Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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war es vermutlich auch nicht besser. Meist blieb der Deckel auf dem Topf. Nur selten kochte er über. Aus ihrem Arbeitsplatz wurde dann kurzzeitig so etwas wie ein vibrierender Ameisenhaufen. Aber diese Zustände waren gewöhnlich nicht von langer Dauer.

      In jedem Falle aber versuchte Tilda, ihr Berufsleben so entspannt wie möglich zu sehen. Natürlich gab es die Querelen der Kollegen mit dem Angezicke untereinander. Und es gab den Disput mit den Eltern der Schüler, die immer häufiger völlig unrealistische Ansichten vertraten. Oder die Probleme mit den Migranteneltern, die von irgendwoher aus der Welt nach Deutschland gekommen waren, um eine Zukunft in Wohlstand zu erleben. Das war verständlich. Obwohl Tilda inzwischen der Meinung war, dass sich die Menschen anderer Konfessionen besser kein christliches Land für ihre neue Zukunft ausgesucht hätten. Sie hatte längst beobachtet, dass sich viele von ihnen nicht in die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit ihren Werten integrieren wollten. Allzu oft erlebte sie den Frontalcrash zwischen der Weltanschauung und den Glaubensinhalten der Migranteneltern und den deutschen Normen und Wertvorstellungen mit. Die Schule war nicht der geeignete Ort, um die Probleme dieser Eltern zu lösen. Erst in der letzten Woche war da wieder der erboste Brief eines arabischen Vaters auf den Tisch des Direktors geflattert, der darauf bestand, aufgrund seines Glaubens und dem seiner vier Kinder an der Schule das Schweinefleisch generell aus der Schulkantine zu verbannen. Tilda wusste, dass solche Forderungen auch schon an Direktoren anderer Schulen herangetragen worden waren.

      Sie ärgerte sich über derlei Respektlosigkeiten. Vielleicht wäre der Mann unter diesen Umständen mit seiner Familie besser nicht nach Deutschland, sondern in eines der sechsundfünfzig muslimischen Länder dieser Welt ausgewandert, die es außer seinem Herkunftsland noch gab. Dann hätte er viele Probleme nicht und der Schule seiner Kinder ginge es ebenso. Tilda wusste, dass nicht alle Kollegen ihre Sichtweise teilten. Doch sie hatte immer zu ihrer Meinung gestanden. Die Wahrheit musste schließlich die Wahrheit bleiben und durfte nicht schöngeredet werden. Wenn die Migrantenfamilien Deutschland wählten, dann war es selbstverständlich, dass sie sich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren mussten. Schon im Interesse ihrer Kinder war das unumgänglich. Niemand hatte diese Menschen dazu gezwungen, nach Deutschland zu kommen. Niemand hatte hier auf sie gewartet. Wenn es Probleme mit der Integration gab, dann mussten letztendlich immer die Kinder darunter leiden. Die Kinder, die sich später als Erwachsene ständig darüber beschweren würden, dass sie in diesem Staat nur Bürger zweiter Klasse waren. Das war die unausweichliche Folge der fehlenden Integrationsbereitschaft ihrer eigenen Elternhäuser. Tilda fand das traurig für diese Kinder. Und sie fand es auch gefährlich. Diese Kinder steckten zwischen zwei Welten fest und konnten sich nicht dagegen wehren. Als Lehrerin versuchte sie in solchen Fällen immer, mit den Eltern zu reden. Leider waren ihre Bemühungen in dieser Hinsicht meist wenig erfolgreich.

      Trotzdem war sie immer darum bemüht, den Stress aus der Schule nicht mit nach Hause zu nehmen. Und sie machte zunehmend Fortschritte damit. Damit, auch einmal einfach „nein“ zu sagen. Früher war ihr das noch schwerer gefallen, als in den letzten Jahren. Jetzt machte es sie stolz, dass sie das ab und zu schon überzeugend hinbekam. Sie hatte festgestellt, dass es das Leben ungemein erleichterte, im richtigen Moment „nein“ sagen zu können.

      Auch in anderer Hinsicht war die Schule natürlich immer für ein wenig Aufregung gut. Da gab es das Zerren im Kollegenkreis um die besten Pöstchen und die ewigen Gehaltsdebatten, die Vertretungspläne, den Kleinkrieg zwischen den verbeamteten und den nicht verbeamteten Kollegen und denen mit befristeten und unbefristeten Arbeitsverträgen. Auch das Problem mit dem Essen aus der Schulkantine, das eigentlich ganz wohlschmeckend war, aber vollständig ungesund und voller Konservierungsstoffe, kam regelmäßig wieder an die Oberfläche wie ein gasgefüllter Ballon. Und natürlich brachten auch die Schüler selbst allerlei Bewegung mit sich. Ein Sack Flöhe war vermutlich einfacher zu bändigen, als sie. Und doch: summa summarum waren die Schüler genau genommen diejenigen, die im Endeffekt die geringsten Probleme verursachten. Viele davon erledigten sich im Laufe der Zeit von allein, auch wenn das keiner ihrer Pädagogen-Kollegen offiziell hören wollte. In einer Schule wie der ihren gab es tatsächlich Probleme, die man als Lehrer aussitzen musste. Lehrer konnten definitiv nicht alles klären. Noch dazu gab es für alles im Leben eines Menschen den richtigen Zeitpunkt. Es war also sinnlos, den Fluss schieben zu wollen oder an den Halmen zu ziehen, damit das Gras schneller wuchs. Wenn es nicht der richtige Zeitpunkt war, dann waren oft alle Bemühungen umsonst. Manche Schüler brauchten eben mehr Zeit, als andere. Und bei einem Teil von ihnen war der Zug dann eben leider abgefahren, auch wenn sie sich endlich doch noch bequemten. Schüler änderten ihr Verhalten wie alle anderen Menschen auf dieser Welt eben auch erst dann, wenn sie selbst es wollten und nicht, wenn ihr Lehrer oder ihre Eltern meinten, es wäre gut für sie. Das war die Realität. Tilda hätte früher nie gedacht, dass sie das einmal so abgeklärt sehen würde. Fünf Jahre Schuldienst hatten sie zu Erkenntnissen geführt, hatten ihr die Augen geöffnet. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war Tilda Optimistin geblieben. In ihren Augen war das Glas immer halbvoll und nie halbleer.

      Ludwigs Schnarch-Orgie neben ihr hatte ein jähes Ende gefunden. Die Stille irritierte Tilda und riss sie aus ihren Gedanken. Mit einem Schwung schlug sie ihre Bettdecke zurück. Während sie noch einen allerletzten Moment lang auf der Bettkante saß, begann Ludwigs Geschnarche neben ihr erneut. Sie hatte sich zu früh gefreut. Jetzt, wo sie hellwach war, kroch so etwas wie Wut in ihr hoch. Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Es gab nichts, was sie an der Situation ändern konnte. Letzten Endes war die Wohnung groß genug und zur Not würde sie auch nebenan im Arbeitszimmer schlafen können. Ludwig würde das bestimmt nicht gefallen, doch schließlich war er derjenige, der jede Nacht mit der Säge in den Wald ging. Er war der Verursacher des Problems, also würde er mit ihrer Entscheidung leben müssen.

      Tilda erhob sich leise. Ihre Füße berührten den kühlen, glatten Fußboden mit den Holzdielen. Mit einem Mal verspürte sie wieder diese stumme Übelkeit, die sie seit Monaten in unregelmäßigen Abständen überkam. Langsam kroch sie in ihr hoch und schien sich bis in die letzte ihrer Zellen auszubreiten, schien sie zu überschwemmen wie eine Flut. Sie empfand dabei auch einen dumpfen Schmerz im Oberbauch. Allein bei dem Gedanken an Frühstück drehte sich ihr fast der Magen um. Dabei hatte sie ihr Frühstück früher immer so geliebt.

      Tilda hatte nicht die geringste Ahnung, woher ihr Problem kam. Es gab keine Regel für diese Erscheinungen und erst recht keine Erklärung. Schon seit Weihnachten quälte sie sich damit herum. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der Spuk endlich vorbei wäre. Sie hatte genug davon.

      Ratlos hielt sie inne und nestelte mit den Fingern an dem kratzenden Schild in ihrem Nacken herum, direkt am Halsausschnitt ihres Schlafanzuges. Es piekte und schabte. Es war einfach unerträglich. Sie fühlte sich unwohl genug. Sie brauchte das nicht auch noch. Müde raffte sie sich auf und ging leise ins Badezimmer. Dort schnitt sie das Schild kurzentschlossen heraus und warf es ärgerlich in den silbernen kleinen Mülleimer unter dem Waschbecken. Ratlos setzte sie sich dann auf den kleinen Holzhocker, der in der Ecke stand. Alles war irgendwie verändert. Sie war innerlich ständig angespannt, seitdem sie sich nicht mehr wohlfühlte. Und irgendwie war sie dadurch auch ständig auf Krawall gebürstet, hätte wegen jeder Kleinigkeit aus der Haut fahren können. Sie merkte das selbst, aber sie konnte nichts dagegen tun.

      Leider war es unmöglich, die schreckliche Übelkeit und den Druck in ihrem Oberbauch so einfach loszuwerden wie das Schild aus ihrem Schlafanzug. Wenigstens sollte ihre Befindlichkeitsstörung aber nichts Schlimmes sein. Zumindest hatte das Dr. Pfeifer gesagt. Dr. Pfeifer war ihr Hausarzt, in dessen Sprechstunde sie deshalb schon zweimal gewesen war. Doch noch immer waren die lästigen Beschwerden nicht verschwunden. Lag es am Ende doch daran, dass sie die Tabletten nicht eingenommen hatte, die er ihr verschrieben hatte? Sie hatte sein Rezept in Wahrheit noch nicht einmal in der Apotheke eingelöst. Sie trug es noch immer irgendwo in ihrer Handtasche mit sich herum. Tilda mochte keine Tabletten. Seit Jahren hatte sie keine Medikamente mehr angerührt. Ihr Misstrauen gegen diese chemischen Mittel war zu groß. Das hatte seinen Grund in der Vergangenheit.

      Damals, vor vielen Jahren, als sie etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Doro, die eigentlich Dorothea hieß, auf einer Zugfahrt von Hamburg nach Köln eine Frau kennengelernt. Ihre Mutter hatte sich die ganze Zeit über angeregt


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