Wir statt Gier. Gordon Müller-Eschenbach

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Wir statt Gier - Gordon Müller-Eschenbach


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sozialen Vernetzung der Wertegemeinschaft finden sie heute immer schneller den Weg an eine immer breiter werdende Öffentlichkeit. Die implizite Warnung der Gemeinschaft an die Zirkel der Macht ist unüberhörbar geworden: Machtmissbrauch bleibt kein Geheimnis mehr. Er wird aufgedeckt, er findet die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, er lässt sich nicht mehr unter den Teppich kehren. Und er wird geahndet: Wer die Werte mit Füßen tritt, für die er steht, muss sich immer öfter an ihnen messen und von der betrogenen Gemeinschaft abstrafen lassen. Die globalen Protestaktionen gegen Banken und Wirtschaftspolitik im Herbst 2011 sind ein Indiz dafür.

      Die Krise der Ethik liegt offen auf dem Tisch. Sie wurde herbeigeführt durch jene Instanzen, die eigentlich ihrem Schutz und ihrer Pflege verpflichtet sind. Die Folgerung liegt nahe, dass die Ethik, wie wir sie kannten, nichts anderes mehr ist als ein Konstrukt der Eliten – bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert von den freiheitlichen, demokratischen und humanistischen Werten, denen sie eigentlich dienen sollte. Es wird höchste Zeit, dass wir als soziale Gemeinschaft im Kleinen wie im großen Ganzen unsere ureigenen Werte aus jenem schadhaften, machtbesetzten Konstrukt von Ethik zurückerobern.

       Die härtesten aller Erfolgsfaktoren

      

      Die Bedeutung von Werten wird besonders in der Wirtschaft aufgrund ihres Interpretationsspielraums gern als weiches Thema abgetan und ist innerhalb ihrer verschiedenen Reibungsflächen in Unternehmen zum Spielplatz für alle möglichen Installationen und Experimente geworden. Im Unternehmenskontext gelten Werte viel zu oft noch immer als Erfolgsfaktor zweiter Klasse. Aus der Unternehmenskommunikation sind sie inzwischen nicht mehr wegzudenken, doch im Kontext von Führung dienen sie meist eher als Feigenblätter denn als definierende Motivatoren: Beinahe jedes Unternehmen hat sich inzwischen ein Leitbild angeklebt, das statistisch ermittelte Kunden- und Mitarbeiterwünsche befriedigen soll. Die Werte, die dort propagiert werden, sind jedoch viel zu häufig dehnbar und unkonkret und entziehen sich der Überprüfbarkeit. Im schlimmsten Fall dienen sie dazu, von Missständen oder gar Machtmissbräuchen in der Unternehmensführung abzulenken. Viel zu selten werden sie tatsächlich gelebt, prägen die Leitgedanken von Management und Führung oder definieren gar bis ins Detail Kernprozesse.

      Womit die „alte Schule“ der Wirtschaft beschrieben wäre: Sie schert sich einen Dreck um das wahre Potenzial von Werten, denn sie hat sich der bequemen Steuerung durch manipulierbare Kennzahlen verschrieben. Sie begeht die gleichen Fehler wie jene Politik, die den Missbrauch der Werte vorlebt. Das liegt in erster Linie daran, dass die Vertreter dieser alten Businessethik der Macht sehr nahestehen. Entweder arbeiten sie unmittelbar in ihrem Sinne und Auftrag, oder sie orientieren sich an deren „elitären“ Methoden.

       Vom Ende der alten Schule

      

      Doch auch in der Wirtschaft sind die ertragreichen Zeiten der Wertemanipulation endlich. Unternehmen, die sich auf so errungenen Erfolgen ausruhen und die Kernaufgaben von Wirtschaft – gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt – vernachlässigen, vergeben damit ihre Chance, an den Märkten der Zukunft zu bestehen oder überhaupt nur anzukommen. Diese Schule der Unternehmensführung, die es offiziell nie gegeben hat und die in der Masse der Unternehmen dennoch bis heute federführend ist, ist dem Untergang geweiht.

      Die erfreuliche Nachricht ist also: Mit dem Ende der Ära der Geheimniskrämer wird auch die alte Schule der machtmissbräuchlichen Unternehmensführung zu Grabe getragen werden. Ihr Untergang geht Hand in Hand mit dem Verlust der Glaubwürdigkeit jener, deren Methoden des Wertemissbrauchs sie folgen. Korruption, Lobbyismus und Egospielchen sind nichts anderes als Symptome eines falschen oder gar eines fehlenden Wertebewusstseins.

      Keinesfalls der Skepsis anheim geben müssen wir dagegen den Kapitalismus und die Marktwirtschaft. Im Nachgang der Finanzkrise wurden besonders hierzulande schnell Stimmen laut, die ein Maximum an Regulierung einforderten. In Amerika stellt man dieser Generalkritik jedoch die Alternativlosigkeit des Kapitalismus und dessen Potenzial auch zu tugendhaften Erneuerung gegenüber: „Wir müssen den modernen Kapitalismus nicht bremsen oder verändern, damit er gut wird“, zitierte das Handelsblatt noch im Verlauf der Krise die Ökonomin, Historikerin und Philosophin Deidre McCloskey aus Chicago.

      Die folgenden Kapitel beleuchten, welchen Schaden die Wertemanipulatoren an der Ethik angerichtet haben und zeigen, wie sich dieser Schaden auf die Gesellschaft im Ganzen, aber auch auf die Zentren der Wirtschaftskraft ausgewirkt haben. Sie decken auf, wie jeder Einzelne von uns unter der Wertearmut der Systeme leidet. Im Zeichen der neuen Aufklärung, die die Vernetzung der Wertegemeinschaft ermöglicht, werde ich Ihnen anhand von Beispielen zeigen, wie wir von der Manipulation unserer Grundwerte beeinflusst werden und unwissentlich an den Spielchen der Macht teilhaben.

      Denn auch diese Erkenntnis gehört zu den Grundbedingungen jeder Erneuerung: Nur wenn wir erkennen, wie wir selbst ein korruptes System unterstützen, können wir damit aufhören. Nur, wenn wir damit aufhören, können wir an der ethischen Erneuerung teilhaben. Nur, wenn wir an ihr teilhaben, können wir weiterhin jene Werte für uns in Anspruch nehmen, die durch vielfältigen Missbrauch akut bedroht sind und die den Kern der freien Wirtschaft und des Unternehmertums bilden: Freiheit, Fortschritt, Selbstverwirklichung. Diese Werte werden sich durchsetzen, und der Wandel ist bereits im Gange. Wer ihn mitgestaltet, genießt alle Erfolgschancen der freien Marktwirtschaft. Wer sich ihm widersetzt, wird scheitern. Mancher Politiker, mancher Kirchenobere, mancher Konzernboss jedoch verhält sich noch immer, als hätte er sich bereits für den Untergang entschieden.

      Die folgenden Kapitel singen das Grablied der alten Schule.

       2 Die Krise der Ethik: Wie die Eliten unsere Werte missbrauchen

       Politik: ein Streit der Interessen, der sich als Wettstreit der Prinzipien ausgibt. (Ambrose Bierce)

      Die Ethik, wie wir sie kennen, ist überholt. Sie wurde von Instanzen geprägt, die sie täglich verraten: von der Kirche ad absurdum geführt, von der Politik verkauft, und in der Wirtschaft von Marketingstrategen zum Feigenblatt pervertiert. Sie ist nicht mehr die Quelle, sondern das Grab der Werte, für die sie einmal stehen sollte – aufgeklebt, antrainiert, extrinsisch motiviert. Die Ethik ist eine Schimäre: ein überholtes, sinnentleertes Denkmodell, ein leeres Gefäß, das die Lobbyisten und Vatikane dieser Welt mit ihrem autoritären Rhetorikarsenal befüllen und eigennützig und aufwieglerisch gegen die Interessen der Gemeinschaft einsetzen, die sie eigentlich befrieden sollte. Sie ist missbraucht und pervertiert worden. Sie ist zum Opfer und zum Instrument der Mächtigen geworden. Die Ethik unserer Zeit ist ein einziger gewaltiger Irrtum.

      Der Großteil der deutschen Bevölkerung hat keinen oder wenig direkten Bezug zu den Kreisen, die unsere bestehenden Wertevorstellungen prägen: zu Kirche, Politik und Wissenschaft. Dementsprechend haben auch die wenigsten von uns das Gefühl, an der Prägung gesellschaftlicher Werte teilzuhaben oder auch nur eine Chance zu einer solchen demokratischen Mitsprache zu besitzen. Wohl aber hat jeder von uns ein mehr oder weniger ausformuliertes persönliches Verhältnis zu den Werten, für die er ganz individuell steht: in der Familie, im Beruf, in der Beziehung und in jeder anderen Form von Gemeinschaft, in der unsere Werte täglich auf dem Prüfstand stehen. Eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen wir als Bürger unmittelbaren Einfluss auf die Zusammensetzung jener Instanzen und der Werte haben, für die Politiker einstehen, sind Wahlen. Schaut man sich Parteiprogramme gezielt daraufhin an, welche Parteien für welche Werte stehen, und misst man diese Werte an der Realpolitik ihrer gewählten Vertreter, ist es kein Wunder, dass die Bevölkerung an ethische Versprechen schon längst nicht mehr glauben mag. Ähnlich verhält es sich mit den Werten der Kirche, dem ursprünglichen Epizentrum der westlichen Werteprägung. Würden wir uns als Einzelne so verhalten wie so mancher Vertreter dieser hohen Häuser, wäre Gomorrha inzwischen zum Urlaubsparadies avanciert.

      Während die selbsternannten Verkünder des Wertekanons unverdrossen an ihrem Machterhalt arbeiten, ist den Menschen durch den Werteverfall ein gewaltiger Verlust entstanden: Sie finden keinen moralischen Halt und – mindestens genauso dramatisch – keine Vorbilder mehr dort, wo ihre Werte früher eine Heimat hatten:


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