Anarchistische Analysen zur Gegenwart. Jörg Djuren

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Anarchistische Analysen zur Gegenwart - Jörg Djuren


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Ariès - 'Geschichte der Kindheit')

      - Die Erfindung unseres heutigen Konzeptes von Mutterliebe (Siehe - Elisabeth Badinter - 'Die Mutterliebe, Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute')

      - Die Neukonzeption der Geschlechterverhältnisse und die Erfindung eines biologischen Körperselbstbildes (Siehe - Barbara Duden - 'Geschichte unter der Haut' / Thomas Laqueur - 'Auf den Leib geschrieben' / Claudia Honegger - 'Die Ordnung der Geschlechter')

      - Die Neukonzeption des Mensch/Natur-Verhältnisses mit der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Weltbildes und dem technisch/industriellem Zugriff auf Natur.

      - Die Erfindung einer neuen Ästhetik in bildender Kunst und Musik orientiert an mathematischen Idealkonstrukten.

      - ..

      All dies und vieles mehr im Zusammenwirken hat zum Erfolg der bürgerlichen Revolution geführt.

      Zur Durchsetzung des Anarchismus wird es vergleichbar radikaler Wandlungsprozesse bzgl. Subjekt, Gesellschaft und Naturverhältniss bedürfen. Das Private ist politisch muss in einem radikalen Sinn begriffen werden. In diesem Sinn publiziert die HerausgeberInnengemeinschaft Irrliche Texte, die radikal anarchistisch und politisch sind, gerade weil sie oberflächlich nicht politisch sind. Literarische Texte, die versuchen andere Formen von Subjektivität und Gesellschaft zu denken, bzw. die bestehenden Formen zu kritisieren. Die Revolution beginnt beim Subjekt."

      Irrliche-Manifest

      In diesem Buch finden sich kurze Texte, die sich als anarchistische Theorie und Analyse in diesem Sinn begreifen lassen. Sie sind über einen Zeitraum von 20 Jahren entstanden und umfassen ein weites Spektrum an Themen. Allen gemeinsam ist aber der kritisch analytische Standpunkt, der Herrschaftskritik immer auch mit einer kritischen Analyse der Subjektposition verbindet. Die anarchistische Positionierung ist dabei sowohl Ausgangspunkt, als auch Analyserahmen und Zielpunkt.

      Als Theoriehintergründe werden dafür vor allem poststrukturalistische Ansätze und Ansätze aus der feministischen Theorie bzw. kritische Aufgriffe der psychoanalytischen Theorie genutzt.

      In den Texten finden sich aus heutiger Sich auch Irrtümer, Thesen, Analysen, die sich als falsch erwiesen haben. Und doch kann gerade durch die Linse solcher Fehler die Realität um so genauer erfasst werden, stellt jeder Irrtum doch immer auch ein Wissen darüber bereit, dass wichtige Entwicklungen nicht beachtet wurden und verweist auf diese Auslassungen, die dadurch aufgegriffen werden können für zukünftige kritische Analysen.

      Jörg Djuren - Hannover, 2019

Texte zur Kapitalismuskritik

      Fight the MIS

      "Es war (schon) einmal", sagte die Fledermaus.

      "Es war (schon) einmal", sagte die Kirsche.

      "Es war (schon) einmal", sagte die Puppe.

      Doch dann,

      weil es regnete,

      weil die Sonne schien,

      - - - -

      vergaßen sie es.

      Es war (schon) einmal

      Ein Teil des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit war eine grundlegende Umstrukturierung der Herrschaftsverhältnisse. Die Adelsherrschaft wurde durch den Nationalstaat ersetzt. Nation und Staat waren in dieser Form Neuerfindungen. Das bürgerliche Subjekt, der 'freie' Unternehmer-Mann, löste als Idealfigur die adeligen Vorbilder ab. Das Geschlechterverhältnis und die Reproduktionsverhältnisse wurden neu strukturiert. Die bäuerliche Subsistenzwirtschaft wurde durch die bürgerliche Kleinfamilie ersetzt. Auch unsere heutige Vorstellung von Mutterliebe1 und Kindheit2 wurden erst zu diesem Zeitpunkt entwickelt und Teil der Subjektkonstitution.

      Für Frauen und die nicht so mächtigen Teile der Bevölkerung bedeuteten die Umbrüche eine erhebliche Verschlechterung ihrer Situation. Eigenständige Einkommens- und Lebensmöglichkeiten für Frauen, z.B. Beginenklöster und Frauenzünfte, wurden im Zuge der Inquisition, die als Teil der Modernisierung zu begreifen ist, zerstört und enteignet. Für die kapitalistische Entwicklung war es substantiell sich die reproduktive Arbeit von Frauen umsonst, ideologisiert als Natur der Frau, anzueignen, und Frauen keine Alternative zur Heirat, daß heißt Übereignung an einen Mann, zu lassen. Frauen wurden auch in ihren sexuellen Freiheiten massiv eingeschränkt. So gibt es z.B. aus dem Mittelalter Lieder von Troubaritza (weiblichen Troubadoren)3 in denen sie selbstverständlich für sich sexuelle Bedürfnisse formulieren. So heißt es in einem Lied, schläfst Du mit ihr, schlaf ich auch mit meinem Liebhaber. Für die bürgerliche Frau des 19ten Jahrhunderts wäre eine derartig sexuell selbstbewußte Aussage zumindest öffentlich undenkbar gewesen. Mit dem Umbruch zur Moderne wurde auch Handwerkern der blaue Montag4 und andere erkämpfte Freiräume gestrichen, Arme wurden durch Arbeit in Arbeitshäusern vernichtet, Land das Allgemeingut war, die Almende, wurde zu Gunsten der Besitzenden privatisiert, u.a.5 .

      Das Mittelalter war eine repressive und patriarchale Standesgesellschaft, aber in ihr hatten Frauen und die nicht so mächtigen Gruppen der Bevölkerung für sich bestimmte Freiräume und soziale Absicherungen durchgesetzt. Während es erheblichen Teilen der alten Nomenklatura (Adel, Kirche) gelang ihre Privilegien im Umbruch zur bürgerlichen Gesellschaft in neue Macht (Kapital, Besitz) umzusetzen6 , verschlechterte sich die Lebenssituation für die Mehrheit der Menschen mit wenig Macht und für Frauen mit dem Umbruch zur Neuzeit.

      Mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Nationalstaaten, den Veränderungen in Familien- und Arbeitsverhältnissen und der Aufrichtung neuer Machtregime im Geschlechterverhältnis, z.B. durch die Gen- und Reproduktionstechnologien, deutet sich heute ein ähnlich grundlegender Umbruch der Gesellschaftsverhältnisse an.

      Damit stellt sich die Frage was zu erwarten ist und welche Auswirkungen dies für die Möglichkeit anarchistischer, antisexistischer Praxis haben wird?

      Welche neuen institutionellen Machtverhältnisse deuten sich an, welche Institutionen lösen den Nationalstaat ab?

      Wie sieht das neue Subjekt der Macht aus?

      Was ist für das Geschlechterverhältnis zu erwarten?

      Was ist bzgl. der Arbeits- und Familienverhältnisse zu erwarten?

      Wie kann die Zerstörung erkämpfter Freiräume und sozialer Rechte verhindert werden, ohne sich für den Erhalt der alten Machtverhältnisse, z.B. den Nationalstaat, oder ihre Modernisierung instrumentalisieren zu lassen?

      Wie ließe sich der Umbruch für die Durchsetzung ganz anderer anarchistischer Alternativen nutzen?

      Wie könnten diese anarchistischen Alternativen aussehen?

      Für diese Fragen sollen im Folgenden Ideen entwickelt werden, keine definitiven Antworten. Auf den Versuch zu begreifen und auf Theorie zu verzichten, halte ich für falsch, aber jede anarchistische Theorie muß offen für die Reformulierung an Hand politischer Praxis, der Alltagserfahrung und der Bedürfnisse und Interessen der Menschen sein.

      Nach dem Nationalstaat - MIS (Multinationale Institutionelle Strukturen)

      Der Ablaßhandel im Mittelalter und der Verkauf von Markenturnschuhen funktionieren nach ähnlichen Prinzipien, verkauft wird primär etwas was beliebig zu Minimalkosten vervielfältigbar ist, ein Markenname heißt er nun Gott oder Nike, aber über Monopolisierung künstlich knapp gehalten wird.

      In vielen Science Fiction lautet die Antwort auf die Frage, was kommt nach dem Nationalstaat? Die Konzerne. Dies ist für mich nicht überzeugend. Industriekonzerne allein können die notwendigen Bedingungen, z.B. Rechtssetzung, globale Infrastruktur, u.a., für ihre Existenz nicht sicherstellen - zumindest, wenn ich nicht etwas völlig anderes als bisher üblich unter diesem Begriff denke -. Außerdem wird im Science Fiction diese Konzernherrschaft dann doch wieder wie ein Staat gedacht, z.B. mit festem Territorium7 .

      Zur Zeit bilden sich aber neue Strukturen


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