Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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und schloss ihn gleich darauf wieder. Wortlos stieg sie aus dem Auto und nahm ihren roten Schirm mit den Sonnenblumen aus dem Kofferraum des Range Rovers. Sie zog die Hülle von ihm ab und spannte ihn auf. Einen kurzen Moment lang stand sie unschlüssig neben dem Auto und schwieg. Als Ludwig den Motor startete wandte Tilda sich zum Gehen. Unerwartet ließ er noch einmal die Scheibe neben ihr herunter und beugte sich ein wenig herab, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte, während er streng sagte: „Schatz, aber wenn´s was Schlimmes ist, dann versprich mir, dass du dir in der Klinik helfen lässt.“ Er zögerte einen Augenblick, bevor er fortfuhr: „Ich weiß, dass Du keine Tabletten magst. Aber versprich mir trotzdem, dass du dann das machst, was sie dir empfehlen!“ Er räusperte sich und seine strahlend blauen Augen schauten Tilda fordernd an: „Versprich es mir!“ Er räusperte sich noch einmal. Er roch nach Aftershave.

      Zögernd nickte Tilda ein wenig und versuchte ein Lächeln. „Ja, vermutlich werde ich das dann machen.“ Und einen Moment später fügte etwas leiser hinzu, während plötzlich ein spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht huschte: „Aber verlass´ Dich nicht zu sehr darauf!“ Sie sah Ludwig an. Ihr Lächeln wurde größer, als sie sein verdutztes Gesicht sah. Einen kurzen Moment lang fühlte sie sich besser. Ihr wurde plötzlich ganz leicht zumute. Die Last war von ihren Schultern gewichen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Wie lange hatte sie schon keine Späße mehr gemacht, zu denen sie früher ständig aufgelegt gewesen war? Tilda hatte plötzlich das Gefühl, wieder ein wenig zu sich zu kommen. Einen Wimpernschlag lang glaubte sie sogar, sie hätte etwas von ihrer lange vermissten Energie zurück. Doch das Gefühl war sofort wieder verschwunden, war wie ein Windhauch an ihr vorbeigegangen. Noch nie zuvor hatte sie sich so bedrückt und so elend gefühlt, wie an diesem Morgen.

      Sie warf Ludwig einen flüchtigen Kuss zu, indem sie die Lippen spitzte und wandte sich dann unmittelbar dem Haupteingang der Klinik zu. Festen Schrittes ging sie in diese Richtung. Erst als sie am Portal angekommen war drehte sie sich noch einmal um. Ludwig war nicht mehr da.

      Die große Eingangshalle des Krankenhauses war freundlich und hell. An den riesigen Fenstern zur linken und rechten Seite rann eine Flut von Regentropfen herab. Direkt vor sich sah Tilda die Türen mehrerer mattsilbern glänzender Aufzüge. Ganz vorn links saßen hinter der Anmeldung eine junge Frau und ein älterer Herr. Die schreiend grell blondierten und am Hinterkopf toupierten Zuckerwatte-Haare der jungen Frau hatten etwas von einem Hinterkopf-Geschwür. Ihre Gesichtszüge wurden von einer dicken Schicht Makeup überdeckt. Als Tilda sich ihr näherte telefonierte sie gerade, wobei man ihre langen, dunkelrot lackierten, künstlichen Fingernägel sah. Sie wirkten ein wenig skurril in dieser Krankenhaus-Umgebung. Graziös kritzelte sie mit der freien Hand etwas auf einen Notizzettel, wobei sie den Stift wegen der langen Nägel merkwürdig verkrampft hielt. Tilda war überrascht, dass sie mit diesen Fingernägeln überhaupt etwas schreiben konnte. In dem rosa Kittel, der sich über ihrer Brust spannte, erinnerte sie ein wenig an Miss Piggy von der Muppets Show. Irgendwie, fand Tilda, war sie zumindest rein optisch eine komplette Fehlbesetzung zwischen all den kranken Leuten. Selbst wenn sie möglicherweise nett war passte sie nicht in dieses Umfeld. Tilda hätte sich nicht an sie gewandt.

      Der Mann neben ihr war ein älterer, grauhaariger Herr. Er war ein freundlicher, väterlicher Typ mit kurzem, glatten Haar und einer gepflegter Erscheinung. Er trug bereits einige Knitter in seinem gutmütigen Gesicht und mochte fast schon das Rentenalter erreicht haben. Er schaute Tilda freundlich an und nickte ihr zu. Sein weißer Kittel, den er nur wie eine Jacke übergeworfen hatte, hing locker und mit offener Knopfleiste über seinen Schultern. Darunter sah man eine dunkelgraue Hose und ein hellblaues, langärmliges Oberhemd, das tadellos gebügelt war. Auf seiner Nase klemmte eine Halbbrille mit schmalen Gläsern, die er in Richtung Nasenspitze vorgeschoben hatte und die ihm irgendwie das Aussehen einer Spitzmaus gab. Seine braunen Augen musterten Tilda über den Brillenrand hinweg mit einem Blick, der etwas von einer Mischung aus Profi-Portier und Oberarzt hatte. Ihrem ersten Impuls folgend ging Tilda sofort auf ihn zu und wandte sich nicht an seine rosa Kollegin, die inzwischen das Telefon beiseitegelegt hatte. „Zum MRT? Zweiter Stock links und dann am Ende des Flures“, antwortete der sympathische Herr Tilda freundlich auf ihre Frage, wohin sie sich wenden müsse. Nachdem sie sich kurz bedankt und zum Gehen gewandt hatte, fügte er leise hinzu, als wäre es ein Geheimnis: „Viel Glück für sie!“ Tilda nickte, versuchte ein kleines Lächeln und entfernte sich schnell. Die Tränen schossen ihr erneut in die Augen. Sie wollte nicht, dass er es sah. Sie wollte keinen verweichlichten, hysterischen Eindruck machen, wollte nicht wie ein aufgescheuchtes Hühnchen erscheinen und das schon gar nicht vor diesem unbekannten Mann hinter der Rezeption. „Zweiter Stock links und dann am Ende des Flures“, murmelte sie entschlossen vor sich hin, als müsste sie sich selbst Mut zusprechen. Sie stieg in einen der Aufzüge und fuhr hinauf.

      Nachdem sie einen scheinbar endlos langen Flur mit glänzendem, grauem Kunststoff-Belag entlanggegangen war, betrat Tilda den Raum mit der Aufschrift „Wartezimmer MRT“. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Sie war überrascht, wie viele Patienten an diesem Morgen bereits dort saßen. Manche schienen vollkommen gesund zu sein, andere wirkten bleich und krank und dem Tode näher, als dem Leben. Außer ihr selbst waren noch acht weitere Patienten im Wartezimmer. Sie setzte sich neben ein hageres Mädchen mit hervorspringender Nase und dünnen Ärmchen, das einen weißen Jogginganzug mit der Aufschrift „Los Angeles“ trug. Es war vermutlich nicht älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre. Verstohlen musterte Tilda das junge Ding. Das Mädchen wirkte erstaunlich entspannt. Es hatte kupferrot gefärbtes, halblanges Haar, das dünn und ähnlich wie Spaghetti auf ihre Schultern herabhing. Es sah beinahe so aus, als wäre es gebügelt worden. Das Mädchen trug eine etwas überdimensionierte Brille mit einem dunklen Rand, die wohl besser zu einer Professorin gepasst hätte und viel zu groß für ihr schmales Gesicht war. Ihr blasser Nasenrücken war voll mit kleinen, hellbraunen Sommersprossen. Das Mädchen hieß Ana, wie sich bald herausstellte und schien ihrem Akzent nach osteuropäischer Abstammung zu sein. Ana erzählte ihr, dass sie in die 9. Klasse einer Realschule im Stadtzentrum ginge und sie lege besonderen Wert darauf, dass ihr Name nur mit einem „N“ geschrieben werde. Ana wusste bereits, dass sie einen Tumor im Gehirn hatte und tippte mit dem Zeigefinger vage in Richtung ihrer linken Schläfe, um Tilda die Stelle zu zeigen. Sie war nicht zum ersten Male hier und hatte gemäß ihrer Schilderung auch schon einige Chemo-Therapien und Bestrahlungen hinter sich, was den Tumor aber nicht beeindruckt hatte. Im Gegenteil. Er war während der Therapien einfach weiter gewachsen. Tilda hatte Mühe, ihr Entsetzen darüber zu verbergen. Ana winkte nur ab. Für sie schien das alles nicht so schlimm zu sein. Momentan war sie zu Hause und nur ambulant in der Klinik. Aber sie durfte trotzdem nicht zur Schule gehen. Darüber ärgerte sie sich. „Das Leben muss ja schließlich irgendwie weiter gehen, wissen sie?“, kommentierte sie ihre Situation lapidar. Tilda war außerordentlich überrascht, wie wenig Ana ihr Zustand zu beunruhigen schien. Es mochte wohl an ihrem jugendlichen Alter liegen, dass sie das wahre Ausmaß ihres Problems noch nicht erkennen konnte. Vielleicht nahm sie auch irgendwelche Psychopharmaka ein, die sie entspannt hielten. Später bekam Ana, wie einige andere der Wartenden und Tilda selbst auch, ein Kontrastmittel in Vorbereitung der Untersuchung in die Vene gespritzt. Tilda ließ die Prozedur widerstrebend über sich ergehen. Es brannte, als würde Zyankali durch ihre Adern rinnen. Die anderen schienen keine Probleme damit zu haben. Vielleicht lag das auch einfach nur daran, dass sie die falsche Einstellung hatte. Danach dauerte es noch einige Minuten, bevor Tilda endlich von einer forschen Schwester mit mindestens 130 kg Lebendgewicht und einem Stiernacken abgeholt wurde. Sie war riesig groß und steckte in einem überdimensionalen grünen OP- Kittel wie in einem Sack. Mit einem Ruck hatte die grüne Schwester eine Seitentür des Wartezimmers geöffnet, ihre Körperwalze mitten im Türrahmen positioniert und gedröhnt, als müsse sie in einem ganzen Saal für Ordnung sorgen: „Johannsen, Tilda?“ Tilda sprang erschrocken auf und folgte ihr dann. Ana nickte ihr zu. Sie war inzwischen mit ihrem Smartphone beschäftigt und blickte nur ganz kurz auf. Für sie war das hier schließlich Alltag. Kurz darauf fand sich Tilda allein im Untersuchungsraum wieder. Sie lag auf dem Rücken auf einer schmalen, weißen Liege und glitt in den Untersuchungstunnel. Die angebotenen Ohrstöpsel gegen den Lärm hatte sie dankbar angenommen. Es roch nach Desinfektionsmittel, Kunstleder und irgendwie merkwürdig nach Technik und Metall. Über eine Scheibe hatte sie anfangs noch in den Raum nebenan sehen können, wo offensichtlich ein Arzt und eine Krankenschwester das Geschehen


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