Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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Es stimmte schon. Sie brauchte dringend die unabhängige Diagnose eines fremden Arztes. Eines Arztes, der nichts über sie wusste. Es mochte schon sein, dass die Krankheiten der Pädagogen oft psychische Ursachen hatten. Sie war sich aber ziemlich sicher, dass das bei ihr nicht der Fall war.

      Einerseits war Tilda bei dem Gedanken an eine Diagnose für sich voller Hoffnung. Andererseits wiederum war da auch ganz viel Angst. Sie hatte keine Ahnung, wie es für sie weitergehen sollte. Nur eines stand fest: Der Alptraum mit ihrer merkwürdigen Krankheit musste endlich ein Ende haben. Die Ungewissheit war das Allerschlimmste für sie. In diesem Moment entschloss sich Tilda dazu, sofort nach ihrem Unterricht in die Sprechstunde zu diesem Dr. Umlauf zu fahren. Alle anderen Termine waren nicht so wichtig.

      Mit diesem Entschluss schlüpfte sie in die Klasse und schloss die Tür geräuschvoll hinter sich. Ihre Schüler trotteten langsam auf ihre Plätze und die Geräuschkulisse ebbte ab. Der Physik-Unterricht in der 8. Klasse erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit und lenkte sie ab. Tilda empfand diese andere Art von Anspannung, die sie erfasste, wenn sie unterrichtete, jetzt als wohltuend. Sollte ihre Krankheit am Ende tatsächlich psychisch sein?

      Bereits am frühen Nachmittag saß sie weder in der anberaumten Lehrerkonferenz, noch korrigierte sie Hefte, so wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Stattdessen saß sie im Wartezimmer der Hausarztpraxis von Dr. Umlauf. Mehrere weinerliche, kreischende und hustende Kleinkinder turnten um sie herum. Deren Mütter waren zwar anwesend, taten aber mehrheitlich so, als würde es sich keineswegs um ihren eigenen, quengelnden Nachwuchs handeln. Sie unterhielten sich vollkommen entspannt miteinander. Die Wartezeit schien Tilda zur Ewigkeit zu werden. Ihr Blick ging hinüber zu den Frauen, die fast alle deutlich jünger zu sein schienen, als sie selbst es war. Je länger sie sie beobachtete, desto mehr fiel ihr deren Mangel an Intelligenz auf, der unübersehbar war. Tilda war ein wenig entsetzt über ihre eigenen Gedanken, wusste aber gleichzeitig auch, dass sie ihrer Wahrnehmung vertrauen konnte.

      Unkonzentriert blätterte sie in einer Illustrierten herum, die sie sich von dem kleinen Tischchen in der Ecke des Wartezimmers geholt hatte. Sie dachte darüber nach, warum gerade solche Mädchen so früh Kinder bekommen mussten. Unauffällig sah sie von einer zur anderen. Eine von ihnen, die ihr genau gegenüber saß, war eine wohl knapp Zwanzigjährige, mit pechschwarz gefärbtem Haar und auffällig ungesundem Teint. Sie präsentierte ungeniert einen unter ihrem T-Shirt hervorquellenden Bauch, bunt tätowierte Unterarme und krude Umgangsformen. Gerade in diesem Moment bat sie die neben ihr sitzende darum, mal kurz auf ihren „Timossi“ aufzupassen. Sie wollte offenbar rauchen gehen. Bei der Ansage seiner Mutter plärrte „Timossi“ augenblicklich los, was die junge Mutter aber ignorierte. Sie verließ trotzdem ungerührt das Wartezimmer. Ihr zweites Kind, einen Säugling in einer Babytrage vor ihrer Brust, nahm sie zum Rauchen mit nach draußen. Tilda war entsetzt. Der Mikrokosmos Wartezimmer schockierte sie. Sah so die Realität an der Basis der Gesellschaft aus? Bei Dr. Pfeifer hatte sie nie lange warten müssen. Jetzt fragte sie sich, ob das hier die Errungenschaften der modernen Wohlstandsgesellschaft waren, die keinen fallen ließ. Waren diese jungen Mütter nicht die Kinder von gestern, über die sie selbst gemeinsam mit ihren Pädagogen-Kollegen immer gesagt hatten, man müsste ihnen noch mehr Angebote machen? War sie nicht selbst auch immer eine derjenigen gewesen, die diese Strategie für die Beste gehalten hatte? Das Ergebnis dieser vielen Angebote machte einen ernüchternden Eindruck. Es sah so aus, als hätten diese Mädels schon viel zu viele Angebote bekommen. Angebote, die offensichtlich zu nichts geführt hatten. Vermutlich wäre es besser gewesen, stattdessen etwas von ihnen zu fordern.

      Tilda schauderte bei dem Gedanken daran, dass diese Kinder mit ihren Müttern in einigen Jahren auch an ihrer Schule erscheinen würden. Obwohl sie sich schwach und elend fühlte, stieg bei diesem Gedanken so etwas wie Ärger in ihr auf. Die deutsche Solidargemeinschaft fing alle auf und auch diese jungen Mütter fühlten sich sicher überaus wohl bei dem Gedanken daran, dass sie möglicherweise bei einem cleveren Management ihrer Schwangerschaften fast lebenslang ohne zu arbeiten in der sozialen Hängematte dieses Landes liegen konnten. Trotzdem würde unweigerlich der Tag kommen, an dem sie sich über ihre Situation beschweren würden. Tilda kannte dieses Phänomen bereits. Wer würde ihnen dann die Angebote machen, an die sie sich so gewöhnt hatten?

      Die tätowierte Raucherin mit dem Baby vor der Brust war inzwischen zu ihrem Sohn „Timossi“ zurückgekehrt. Während der unsanft mit einem Holzbaustein auf den Kopf eines kleinen, plärrenden Mädchens schlug, waren die vier jungen Mütter schon wieder eifrig in ihr Gespräch vertieft. Ein schaler Geruch von dünnem Tabakqualm verteilte sich im Wartezimmer. Der freundliche, ältere Herr, der neben Tilda saß, und dem sie bisher kaum Beachtung geschenkt hatte, versuchte sie in ein Gespräch über sein Rheuma zu verwickeln. Tilda blieb einsilbig. Sie wollte sich nicht unterhalten. Sie war bis aufs Äußerste angespannt in Erwartung der Dinge, die sie auf sich zukommen sah. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich plötzlich die Tür zum Sprechzimmer und eine ältere, freundlich um sich blickende Schwester im hellblauen Kittel und mit weißen Schuhen schwebte herein. Sie rief Tilda ins Sprechzimmer.

      Dr. Umlauf hatte das sechzigste Lebensjahr sicher schon längst hinter sich gelassen. Er hatte eisgraues Haar und wirkte etwas angespannt, aber wohlwollend. Er war ein sympathischer Mann, auf den die Beschreibung „Hausarzt“ allein von der Optik her schon perfekt passte. Der Arzt war untersetzt und nicht sehr groß. Seine dunkelbraunen Augen blickten gütig unter den buschigen Augenbrauen hervor durch seine randlose Brille. Die schien recht stark zu sein und vergrößerte seine Augen auffallend. Tilda hatte sofort das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Irgendwann, wie auf ein geheimes Signal hin, trippelte später eine junge, blonde Krankenschwester im rosa Kittel lautlos herein und nahm ihr Blut ab. Es war eine ganze Menge Blut, das sie auf verschiedene Röhrchen verteilte.

      Etwa eine halbe Stunde später verließ Tilda mit einem Dringlichkeitstermin für die Magnetresonanztomographie am nächsten Tag die Praxis. Sie fühlte sich unsicher, war aber trotz allem irgendwie glücklich, die erste Hürde genommen zu haben. Dr. Umlauf hatte sich mit seiner Diagnose zurückgehalten. Es war nicht viel, was er zu ihren Symptomen gesagt hatte.

      Tilda atmete auf, als die Praxistür hinter ihr ins Schloss fiel. Sie ging die drei Treppenstufen zur Straße hinunter. Dort, in der ruhigen Nebenstraße, hatte ebenfalls der Frühling Einzug gehalten. In den Vorgärten waren schon überall hellgrüne Blätter an Sträuchern und Bäumen und eine weiß blühende Hecke verströmte einen leichten, angenehm süßen Duft. Die großen Fliederbüsche im Garten gegenüber trugen bereits kleine Knospen. So etwas wie eine Art Entspannung überkam Tilda. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass keine Diagnose besser war, als eine schlechte. Und doch war da ihr ungutes Bauchgefühl, das trotzdem alles überlagerte. Es gelang ihr nicht, es abzuschütteln, so sehr sie sich auch bemühte und sich zwang, an etwas anderes zu denken. Je länger sie es versuchte, desto unsicherer wurde sie. In ihrem Kopf dachte und dachte es. Ihr Gehirn fühlte sich wie ein Fremdkörper an, auf den sie keinen Zugriff mehr hatte. Die wenigen klaren Gedanken, die sie festhalten konnte, zerplatzten nach kurzer Zeit wie Seifenblasen. Sie fühlte sich, als hätte sie die Orientierung in ihrem eigenen Leben verloren. Ihr Körper war schwer, als würde er durch einen riesigen Magneten nach unten gezogen. Hinab in die Tiefe, in die Dunkelheit, irgendwohin. Es war eine kalte, unbarmherzige Mischung aus Ungewissheit und Angst. Je länger dieser Zustand andauerte, desto furchtbarer fühlte sie sich. Was, wenn das ihr letzter Sommer wäre? Dr. Umlauf hatte sie so merkwürdig angesehen. Hatte sie am Ende vielleicht Krebs? Oder war sie inzwischen überängstlich und bildete sich das alles nur ein?

      Ihr war so übel, dass sie sich zusammenreißen musste, um sich nicht augenblicklich zu übergeben. Sie blieb stehen und hielt sich an dem weiß gestrichenen Gartenzaun des Nachbarhauses fest. Irgendwo bellte ein Hund. Sie atmete tief durch. Passanten gingen an ihr vorbei und sahen sie neugierig an, musterten sie von Kopf bis Fuß. Niemand sagte etwas. Manche von ihnen drehten sich noch einmal um. Tilda musste all ihre Kräfte zusammen nehmen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie rang um ihre Fassung. Vor dem Zaun des Nachbarhauses mit der sonnengelben Fassade stand eine Bank aus Holz. Tilda ging langsam und konzentriert darauf zu. Zögernd setzte sie sich. Sie wollte unbedingt vermeiden, einen hilflosen Eindruck zu machen.

      Einen Moment lang schloss sie die Augen. Die warme Frühlingssonne wärmte ihr Gesicht. Hinter ihren geschlossenen


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