Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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sich wirklich fühlte. Er sah immer nur sich selbst, ging immer nur von sich aus. Und er bemerkte das noch nicht einmal.

      Nachdenklich holte sich Tilda ein großes, frisches Handtuch aus dem Badezimmerschrank, hängte es über den Rand der Badewanne und stieg in die Dusche. Sie hatte das Bedürfnis, diesen schrecklichen Tag einfach von sich abzuspülen. Alle negativen Gedanken wollte sie von sich abwaschen und die Ängste vom MRT am Vormittag gleich mit. Das warme Wasser prickelte auf ihrer Haut und beruhigte ein wenig ihre angespannten Nerven. Minutenlang genoss sie einfach nur, unter dem warmen Wasserstrahl zu stehen und sich für einen Moment keine Sorgen machen zu müssen.

      Das Telefon klingelte. Tilda lief mit dem Handtuch ins Wohnzimmer und nahm das Telefon von der Ladestation. Es war ihre Mutter Brigitte, die von ihren Gesundheits-Sorgen zum Glück noch so gut wie nichts wusste. Tilda hatte ihren Eltern kaum etwas über ihr mysteriöses Unwohlsein der letzten Monate erzählt. Das war nicht schwer gewesen. Sie hatten sich auch nicht so häufig gesehen in der letzten Zeit. Genauer gesagt hatte Tilda ihre merkwürdigen Symptome nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt. Das war zu Ostern gewesen. Danach hatte sie sich vorgenommen, keine Energie mehr in dieses Thema zu schicken, damit es nicht wuchs und gedieh wie ein Pilz. Schließlich wollte sie das Problem loswerden und es nicht füttern. Ihre Eltern hielten ihre mysteriöse Krankheit sicher für längst auskuriert und das war gut so. Tilda kannte sie. Sie wusste, dass sie sich Sorgen machen würden und deshalb wollte sie sie auf gar keinen Fall beunruhigen. Und noch etwas war der Grund für ihr Schweigen. Sie wollte keine guten Ratschläge von ihnen hören, was sie nun am besten tun sollte. Und sie wollte außerdem nicht hören, welche Ärzte aus ihrem Freundeskreis wahrhafte Koryphäen waren, die sich des Problems jetzt am besten sofort annehmen sollten…..

      Ganz davon abgesehen war Tilda bisher noch immer davon überzeugt, dass in ihrem Körper alles wieder von allein in Ordnung kommen würde. Seit ihrem Termin beim MRT am Vormittag war ihr Optimismus allerdings irgendwie kleiner geworden. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Während sie versuchte, auf ihre Mutter am Telefon entspannt zu wirken, zog sie sich so gut es ging nebenbei ihre Jeans und das mausgraue T-Shirt mit einem bunten Blumenaufdruck an. Sie hatte nicht schon wieder Lust auf Karl Lagerfelds Spruch, wenn Ludwig nach Hause kam.

      Während sich Tilda auf die nachtblaue Couch im Wohnzimmer fallen ließ und den Schilderungen ihrer Mutter zuhörte, die alles immer spannend wie einen Krimi zu erzählen wusste, war sie gar nicht recht bei der Sache. Da ihre Mam aber allerhand berichtete, machte es ihr Redeschwall nur ab und zu erforderlich, dass sie antworten musste. Parallel dazu formulierte ihr Gehirn währenddessen bereits einige Sätze, die sie ihr über ihren angeschlagenen Gesundheitszustand sagen wollte, die sie ihr inzwischen fairerweise sagen musste. Tilda wollte auf gar keinen Fall, dass sich ihre Eltern Sorgen machten. Falls sich jetzt tatsächlich herausstellen sollte, dass mit ihrer Gesundheit irgendetwas nicht stimmte, wollte sie nicht den Vorwurf zu hören bekommen, dass sie von nichts gewusst hätten und dass sie übergangen worden seien.

      Tilda hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt und das war ihr auch immer wichtig gewesen. Thomas und Brigitte Johannsen waren im letzten Jahr gemeinsam in den Ruhestand gewechselt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie bei der Hamburger Sparkasse gearbeitet, jeder in einer anderen Filiale in der Stadt. Dank ihres beruflichen Engagements hatten sie sich in den letzten zwanzig Jahren recht weit nach oben gearbeitet. Wenn man berücksichtigte, dass sie vom einfachen Schalterdienst an der Basis im tiefsten Mecklenburg gestartet waren und zum Schluss ihre eigenen Abteilungen in Hamburg geleitet hatten, so war Tilda voller Respekt für sie. Aber das war es nicht allein. Sie waren ihr und ihrer Schwester Doro immer gute, verständnisvolle Eltern gewesen. Sie hatten ihr Bestes gegeben, auch wenn das für zwei Berufstätige nicht leicht gewesen war und Tilda und ihre Schwester sich manchmal allein gefühlt hatten. Im Stillen hatte Tilda manchmal ihre Freundinnen beneidet, deren Mütter fast alle Hausfrauen gewesen waren und die mittags mit dem Essen auf sie gewartet hatten, wenn sie aus der Schule nach Hause kamen. Doro und Tilda hatten niemanden gehabt, der mittags auf sie wartete, wenn die Schule zu Ende war. Aber sie hatten das Beste daraus gemacht. Sie hatten gemeinsam kochen gelernt und das hatte sich bald als überaus nützlich für ihr gesamtes weiteres Leben erwiesen. Je älter Tilda wurde, desto mehr wurde ihr klar, dass ihre Mutter mit ihrer Berufstätigkeit genau das Richtige getan hatte. Während die Mütter ihrer Freundinnen irgendwann nach den vielen Jahren als Hausfrau damit begannen, als geringfügig Beschäftigte im Supermarkt Regale aufzufüllen, und froh darüber waren, überhaupt wieder einen Job gefunden zu haben, wurde ihre Mutter Abteilungsleiterin bei der Sparkasse. Auch das war es, wofür sie ihren Eltern im Nachhinein dankbar war. Für Tilda hatte schon immer die Frage im Raum gestanden, was vom Elternsein blieb, wenn die Kinder erwachsen waren. Sie frage sich, ob es sich überhaupt lohnte, wegen dieser wenigen Jahre als Mutter kleiner Kinder die gesamte berufliche Perspektive auf´s Spiel zu setzen. Und das nur, um später und meist für den Rest des Berufslebens, darunter zu leiden. Tilda dachte in diesem Moment an ihre Schwester Dorothea, die trotz ihrer drei Kinder immer gearbeitet hatte und die es als selbstverständlich ansah, dass ihr Mann das auch unterstützte. Tilda wusste, dass ihre Eltern oft genug die Zähne zusammenbeißen mussten, um ihren Weg weiterzugehen. Das war sicher nicht leicht für sie gewesen. Es war auch ein Grund dafür, dass Tilda jetzt nichts ferner lag, als ihnen mit ihren Beschwerden die Ohren voll zu heulen. Von ihnen hatte sie gelernt, dass es wichtig war, sich nicht gehen zu lassen und Haltung zu bewahren.

      Auch jetzt, mehr als ein Jahr nach ihrem Eintritt in den Ruhestand, wirkten Brigitte und Thomas Johannsen noch immer so, als würden sie mitten im Berufsleben stehen. Sie ließen keine Nachlässigkeiten in ihrem Leben zu, weder bei Ihrer Kleidung, noch bei allen anderen Lebensgewohnheiten. Sie standen immer noch um sechs Uhr morgens auf. So, als müssten sie zur Arbeit in die Bank. Disziplin und die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen waren wichtige Dinge, die ihre Eltern ihr und ihrer Schwester von Beginn an mit auf den Weg gegeben hatten. Tilda und Doro hatten das wie selbstverständlich in ihre Lebensphilosophien aufgenommen. Dass es nicht selbstverständlich war, und dass viele andere Menschen damit Schwierigkeiten hatten, hatte Tilda erst viel später bemerkt. Da war sie bereits erwachsen gewesen.

      Jetzt, wo sie darüber nachdachte, war ihr alles wieder vollständig gegenwärtig. Vor zwanzig Jahren, als ihre ältere Schwester Dorothea und sie selbst noch klein waren, waren ihre Eltern wegen der besseren beruflichen Perspektive aus Klein Trebbow in Mecklenburg nach Hamburg umgezogen. Das war ein großer Einschnitt für alle gewesen. Draußen auf dem Lande hatten sie ein komplett anderes Leben geführt, als später in der Stadt. Tilda erinnerte sich noch genau an ihre ersten Lebensjahre in Mecklenburg voll von unendlicher Freiheit inmitten von Wiesen, Wäldern, Feldern und dem Ufer des Sees. Sie erinnerte sich an das alte, gemütliche Häuschen, dass ihre Mutter von Omi geerbt hatte und an dem ihr Vater Thomas unentwegt gebaut und repariert hatte. Es war nie so richtig fertig geworden. Damals, als sie von Klein Trebbow weggezogen waren, war die Terrasse immer noch im Rohbau gewesen und die Holzverschalung am Giebel war noch immer nicht gestrichen. Im Flur fehlte noch die Tapete, genauso wie das Waschbecken in der Gästetoilette. Und dennoch war dieses Haus für sie und ihre Schwester das schönste Häuschen auf der ganzen Welt gewesen. Tilda erinnerte sich auch an die scheinbar endlosen Sommer und an den kleinen Kindergarten mit den fünfundzwanzig Kindern, die in zwei Gruppen aufgeteilt waren. In jeder Gruppe waren Kinder unterschiedlichen Alters gewesen. Sie waren zwischen einigen Monaten und sechs Jahren alt. Und sie erinnerte sich an die beiden Erzieherinnen, die Frau Brathering und Fräulein Mielke hießen. Jeden einzelnen Tag, den sie im Gedächtnis behalten hatte, hatten die beiden Frauen versucht, zum schönsten ihrer gesamten Kindheit zu machen. Wenn es auf dieser Welt ein Kinderparadies gab, dann war es sicher der Kindergarten von Klein Trebbow gewesen.

      Frau Brathering war im letzten Jahr im Alter von nur 48 Jahren an Eierstock-Krebs gestorben. Alles war ganz schnell gegangen. Als Tilda die Nachricht darüber erhielt war alles schon vorbei gewesen. Sie hatte sich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt. War ihr doch, als hätte sie gerade gestern noch als kleines Mädchen auf ihrem Schoß gesessen. In Tildas Erinnerung war Frau Brathering immer noch die junge Frau mit der Schafwoll-Strickjacke und der randlosen Brille, die sie meist nach oben ins Haar geschoben hatte. Sie hatte immer so gesund ausgesehen. Sie hatte die roten Wangen einer Landfrau und sprudelte nur so über vor guter Laune. Sie trug ihren dicken, brauen Zopf meist zu einem Dutt zusammengesteckt, damit er sie nicht störte.


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