Das Geld. Emile Zola

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Das Geld - Emile Zola


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die den Armen und Erniedrigten das Glück bringen sollte. Seitdem sein Meister, aus Deutschland verbannt und gezwungen, nach den Junitagen37 auch Paris zu verlassen, in London lebte, dort schrieb und sich bemühte, die Partei zu organisieren, vegetierte Sigismond, in seine Träume versponnen, dahin und kümmerte sich derart wenig um sein leibliches Wohlergehen, daß er sicher verhungert wäre, wenn nicht sein Bruder ihn in der Rue Feydeau nahe der Börse aufgenommen und auf den Gedanken gebracht hätte, seine Sprachkenntnisse zu nutzen und sich als Übersetzer niederzulassen. Dieser ältere Bruder vergötterte seinen jüngeren Bruder mit wahrhaft mütterlicher Leidenschaft; ein grausamer Wolf für die Schuldner und sehr wohl imstande, einem Menschen, der schon verblutete, noch zehn Sous zu stehlen, war er sogleich zu Tränen gerührt und besaß die leidenschaftliche, umsichtige zarte Fürsorge einer Frau, sobald es sich um diesen zerstreuten großen Jungen handelte, der ein Kind geblieben war. Er hatte ihm das schöne Zimmer zur Straße gegeben, er bediente ihn wie ein Kindermädchen, führte ihren absonderlichen Haushalt, kehrte aus, machte die Betten und kümmerte sich um das Essen, das zweimal am Tag aus einer kleinen Gastwirtschaft in der Nachbarschaft heraufgebracht wurde. Er, der immer beschäftigt war und den Kopf mit tausenderlei Geschäften voll hatte, duldete den Müßiggang seines Bruders, denn mit dem übersetzen ging es nicht voran, persönliche Arbeiten hinderten ihn daran; er verbot ihm sogar zu arbeiten, da er über ein böses Hüsteln beunruhigt war. Und trotz seiner hartherzigen Liebe zum Geld, seiner mörderischen Raffgier, die in der Eroberung des Geldes den einzigen Daseinszweck erblickte, lächelte er nachsichtig über die Theorien des Revolutionärs, überließ ihm das Kapital, wie man einem Bengel ein Spielzeug läßt, auch auf die Gefahr hin, sehen zu müssen, wie er es zerbricht.

      Sigismond seinerseits ahnte nicht einmal, was sein Bruder im Nebenzimmer trieb. Er wußte nichts von diesem schrecklichen Geschäft mit den entwerteten Papieren und dem Kauf von Schuldforderungen, er lebte in höheren Sphären, in einem alles beherrschenden Traum von Gerechtigkeit. Der Gedanke an Barmherzigkeit verletzte ihn, brachte ihn außer sich: Barmherzigkeit war das Almosen, die durch Güte geheiligte Ungleichheit, er aber ließ nur die Gerechtigkeit gelten, die zurückeroberten, in unverbrüchlichen Grundsätzen der neuen Gesellschaftsordnung verankerten Rechte eines jeden einzelnen. Im Gefolge von Karl Marx, mit dem er in ständigem Briefwechsel stand, verbrachte er seine Tage damit, diese Ordnung zu studieren, unaufhörlich die Gesellschaft von morgen auf dem Papier zu verändern und zu verbessern, riesige Bogen mit Zahlen zu bedecken und auf der Grundlage der Wissenschaft das komplizierte Gerüst für das universelle Glück aufzubauen. Er nahm den einen das Kapital weg, um es unter die anderen aufzuteilen, er bewegte die Milliarden hin und her, verschob mit einem Federstrich das Vermögen der Welt, und das in dieser kahlen Stube, ohne eine andere Leidenschaft als seinen Traum, ohne jegliches Bedürfnis nach Genuß; er lebte so bescheiden, daß sein Bruder erst böse werden mußte, damit er einen Schluck Wein trank und etwas Fleisch aß. Er, der sich bei der Arbeit umbrachte und von nichts lebte, wollte, daß die Arbeit eines jeden Menschen seinen Kräften angemessen sei und die Befriedigung seiner Wünsche gewährleisten solle. Losgelöst vom irdischen Leben, sehr sanft und sehr rein, begeisterte er sich wie ein wahrer Weiser nur am Studium. Seit dem letzten Herbst hatte sich sein Husten immer mehr verschlimmert, die Schwindsucht verheerte ihn, ohne daß er es überhaupt nur zur Kenntnis nahm und sich schonte.

      Doch als Saccard eine Bewegung machte, hob Sigismond erstaunt die großen verschwommenen Augen und wunderte sich, obwohl er den Besucher kannte.

      »Ich möchte mir nur einen Brief übersetzen lassen.«

      Die Überraschung des jungen Mannes wuchs, denn er hatte die Kunden entmutigt, die Bankiers, die Spekulanten und die Wechselmakler, diese ganze Börsenwelt, die besonders mit England und Deutschland einen umfangreichen Briefwechsel unterhielt, Rundschreiben und Gesellschaftsstatuten empfing.

      »Ja, ein Brief in russischer Sprache. Oh, bloß zehn Zeilen.«

      Nun streckte er die Hand aus, Russisch war sein Spezialfach geblieben, und von allen anderen Übersetzern im Viertel, die vom Deutschen und Englischen lebten, übersetzte er allein es fließend. Die Seltenheit der russischen Schriftstücke auf dem Pariser Markt erklärte, weshalb er oft lange Zeit ohne Arbeit war.

      Mit lauter Stimme las er den Brief auf französisch vor. Er enthielt ganz kurz in drei Sätzen die günstige Antwort eines Bankiers aus Konstantinopel, ein einfaches Ja in einer geschäftlichen Angelegenheit.

      »Oh, danke«, rief Saccard, der sehr erfreut zu sein schien.

      Und er bat Sigismond, die paar Zeilen der Übersetzung auf die Rückseite des Briefes zu schreiben. Aber dieser bekam einen schrecklichen Hustenanfall und hielt sich das Taschentuch vor den Mund, um seinen Bruder nicht zu stören, der immer gleich herbeilief, sobald er ihn so husten hörte. Als dann der Anfall vorüber war, erhob er sich und öffnete das Fenster ganz weit, weil er bald erstickte und frische Luft atmen wollte. Saccard, der ihm gefolgt war, warf einen Blick hinaus und stieß einen leisen Ruf der Überraschung aus.

      »Oh, Sie sehen ja auf die Börse! Wie komisch sie von hier oben aussieht!«

      Er hatte sie tatsächlich noch nie aus einem so eigenartigen Blickwinkel gesehen, aus der Vogelperspektive, mit den vier großen verzinkten Flächen ihres außerordentlich weitläufigen Daches, bespickt mit einem Wald von Röhren. Die Spitzen der Blitzableiter ragten wie riesige Lanzen drohend in den Himmel hinein. Und das Gebäude selbst war nur noch ein Steinwürfel, an dem die Säulen regelmäßige Striche bildeten, ein nackter, häßlicher, schmutziggrauer Würfel, auf dem eine zerlumpte Fahne hing. Aber mit Erstaunen betrachtete er vor allem die Stufen und die Vorhalle, die mit schwarzen Ameisen wie besät waren: ein wimmelnder Ameisenhaufen in ungeheurer Aufregung, die man sich von so hoch oben gar nicht erklären konnte, so daß man Mitleid haben mußte.

      »Wie klein das von hier aussieht!« versetzte er. »Man möchte fast sagen, daß man sie alle mit einem Griff in die Hand nehmen kann.«

      Und da er die Ideen seines Gesprächspartners kannte, fügte er lachend hinzu:

      »Und wann fegen Sie das alles mit einem Fußtritt hinweg?«

      Sigismond zuckte die Achseln.

      »Wozu? Ihr richtet euch doch selbst zugrunde.«

      Jetzt wurde er allmählich lebhafter, sein Lieblingsthema brachte ihn zum Reden. Aus dem Bedürfnis heraus, Jünger zu werben, stürzte er sich bei der geringsten Andeutung in die Darlegung seines Systems.

      »Ja, ja, ihr arbeitet für uns, ohne daß ihr es ahnt ... Ihr seid dort ein paar Usurpatoren, die die Masse des Volkes expropriieren, und wenn ihr euch vollgestopft habt, brauchen wir unsererseits nur noch euch zu expropriieren ... Jeglicher Wucher, jegliche Zentralisierung führt zum Kollektivismus. Ihr gebt uns eine praktische Lehre, ebenso wie die Großgrundbesitzer, die das Land stückchenweise schlucken, wie die Großproduzenten, die die Heimarbeiter verschlingen, wie die großen Kreditinstitute und die großen Kaufhäuser, die jede Konkurrenz abwürgen und durch den Ruin der kleinen Banken und der kleinen Geschäfte fett werden; all das führt langsam, aber sicher zu der neuen Gesellschaftsordnung hin ... Wir warten, bis alles kracht, bis die gegenwärtige Produktionsweise in letzter Konsequenz zu unerträglichem Elend geführt hat. Dann werden selbst die Bürger und die Bauern uns helfen.«

      Saccards Interesse war geweckt, und er sah ihn leicht beunruhigt an, obwohl er ihn für verrückt hielt.

      »Aber nun erklären Sie mir doch endlich mal, was das ist, Ihr Kollektivismus!«

      »Der Kollektivismus ist die Umwandlung des Privatkapitals, das vom Konkurrenzkampf lebt, in ein einheitliches soziales Kapital, das durch die Arbeit aller ausgebeutet wird ... Stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, in der die Produktionsinstrumente das Eigentum aller sind, in der jedermann nach seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Kraft arbeitet, in der die Produkte dieser gesellschaftlichen Zusammenarbeit auf jeden einzelnen, entsprechend seiner Leistung, verteilt werden. Nichts ist einfacher, nicht wahr? Gemeinsame Produktion in den Fabriken, auf den Bauplätzen, in den Nationalwerkstätten, dann Austausch, Bezahlung in Naturalien. Wenn es einen Produktionsüberschuß gibt, lagert man ihn in den öffentlichen Speichern, aus denen er wieder genommen wird, um die Verluste auszugleichen, die sich ergeben können, das Gleichgewicht wird


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