Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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Krankheit vielleicht unheilbar wäre? Wenn sie daran sterben würde? Jetzt? Bald? Schreckliche Gedanken rasten nur so an ihr vorbei. Tilda nahm einige tiefe Atemzüge und versuchte mit aller Kraft, diese schlimmen Gedanken aus ihrem Gehirn zu verbannen. Verzweifelt bemühte sie sich, positiv zu denken. Vielleicht war ja doch alles gar nicht so schlimm? Vielleicht war alles vollkommen harmlos? Blinder Alarm sozusagen? Vielleicht würde sich ihre Krankheit auch einfach im Nichts verlieren? Dann wären alle ihre Sorgen umsonst gewesen. Vermutlich würde sie sich dann darüber ärgern, sich so aufgeregt zu haben. Sie fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Gab es überhaupt etwas, das sie in ihrem Zustand tun konnte? Tilda versuchte, ihre flatternden Gedanken zusammen zu sammeln wie ein Schäfer seine verstreute Herde auf einer großen Wiese. Es war sehr beschwerlich für sie.

      Sie hatte das Gefühl, als habe ein riesiger Krake, der seine Fangarme um ihren Körper und ihren Kopf geschlungen hatte, ihr die Luft zum Atmen genommen. Je länger sie allein auf der Bank saß, desto schlimmer wurde das beängstigende Gefühl. Tilda begann zu frösteln. Ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Sie bemühte sich, das Geräusch zu unterdrücken, aber das war schwer. Die Angst hockte trotzig auf ihrer Brust. Tilda gab sich alle Mühe, gleichmäßiger zu atmen und sich nur noch darauf zu konzentrieren. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Es war eine sehr lange halbe Stunde, bis sie sich zutraute, sich endlich auf den Weg nach Hause zu machen.

      Während sie auf dem Heimweg war, überlegte sie, ob sie das Rezept von Dr. Umlauf überhaupt in der Apotheke einlösen sollte. Es wäre ein Medikament gegen Übelkeit, das er ihr verschrieben hatte. Wahrscheinlich würde sie es wenig später, spätestens nach dem Lesen des Beipackzettels, im Badezimmerschrank verschwinden lassen. Sie kannte sich. Sie wollte keine Pillen. Sie wollte eine Diagnose. Solange ihr niemand genau sagen konnte, warum ihr ständig übel war und woher das Druckgefühl in ihrem Bauch kam, wollte sie auf keinen Fall irgendetwas einnehmen. Tilda war sich sicher, dass es eine Ursache für ihre Probleme gab. Es gab für alles eine Ursache, die man finden konnte, wenn man nur ausdauernd danach suchte. Sie seufzte. Wenn es ihr besser gegangen wäre, hätte sie keine einzige Sekunde lang auch nur in Erwägung gezogen, jetzt in die Apotheke zu gehen. Doch ihre Angst war inzwischen gewachsen. Instinktiv spürte sie, dass sie jetzt Kompromisse mit sich selbst machen musste.

      Also betrat sie kurzentschlossen die nächste Apotheke. Die Apothekerin war eine reserviert wirkende Dame in mittleren Jahren. Sie hatte ihr dunkles Haar kunstvoll zu einem Dutt aufgedreht, der elegant mit einer kupferfarbenen Haarspange festgesteckt war. Ihre Haut war bleich und ihre grauen Augen musterten Tilda kurz, nachdem sie das Rezept gelesen hatte. Wortlos verschwand sie mit dem Stück Papier nach hinten. Tilda blickte um sich. Die große Uhr an der Wand ihr gegenüber tickte leise. Ansonsten war es vollkommen still im Raum. Sie war die einzige Kundin. Ihr Blick glitt über die Auslagen. Der gesamte Verkaufsraum war vollgestopft mit Regalen, Schränken, Ständern, Postern und Werbeaufstellern. Alles war bunt und fröhlich. Fast schon hatte sie das Gefühl, inmitten eines normalen Supermarktes zu stehen.

      Ihr Blick fiel auf ihr eigenes Abbild in dem riesigen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand zwischen den beiden großen Fenstern, durch die man die Passanten draußen vorbeieilen sehen konnte. Ein Dreiklang-Gong ertönte. Zwei ältere Damen betraten miteinander tuschelnd die Apotheke. Tildas Blick verfing sich wieder im Spiegel.

      Sie musterte sich. Auf den ersten Blick schien es, als wäre das ihr vertrautes Spiegelbild. Eine junge Frau, schlank, mit blondem Haar, blauen Augen und einer sportlichen Kurzhaarfrisur in dunkelblauer Wetterjacke und hellen Jeans. Tildas Haar war links gescheitelt und ein nach rechts gekämmter Pony gab ihr ein mädchenhaftes Aussehen. Die Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster hereinfielen, ließen es goldfarbenen schimmern. Einige Haarsträhnen hatte der Frühlingswind zerzaust. Mit einem verstohlenen Blick auf die beiden alten Damen strich sie mit der Hand unauffällig darüber. Tilda sah sich im Spiegel an, als sähe sie sich zum ersten Mal. Ihre sonst so klaren Augen schauten ihr ungewohnt trüb und tiefliegend entgegen. Darunter zeichneten sich dunkle Ränder ab. Ihre Lidränder wirkten gerötet. Ihre Haut war fahl. Die Helligkeit im Raum unterstrich diesen Eindruck nur noch mehr. Tilda empfand ihre Nase als noch spitzer und noch vorstehender, als gewöhnlich. Sie machte ein bisschen den Eindruck, als wäre sie aus Holz geschnitzt und gehörte gar nicht zu ihrem Gesicht. Ihre sonst vollen Lippen wirkten schmaler als sonst und sehr blass. Sie schienen blutleer und standen kaum noch in einen Kontrast zu ihrer Haut. Die dunkelblaue, winddichte Jacke, die Tilda eigentlich gern mochte, machte im Spiegel den Eindruck, als wäre sie mit ihrem kräftigen Farbton viel zu schwer und viel zu groß für ihren zerbrechlichen Körper. In diesem Moment wirkte sie so massiv an ihr wie eine Rüstung. Tildas Augen wanderten abwärts über die hellen Bluejeans zu ihren in grau-weißen Turnschuhen steckenden Füßen. Sie hatte den Eindruck, als wäre sie insgesamt kleiner geworden, als stünde sie auf eine merkwürdig fremde Art gebeugt. Es war ihr, als trüge sie auf dem Rücken eine unsichtbare Last. Hager sah sie aus, ausgemergelt und übernächtigt. Sie richtete sich unwillkürlich ein wenig auf, bemühte sich, ganz gerade zu stehen. Ihr Spiegelbild veränderte sich dadurch kaum. Sie sah an ihren Oberschenkeln herab, die sichtlich dünner unter ihrer Jacke hervorschauten, als früher. Ihr Blick streifte noch einmal ihre blassen, eingefallenen Wangen. Das blühende Leben sah wahrlich anders aus. Noch fühlte sie sich nicht krankhaft abgemagert. Aber was würde auf sie zukommen, wenn das so weiter ginge? Dieser Gedanke ließ sie nicht los.

      In diesem Moment erschien die Apothekerin in dem Durchgang hinter dem Verkaufstresen zurück, der sich in der Wand voller Regale und Schubladen aus dunklem Holz befand. Die Regalreihen über dem Durchgang waren mit alten, dekorativen Salbentöpfen und mit antik anmutenden Aufbewahrungsbehältern aus Porzellan und Glas vollgestopft. Sie trugen verschnörkelte Aufschriften. Links und rechts über der Tür thronten zwei fast identische Mörser aus kupferfarbenem Metall, in denen jeweils ein Pistill steckte wie ein stummer Wachsoldat.

      Die Apothekerin notierte schweigend etwas auf dem Rezept und schob Tilda die Packung mit den Tabletten über den gläsernen Ladentisch. „Kennen sie sich damit aus? Dreimal eine Tablette, nicht mehr als maximal fünf am Tag.“, sagte sie eindringlich und ein wenig lispelnd. Tilda nickte stumm, griff nach der Schachtel, zahlte und verabschiedete sich. Die beiden älteren Damen, von denen eine ein fliederfarbenes Filzhütchen keck auf dem weiß gelockten Haar trug, schwatzten derweil munter weiter miteinander und ließen sich gar nicht stören.

      Draußen auf der Straße erfasste Tilda eine Art von Erleichterung. Der kühle Frühlingswind fuhr ihr mit seinen kleinen Böen durchs Haar und kühlte ihr Gesicht. Nur ganz langsam fiel die Anspannung des Tages von ihr ab. Eine große Müdigkeit kam. Sie wollte nur noch nach Hause. Morgen Nachmittag würde sie zur MRT gehen. Es war gut, dass der Termin schon so bald war. Sie brauchte endlich Gewissheit darüber, was es war, das ihr die Lebenskräfte raubte. Eigentlich war alles besser, als dieser momentane Zustand der Ungewissheit. Tilda beschleunigte ihre Schritte so gut es ihr möglich war. Sie richtete ihren Blick in die Ferne. Was immer es auch mit ihr nicht stimmte, sie würde es in Kürze wissen. Sie nahm wieder diesen unsichtbaren Sog wahr, der sie scheinbar nach unten, in die Erde zog. Er machte ihre Schritte schwer und drückte ihre Brust zusammen wie ein eisernes Band.

      Zwei Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dabei hatte sie sich vorgenommen, nicht zu weinen. Sie wusste, dass Weinen vollkommen nutzlos war. Es würde sie kein Stück weiter bringen. Nichts wurde besser durch weinen. Noch dazu fürchtete sie sich vor den neugierigen Blicken der Leute. Sich gehen zu lassen würde sie nur schwächer und hilfloser machen. Noch schwächer und noch hilfloser, als sie sich ohnehin schon fühlte. Es gab niemanden, der ihr die schwere Last von den Schultern nehmen konnte.

      Entschlossen wischte Tilda sich die Tränen mit dem Handrücken fort. Sie blieb einen kleinen Moment lang stehen, um sich zu beruhigen. Währenddessen kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und rief sich ins Gedächtnis, dass sie sich fest vorgenommen hatte, positiv zu bleiben. Ein kleiner, kalter Schauer durchströmte ihre Brust und der Druck im Innern nahm einen Augenblick lang ab, während sie ausatmete. Solange nichts fest stand hatte sie, genau betrachtet, kein Problem. Was sie dachte und was sie befürchtete tat nichts zur Sache. Es war nichts erwiesen, also gab es keinen Grund, sich jetzt verrückt zu machen.

      Die Menschen gingen an ihr vorbei und ab und zu spürte Tilda,


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