Die Gefühle der Tiere. Peter Wohlleben
Читать онлайн книгу.zu versorgen. Das bringt heutzutage nicht weniger Ärger als früher, und daher ist der Ausruf »blöde Ziege« bis heute im Gebrauch.
Und wenn es Mutterliebe gibt, warum dann nicht auch alle anderen Formen? Liebe zwischen Ehepartnern etwa. Ein Großteil der Vögel lebt monogam, etliche von ihnen sogar lebenslänglich mit einem einzigen Partner. Der bussardgroße Kolkrabe ist so ein Vertreter. Er sucht sich mit seiner Partnerin ein Revier und markiert es. Ohne Störung von außen wohnen beide lebenslang (das können mehr als 20 Jahre sein) darin und bleiben sich treu. Das war auch der Grund, weshalb sich diese Vögel in Mitteleuropa so leicht ausrotten ließen. Man brauchte nur einen Partner zu schießen, da der andere dann für den Rest seines Lebens allein blieb und sich so nicht mehr vermehren konnte.
Natürlich haben Biologen für diese enge Bindung eine Erklärung parat. Monogamie ist lohnend, wenn die Aufzucht der Jungen besonders aufwendig ist und längerfristig stabile Verhältnisse erfordert. Ist es beim Menschen nicht genauso? Diese Erklärung muss kein Widerspruch zum Phänomen der Liebe sein, ganz im Gegenteil. Für jede evolutionäre Notwendigkeit hat die Natur die passenden Befehle für das Unterbewusstsein zur Hand, Gefühle, die die Individuen zur optimalen Handlung aufrufen.
Im Falle einer erforderlichen stabilen Partnerschaft heißt der passende Befehl: Liebe! Wobei es einer der freundlichsten Gebote ist, die man sich vorstellen kann.
Trauer und Tod
Jedem Wesen auf diesem Planeten ist zu eigen, dass es sich grundsätzlich an sein Leben klammert. Dieser Lebenswille ist Basis für die Selbstbehauptung unter den zahllosen Konkurrenten der eigenen Art und auch fremden Arten. Wem dieser Wille fehlt oder abhandenkommt, geht im Getümmel der Konkurrenz unter und kann sich nicht mehr vermehren; umgekehrt ist derjenige besonders erfolgreich, der einen starken Drang hat, im Karussell der Evolution mitzuspielen.
Die heftigste Äußerung des Unterbewusstseins bei einer Bedrohung des Lebens ist die Todesangst. Kennt, wer Todesangst empfinden kann, zwangsläufig auch den Tod? Oder ist der Begriff irreführend und meint nur die Furcht vor dem Sterben? Was wie Wortklauberei aussieht, bedeutet einen gewaltigen Unterschied. Sterben ist Bestandteil des Lebens, allerdings ein besonders unangenehmer, der meist mit Hilflosigkeit, oft auch mit heftigen Schmerzen einhergeht. Den Eintritt einer solchen unumkehrbaren Situation mit allen Mitteln zu verhindern, ist primäre Aufgabe der Instinkte. Dass es ein Sterben gibt, weiß instinktiv jedes Wesen, welches zur Angst fähig ist. Denn in Augenblicken höchster Bedrohung (und nur dann) werden speziell für diesen Fall Leistungsreserven freigesetzt. Warum nur im Krisenfall? Die Überwindung der Mobilisationsschwelle, also der normalerweise höchstmöglichen Leistung, birgt durch die Überbeanspruchung viele Gesundheitsrisiken.
Im Falle einer tödlichen Bedrohung spielt das keine Rolle mehr, und so können etwa Menschen ihr Leistungspotenzial um beachtliche 30 Prozent steigern. (Nebenbei bemerkt, geht es um genau diese 30 Prozent beim Doping durch Sportler, die mit Medikamenten körpereigene Schranken durchbrechen.) In Todesgefahr werden also die letzten Reserven mobilisiert. Und das passende Wort des Unterbewusstseins lautet: Todesangst.
Der Tod hingegen ist ein Zustand des Körpers, in dem sämtliche Funktionen erloschen sind. Mit diesem Stadium scheidet ein Individuum aus dem evolutionären Wettbewerb aus, stellt keine Konkurrenz mehr dar und ist allenfalls als verwertbare Biomasse für spezialisierte Arten von Interesse. Für diesen Zustand, in dem das einzelne Wesen nicht mehr existiert, braucht es auch kein instinktives Erfassen. Wiewohl das Sterben eine wichtige Bedeutung hat, gilt dies nicht für den eigenen Tod. Auch das bewusste Auseinandersetzen mit den harten Fakten, welches einen entsprechenden Verstand voraussetzt, ist von der Natur scheinbar nicht gewollt. Der Verbrauch der dafür notwendigen Energie (oder die dadurch einsetzende psychische Lähmung) würde das Individuum im Überlebenskampf nur schwächen.
Wie das Gehirn Derartiges verhindert, wurde vor Kurzem beim grüblerischsten Wesen des Planeten entdeckt. Nathan DeWall und Roy F. Baumeister, zwei US-amerikanische Forscher, untersuchten an Studenten, warum wir nicht ständig Angst vor dem Tod haben. Dazu forderten sie die eine Gruppe auf, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Die andere Gruppe sollte an Zahnschmerzen denken. Anschließend legten sie allen Probanden Wortfragmente vor, die diese ergänzen mussten. Während die erste Gruppe daraus positive Begriffe formte, waren es in der zweiten Gruppe überwiegend negative. Das Ergebnis: Offensichtlich gleicht das Gehirn negative Gedanken an den Tod durch positive Gedanken aus, sodass sich das Wohlbefinden durch derartiges Trübsalblasen nicht verschlechtert. Gedanken an Zahnschmerzen, die zeitweise durchaus sinnvoll sind, werden dagegen nicht korrigiert.
Das gilt allerdings nur in Bezug auf das eigene Ableben. Der Tod naher Angehöriger ist eine ganz andere Sache. Gerade für in sozialen Verbänden lebende Arten spielt der Verlust eines Mitglieds sehr wohl eine Rolle für den eigenen Lebensweg. Wenn Mutter, Vater oder gar beide Elternteile sterben, so ist dies für ein Kind katastrophal. Immerhin wird es in unserer Gesellschaft aufgefangen, kann bei Verwandten oder im Heim aufwachsen, auch wenn es traumatisiert bleibt. Für andere Arten gibt es solche Ersatzlösungen nur in seltenen Ausnahmefällen. So kann der Verlust der Eltern für ein Jungtier den Tod bedeuten. Umgekehrt stürzt es ein Muttertier in ein emotionales Chaos, wenn das Kind stirbt. Hirschkühe, die ein Rudel anführen, verlieren die Leitfunktion nach dem Verlust ihres Kalbes. Warum, ist noch nicht geklärt, aber naheliegend: Die anderen Herdenmitglieder registrieren, dass ihre Chefin trauert, und das behagt ihnen gar nicht. Schnell übernimmt eine andere Hirschkuh mit ihrem Kalb den wichtigen Posten. Oder würden Sie sich von einer Dame leiten lassen, die völlig durch den Wind ist?
Muttertiere, die ihren Nachwuchs verlieren, müssen verstehen können, dass das Kleine tot ist. Ansonsten wäre eine Trennung nicht machbar, gefährdeten sich die Eltern beim Verharren neben dem Leichnam selbst. Zum einen wäre ein Weiterwandern mit der Sippe nicht möglich, zum anderen werden durch den Kadaver Raubtiere angelockt. Dieses Verständnis braucht einige Tage, um zu reifen. Erst dann trennt sich das Muttertier vom kleinen Leichnam und nimmt sein gewohntes Leben wieder auf.
Es gibt noch weitere Gründe, die das Registrieren des Tods absolut notwendig machen. Stirbt ein Vertreter der eigenen Art in der Nähe, so besteht möglicherweise Lebensgefahr für den Rest der Sippe. Ob Seuche oder Raubtier, jetzt ist höchste Aufmerksamkeit gefragt, sonst wird man selbst zum Opfer. Hinweise, dass Tiere den Tod von Artgenossen mit Schrecken wahrnehmen, gibt es schon lange. Bis heute wird ein alter (und hässlicher) Brauch ausgeübt: Dazu werden Saatkrähen geschossen und an Stangen im Feld aufgehängt. So möchten manche Bauern Fraßschäden abwehren. Und tatsächlich wirkt dieses barbarische Mittel zumindest eine Zeit lang.
Etwas weniger dramatisch kamen Forscher der Universität von Kalifornien zu ähnlichen Schlüssen, die Folgendes beschreiben: Die mit unseren heimischen Krähen verwandten Westlichen Buschhäher versammeln sich nach dem Tod eines Artgenossen. Für ein bis zwei Tage sitzen sie um den Leichnam herum und stoßen charakteristische Rufe aus. Es sieht also ganz so aus, als hätten viele Tiere eine Vorstellung vom Ende des Lebens, in der Form des Sterbens für sich selbst und als Tod für Angehörige.
Mit dem Tod untrennbar verbunden ist für Menschen die Trauer. Niedergeschlagenheit, Desorientierung und oft eine veränderte Lebensführung kennzeichnen die Folgen dieser Emotion. Im Blut sind entsprechende Stresshormone nachweisbar. Trauer ist die instinktive Antwort auf den Tod. Und dieser Instinkt ist auch bei vielen Tieren vorhanden. Vielfach werden Haustiere (vor allem Hunde) beschrieben, die nach dem Tode von Frauchen oder Herrchen die Nahrungsaufnahme verweigern. Graugänse, die in einer lebenslangen Ehe mit ihrem Partner leben, bleiben nach dessen Tod oft allein und zeigen Symptome einer Depression. Konrad Lorenz, der berühmte Verhaltensforscher, konnte nachweisen, dass die Phase des Alleinbleibens umso länger dauert, je länger das Paar »verheiratet« war. Bei sehr alten Ehen sucht sich die verwitwete Gans für den Rest ihres Lebens keinen neuen Partner mehr, ein Phänomen, welches auch beim Kolkraben zu finden ist.