Geheimbünde. 100 Seiten. Helmut Reinalter

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Einfluss der Verschwörer noch bedrohlicher erscheinen.

      Meist haben Verschwörungstheoretiker ein antiliberales Weltbild, das den sozialen Wandel der politischen und gesellschaftlichen Ordnung sowie die Infragestellung überkommener Erwartungshaltungen zum illegitimen und bösartigen Werk von Minderheiten erklärt. Die Verschwörungstheoretiker entwerfen in der Regel auch ein antimodernistisches Feindbild, das gegen Liberalismus, Demokratie, Sozialismus und Kommunismus gerichtet ist.

      Verschwörungstheorien erfüllen verschiedene Funktionen: Sie stiften eine gemeinsame Identität und eröffnen vermeintlich neue Erkenntnisse, dienen aber auch dazu, andere zu manipulieren oder eigenes Handeln zu rechtfertigen. Letzteres gilt beispielsweise für Herrschafts-, Unterdrückungs- und Vernichtungsmaßnahmen. Sie sind auch als monokausale und stereotype Ideologie erklärt worden und weisen einen extremen Mythoscharakter auf. Zugleich erfüllen Verschwörungstheorien vordergründig eine rationalisierende Funktion, indem sie vortäuschen, für alle existenziellen Probleme eine einfache Erklärung zu haben. Dabei handelt es sich aber nicht um ein unparteiisches Erkenntnisinstrument, sondern um ein der Feindbestimmung dienendes ideologisch-politisches Werkzeug.

      Verschwörungstheorien haben in den letzten Jahrzehnten auch im Internet Konjunktur. Dort kursieren die unterschiedlichsten abenteuerlichsten Verschwörungstheorien, bei denen u. a. die Flüchtlingskrise, die in Brüssel ansässige Denkfabrik »Council of Foreign Relations« von George Soros, die Rothschild-Familie mit ihren Finanznetzwerken, die Bilderberger-Treffen, die angeblich gezielte Vermischung der verschiedenen Nationen und Rassen sowie die unbewiesene Behauptung, dass Angela Merkel die Interessen von jüdischen Milliardären bediene, eine zentrale Rolle spielen.

      Verschwörungstheorien konstruieren auch häufig auf der Grundlage von phantastischen Fiktionen eine Meta-Welt, in der Tatsachen von Erfindungen nicht mehr scharf getrennt werden. Die Fiktionen werden dabei zur subjektiven Wirklichkeit des Verschwörungsdenkens. Die Angst vor Geheimbünden und vor den Juden besitzt nach wie vor einen hohen Stellenwert im Denken der Verschwörungstheoretiker. Das Reduzieren komplexer Entwicklungen auf ein Komplott erschwert ein realistisches Verständnis für die tatsächlichen historischen Kräfte und Bewegungen. Verschwörungstheorien verleiten Menschen dazu, etwas zu fürchten oder zu hassen, das in Wirklichkeit harmlos ist.

      Geheimbünde im Europa der Neuzeit

      Die Rosenkreuzer

      Der Geheimbund der Rosenkreuzer fasste eine »Generalreformation der Welt« ins Auge. Zu seinen Mitgliedern zählten die damalige geistige Elite, darunter der Theologe Johann Arndt, Pansophen und Sozialkritiker wie Johann Valentin Andreae, Pädagogen wie Johann Amos Comenius, Ärzte, Alchemisten und Philosophen wie Michael Maier, der Leibarzt von Kaiser Rudolf II., Rechtsgelehrte wie Christoph Besold sowie der englische Arzt und Polyhistor Robert Fludd. Der Geheimbund erlangte eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Politik und Wissenschaft.

      Er nahm seinen Ausgangspunkt von den rosenkreuzerischen Traktaten, der Fama fraternitatis (1614) und der Confessio fraternitatis, die ein Jahr später in Kassel erschien. In diesen Manifesten finden sich ganz neue begriffsgeschichtliche Kategorien wie »Fortschritt«, »Fortschreiten im Erkenntnisvermögen« und »Aufklärung« als praktische und soziale Aufgabe. Die sogenannte »ältere Bruderschaft der Rosenkreuzer« wollte eine Gelehrtenrepublik gründen, um das umfassende Wissen der Zeit ans Licht zu bringen. Im Mittelpunkt der Traktate stand die Person des Christian Rosenkreuz, auf den wahrscheinlich die Gründung der »Bruderschaft des hochlöblichen Ordens der Rosenkreuzer« zurückgeht.

      Als Reaktion auf diese Manifeste erschien 1616 in Straßburg eine weitere Veröffentlichung mit dem Titel Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz anno 1459 (gemeint ist ein alchemistisches Symbol des Wandlungs- und Erneuerungsgeheimnisses). Ihr Autor, Johann Valentin Andreae, war wahrscheinlich auch maßgeblich an der Abfassung der erwähnten Rosenkreuzer-Manifeste beteiligt. Posthum erschien Andreaes ausführlicher Bericht über sein Leben, in dem er die Idee einer Weiterführung der Reformation entwickelte. Den Grund für das Versagen der lutherischen Kirche sah er in ihrer Verkümmerung zu einer Staats- und Theologenkirche, aber auch im Zustand der Universität und des Gelehrtenstandes, da sich der Humanismus immer mehr in scholastischer Rechthaberei verliere. Daher forderte er eine Vereinigung, die die Verchristlichung des humanistischen Gelehrtenstandes anstreben sollte.

      Mit dieser Reformationsutopie wollte er auf die Zustände reagieren. Offenkundig war sie drei Traditionen verpflichtet: der apokalyptisch-chiliastischen, der alchemistisch-chiliastischen Idee der Naturphilosophen und der Vorstellung von einer idealen Stadt, in der das gesellschaftliche Leben rational geregelt werden sollte. Zur Idee der Weiterführung der lutherischen Reformation kam bei ihm noch die Vorstellung der Lebensgemeinschaft auserwählter Christen in einer gottgewollten Ordnung hinzu.

      Unter Chiliasmus versteht man den Glauben an die Wiederkunft Christi und die Errichtung seines tausendjährigen Reiches. Allgemeiner bezeichnet der Begriff den Glauben an das nahende Ende der gegenwärtigen Welt.

      In der Schrift Chymische Hochzeit wird die »Einweihung« bzw. Initiation des Christian Rosenkreuz in »sieben Tagen« geschildert, bei der die Alchemie als Symbol des Wandlungs- und Erneuerungsgeheimnisses praktiziert wurde. Daneben verfasste Andreae noch weitere interessante Schriften wie z. B. den Turbo, in dem das Faustthema aufgegriffen und eine anthropologische Auffassung vom Menschen formuliert wurde, die später auch in die Freimaurerei hineinzuwirken begann. Andreae argumentierte darin, dass der Mensch nicht als fertige Persönlichkeit geboren werde, sondern stets an sich weiterarbeiten müsse.

      Auch der utopische Entwurf Christianopolis wurde im Umfeld der Rosenkreuzer 1619 von Andreae verfasst. Darin beschreibt er einen idealen Staat, der in einem engen Zusammenhang mit der Nova atlantis (1627) des Francis Bacon und der Civitas solis (1623) von Thomas Campanella zu sehen ist. In der Christianopolis thematisiert Andreae nicht nur das Problem der Bildung einer Elitegesellschaft, sondern entwirft auch eine Gegenwelt. Sie gilt als Paradigma einer Reformationsutopie.

      Stellten Sozialstruktur und Wirtschaftsleben der Christianopolis den Idealtyp einer frühneuzeitlichen Stadt dar, so zeigte ihr kulturelles Leben ein frühbürgerliches Bildungsideal, das sich allen modernen Wissenschaften verpflichtet wusste. Zwar hielt Andreae noch am theologisch-kosmologischen Selbstverständnis fest, doch sein Wissenschaftsideal überwand die scholastische und kirchliche Tradition. Als Bischof von Calw versuchte er später, ein organisiertes Sozialwesen auf der Basis eines christlichen Sozialismus zu errichten. Am Ende seines Lebens hat er in der Schrift Theophilus die Idee Christianopolis und seine übrigen Reformprogramme nochmals zusammengefasst.

      Dass Andreaes Christianopolis Bacons heute berühmtere Utopie Nova atlantis beeinflusste, ist unumstritten. In Bacons Entwurf kommt dem »Haus Salomonis«, der intellektuellen Führungsspitze in dieser Utopie, eine zentrale Rolle zu, mit gewissen Parallelen zu den späteren Freimaurerlogen. Die weisen Männer im Haus Salomonis sind weitgehend identisch mit den Rosenkreuzern. Bis ca. 1630 kam eine Fülle von Schriften für und gegen das Rosenkreuzertum heraus, die den Rosenkreuzermythos verbreiteten. Wirkungsgeschichtlich entscheidend wurde aber Johann Amos Comenius, der Andreae als geistigen Vater verehrte. Er erfand ein pansophisches System universellen Wissens, in dem die Weltreformation auf pragmatische Weise verwirklicht werden sollte.

      Im Mittelpunkt dieses Vorhabens stand die Pädagogik, mit deren Hilfe die Menschen in Wissen, Sprache und Religion vereinigt werden sollten. Comenius forderte in diesem Zusammenhang ein universelles Kollegium. Er entwickelte auch Pläne zu einer Weltverbesserung und brachte sie nach England, womit er eine unmittelbare Verbindung zwischen den Rosenkreuzern und der englischen Freimaurerei herstellte. Genau wie Andreae wollte er auch über alle trennenden Schranken hinweg einen großen »Menschheitsdom« errichten, in dem Menschen aller Völker, Nationen, Sprachen und Religionen zusammentreffen sollten.

      Comenius wurde nicht umsonst auf Betreiben von Freimaurern vom englischen Parlament eingeladen, einen Entwurf für eine humanitäre Gelehrtengesellschaft zu verfassen. In seiner


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