Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten. Christian Springer
Читать онлайн книгу.Opernhaus mit einem hohen künstlerischen Standard, das auf eine glanzvolle Tradition zurückblicken kann. Im 18. Jahrhundert hatte Neapel mit den am dortigen Conservatorio ausgebildeten Musikern die italienische (und europäische) Musikszene dominiert. Der letzte große Name, der Neapel geprägt hatte, war Rossini. Jetzt sind Mercadante und Pacini die führenden Komponisten in Neapel: beide sind älter als Verdi, beide sind ihm seiner Erfolge wegen nicht eben freundlich gesonnen.
Saverio Mercadante (Altamura 1795 – Neapel 1870) ist 1845 ein Machtfaktor in Neapel, da er seit 1840 das Conservatorio leitet. Er schreibt in einem eigenständigen Stil, der sich von Rossini, Bellini und Donizetti absetzt, und verwendet auf die Instrumentation mehr Sorgfalt als seine Kollegen. Er wird seine anfängliche Feindseligkeit Verdi gegenüber in späteren Jahren ablegen. Etliche seiner Opern überleben (Il bravo, Il reggente, Il giuramento) und werden im 20. und 21. Jahrhundert gelegentlich aufgeführt.
Giovanni Pacini (Catania 1796 – Pescia, Pistoia 1867) erinnert in seinem Stil bisweilen an Donizetti und Verdi, ist aber weniger an Orchestrierungsraffinessen interessiert als Mercadante. Er schreibt über siebzig Opern, die zu seiner Zeit ungeheuer populär sind (großen Erfolg hat seine 1840 uraufgeführte Saffo). Einigen von ihnen kann man heute hie und da als hochwillkommenen Raritäten begegnen, wie z.B. Saffo, Wien 1989 und Wexford 1995, Maria, regina d’Inghilterra, London 1996, L’ultimo giorno di Pompei, Martina Franca 1996, Carlo di Bordogna, London 2001, La poetessa idrofoba ossia Dalla beffa il disinganno, Pesaro 2001, Don Giovanni o Il convitato di pietra, Bad Wildbad 2008 usw. Den von der römischen Zensur abgelehnten Lorenzino de’ Medici-Text Piaves komponiert Pacini 1845 für Venedig.
Einer der Gründe für Verdis Interesse an einer Arbeit für Neapel ist neben dem, wie er weiß, schwer zu erringenden Prestigezuwachs im Falle eines Erfolges[227], die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit Salvadore[228] Cammarano (Neapel 1801-1852), dem Hausdichter des Teatro San Carlo. Cammarano wurde zuerst als Maler ausgebildet, studierte dann aber Literatur an der Accademia Poetica Delfica und widmete sich ursprünglich erfolgreich dem Verfassen von Komödien und einer Tragödie. 1834 gab er die Tätigkeit als Bühnenschriftsteller auf, um sich nur mehr dem Librettoverfassen zu widmen. Sein Debut als Operndichter gibt er mit dem Libretto zu La sposa, das von Egisto Vignozzi vertont wird. Er schreibt acht Textbücher für Donizetti (darunter Lucia di Lammermoor, Roberto Devereux, Maria di Rohan, Poliuto, Belisario), zehn für Mercadante (darunter La vestale, Il reggente, Medea) und fünf für Pacini (darunter der Publikumserfolg Saffo). Seit Felice Romani nur mehr sporadisch als Textdichter tätig ist, gilt Cammarano als der führende italienische Librettist der Hochromantik. Er wird Verdi nach Alzira noch die Texte für La battaglia di Legnano und Luisa Miller liefern, während der Arbeit an Il trovatore wird er, erst einundfünfzigjährig, plötzlich versterben.
Abb. 21 – Der Librettist Salvadore Cammarano (1801-1852)
Ich habe den Entwurf der Alzira erhalten. Ich bin in jeder Hinsicht sehr zufrieden damit. Ich habe die Tragödie von Voltaire gelesen, die sich in den Händen eines Cammarano in ein ausgezeichnetes melodramma verwandeln wird. Man beschuldigt mich, daß ich den Lärm [in der Musik] sehr liebe und den Gesang schlecht behandle: achten Sie nicht darauf; legen sie nur Leidenschaft hinein und Sie werden sehen, daß ich passabel schreiben werde.[229]
Auch das Alzira-Libretto hat Verdi nicht selbst ausgewählt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er Cammarano die Wahl überlassen hat. Er ist mit Kommentaren zu Cammaranos Arbeit äußerst zurückhaltend und nimmt kaum Einfluß auf das Libretto. In seinen Briefen an den Librettisten schlägt er einen ungewohnt zahmen Ton an:
Ich habe das Duett und die Arie aus dem zweiten Akt erhalten. Wie schön sind diese Stücke! Die Dichtung ist Euch hervorragend gelungen. Was werde ich in der Musik machen?... Ich bitte Euch um Nachsicht meinen Noten gegenüber. Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Gesundheitlich geht es mir besser, aber ich kann noch nicht so viel arbeiten wie früher.
Ungeduldig erwarte ich die Antwort der Impresa auf meinen Brief, dem ich die ärztlichen Bestätigungen beigelegt habe. Lebt wohl, mein Teuerster, bleibt mir gewogen und glaubt mir, daß ich einer Eurer größten Bewunderer bin.[230]
Das klingt nicht nach Verdi. Klingt es so, weil er krank ist und gute Miene zum bösen Spiel macht, weil nicht er, sondern die Impresa das Librettistenhonorar bezahlen muß? Da er wieder von seinen Beschwerden gequält wird, muß er den Impresario des Teatro San Carlo, Don Vincenzio Flauto[231], um Verschiebung der für Juni geplanten Premiere um zwei Monate ersuchen. Flauto, erfahren im Umgang mit sensiblen Künstlern, glaubt Verdi nicht und versichert ihm höhnisch, daß seine Gesundheit sich im sonnigen Neapel gewiß rasch bessern würde. Verdi hat ärztliche Bestätigungen vorgelegt und ärgert sich über den Impresario:
Wir Künstler dürfen nie krank sein. Da nützt es nichts, wenn man sich immer wie ein Ehrenmann benommen hat!... Die Impresari glauben einem oder glauben einem nicht, je nachdem, wie es ihnen in den Kram paßt. Ich kann die Art, in der mir Herr Flauto geschrieben hat, nicht gutheißen. Auch in dem Gespräch mit Euch zweifelt er meine Krankheit und meine Bestätigungen wiederum an.[232]
Inzwischen stimmt Flauto der Verschiebung der Premiere widerwillig zu. Verdi denkt inzwischen in Venedig, wo er sich mit Piave über zukünftige Projekte berät, über die Besetzung in Neapel nach:
Außergewöhnlich schön sind diese Verse der Kavatine der Alzira, besonders im Rezitativ und im ersten Teil. Seid so gut und sagt mir in Eurem nächsten Brief die Personen und in wieviele Akte Ihr das Drama einteilt. Es ist überflüssig, Euch Kürze und eine schöne Rolle für Coletti zu empfehlen.
Die Impresa schreibt mir, daß sie bis Juli keine andere [prima] donna als die Bishop hat. Wenn die Tadolini nicht singt, erübrigt es sich, darüber zu reden; aber wenn die Tadolini auf der [Besetzungs]liste der Truppe steht, wähle ich ohne jeden Zweifel sie. [...]
P.S. Verzeiht mir eine Bemerkung: Scheinen Euch drei Kavatinen in Folge nicht zu viele?... Verzeiht mir bitte.[233]
Seine Krankheit[234] kommt Verdi wegen seiner Besetzungspräferenzen nicht ungelegen. Am 20. Juni melden die Mailänder Tageszeitungen Verdis Abreise nach Neapel. Er führt die bis auf das Finale fertiggestellte Oper mit sich. Drei Wochen später ist die Oper komplett fertiggestellt:
Obwohl die Oper (bis auf die Instrumentation) fertig ist, konnte ich noch nicht mit den Proben beginnen, da Coletti indisponiert war. Hier geht alles so wie ich es will, und mit Ausnahme der Journalisten genieße ich die Gunst der ganzen Öffentlichkeit, ich werde an dem fatalen Abend auch keine Kabalen und Intrigen zu fürchten haben, wie ich glaubte.[235]
Cammarano hat in seinem Libretto von Voltaires Vorlage all das weggelassen, was seiner Meinung nach nichts auf einer Opernbühne verloren hat: religiöse und politische Inhalte, die Hauptelemente in Voltaires Arbeit, die in der Oper nur am Rande gestreift werden. Was übrig bleibt, ist das austauschbare romantische Dreiecksverhältnis der Opernfiguren Alzira-Zamoro-Gusmano sowie eine zu kurze Oper. Um sie zu verlängern, beauftragt Flauto Verdi mit der Komposition einer Ouverture[236]. Verdi stellt alles fertig, Ende Juli beginnen die Klavierproben. Über den Arbeitsfortschritt berichtet Verdi:
Ich habe die Oper auch in der Instrumentierung fertiggestellt; wegen der Bühnenbilder wird sich die Aufführung bis ungefähr 9. August verzögern. Ich wüßte kein Urteil über diese meine Oper abzugeben, weil ich sie beinahe ohne es zu bemerken und ohne Anstrengung geschrieben habe: deshalb würde es mich auch wenig schmerzen, wenn sie durchfiele ... Aber sei beruhigt, es wird kein Fiasko geben. Die Sänger singen sie gern, und etwas Erträgliches muß wohl darin sein. Ich werde gleich nach dem ersten Abend schreiben.[237]
Ostentative Bescheidenheit dringt aus diesem Brief, wie auch das Eingeständnis, für eine so wichtige Arbeit wenig Mühe aufgewendet zu haben. Verdi hofft selbstverständlich auf einen Erfolg, und er kann sich dabei