleine Decke daraus geworden, eine Felldecke. Das Fell ist so schön weich, dass wir es auf die Bastmatte gelegt haben, auf der Julie und Thérèse immer sitzen.

      Papeete, 14. Mai 1896

      Victor weiß jetzt, dass er am 22. Mai abreisen wird. Aus den wenigen Tagen sind jetzt aber zwei bis drei Wochen geworden, was auch daran liegt, dass die Fahrt zu den Marquesas fast eine Woche dauert. Wir haben ja schon einmal eine viel längere Trennung überstanden und werden auch dies überstehen.

      Papeete, 22. Mai 1896

      Großer Abschied. Die Mädchen begreifen zwar noch nicht, dass Victor am Abend nicht wieder zu Hause sein wird, aber sie wissen wohl schon, dass heute etwas anders ist als sonst. Wir sind nämlich mit zum Hafen gefahren und haben den Papa zum Schiff gebracht. Die Zeit wird schon vergehen und ganz bald stehen wir erneut am Quai und holen Victor wieder ab.

      Papeete, 3. Juni 1896

      Für Thérèse und Julie gibt es seit einiger Zeit ein neues Spielzeug. Irgendjemand hat einen Stoffball mitgebracht und die beiden haben ihn für sich entdeckt. Sie rollen das Ding vor sich her, greifen danach und sind ganz groß darin, es der anderen wegzunehmen. Ich werde einen zweiten Ball besorgen müssen. Noch gibt es zwar keinen richtigen Streit, aber das kann ja noch kommen. Fanaa und ich haben jetzt auch eine Ecke des Zimmers mit einem Zaun abgeteilt. Thérèse und Julie krabbeln einfach zu schnell und häufig laufen sie auch schon und sie erzählen sich Geschichten, die wir aber immer noch nicht verstehen. Victor ist jetzt schon die zweite Woche fort. Ich erhalte leider auch keine Nachrichten von ihm, weil das Dampfschiff erst mit Victor wieder von den Marquesas zurückkehrt.

      Papeete, 12. Juni 1896

      Nach fast genau drei Wochen sehen wir den Papa wieder. Victor ist wohlbehalten zurück. Wie versprochen bin ich mit den Mädchen zum Hafen gefahren und wir haben dort auf das Einlaufen des Dampfschiffes gewartet. In Europa wäre Victors Reise eine Reise über den halben Kontinent gewesen. Die Marquesas-Inseln liegen über tausend Kilometer von Tahiti entfernt und dies alles mit einem so kleinen Dampfschiff. Bei Victors Abreise hatte ich schon ein wenig Angst, wo der gewaltige Ozean doch eigentlich nur mit einem seetüchtigen, großen Schiff durchfahren werden sollte. Es ist alles gut gegangen und Victor hat mich auch im Nachhinein beruhigt, es sei alles völlig ungefährlich. Er ist auf der Insel Nuku Hiva sogar einem Kapitän aus dem amerikanischen Bosten begegnet, der mit seinem Segelboot und dazu noch ganz alleine fast alle Weltmeere durchfahren


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