Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein
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Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis
Vorwort
Wer sich mit einem Gegenstande lange und eifrig beschäftigt hat, hegt unwillkürlich den Wunsch, die Ergebnisse seines Studiums und Nachdenkens zu ordnen und für die Dauer festzuhalten. So habe ich dieses Buch nicht bloß für den Leser, sondern auch für mich selbst geschrieben, und darum wird es bei aller Objektivität, die eine wissenschaftliche Veröffentlichung selbstverständlich auszeichnen muß, doch auch den Eindruck des Persönlichen machen. Über die Anschauungen von der Welt, und auch über die vom Leben, ist schon viel geschrieben; das Thema ist ja für Laien und Gelehrte wichtig und interessant genug. Ich glaube aber, daß noch kein Buch vorhanden ist, das die Aufgabe von so allgemeinen Gesichtspunkten und in so umfassender Darstellung behandelt, wie das vorliegende. Meist sind es Ausschnitte aus einzelnen Gedankengebieten der Völker und Forscher, die geboten werden, entweder vom Standpunkte des Anthropologen, oder des Gottesgelehrten, oder des Philosophen und des Naturforschers. Ich habe es versucht, alles in eins zusammenzufassen, Anthropologie, Religion, Philosophie und Naturwissenschaft, denn nur aus einer Darstellung des Ganzen wird man das Bedeutungsvolle des Gegenstandes zu übersehen und das Einzelne zu würdigen vermögen. Und nicht nur das ist von Interesse, was Große denken und sagen, sondern auch, was Völker, selbst in ihrem Naturzustande, erdichten und zur Richtschnur ihres Lebens in sich und mit Anderen machen. Es sind wunderliche und wunderbare Bilder, die kaleidoskopisch an uns vorüberziehen. Es handelt sich aber, wie ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, hervorheben muß, nicht um eine Geschichte, sondern um eine Schilderung der Anschauungen selbst. Darum ist der Inhalt, wie ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis lehrt, durchaus nur sachlich geordnet, und wo Raum und Zeit zu entscheiden scheinen, hat sich dieses im Rahmen des Tatsächlichen von selbst eingestellt. Darum sind auch nur die Hauptmomente behandelt, und sollte ein Leser den einen oder anderen Namen vermissen, so hat der Verfasser ein Besonderes, das sich an diesen Namen für seine besondere Aufgabe knüpft, nicht feststellen können. Manche glauben, daß ein Verfasser, was er nicht sagt, auch nicht weiß und nicht gedacht hat. Es wäre beschämend, wenn man nicht unendlich viel mehr wüßte und dächte, als man in seinen Büchern, so zahlreich sie schon sein mögen, niedergelegt hat. Aber es ist nicht angängig, alles, was man weiß und denkt, weiterzugeben, denn man muß auch den Leser berücksichtigen. Auch ist zwar vielfach das Leben lang genug das wichtigste zu lernen, aber leider allzu kurz, was man möchte, zu schaffen.
Ich habe eine rein wissenschaftliche Darstellung gewählt, denn die Anschauungen sind nicht bloß geschildert, sondern aufs sorgfältigste zergliedert und auf ihren Wert untersucht. Auch sind sie von der hohen Warte des allgemeinen Menschengeistes und des großen Wissens unserer Zeit betrachtet. Wer über Welt- und Lebenanschauungen umfassend schreiben will, muß sich nicht allein mit der Arbeit der Vergangenheit vertraut machen, sondern sich auch in die Strömungen der Gegenwart versenken können, und bedarf außerordentlich eingehender Kenntnisse auf allen Gebieten der menschlichen Betätigung. Der Leser soll unterrichtet werden, und zwar sorgfältig und richtig, nicht, wie es durch so viele populäre Werke leider geschieht, oberflächlich oder gar falsch. Außerdem soll er zum eigenen weiteren Denken angeregt und angeleitet werden. Bereicherung mit Kenntnissen und Ideen, Bereicherung mit geistigem Streben ist die Aufgabe eines wissenschaftlichen Buches. Trotz des großen Ernstes der Behandlung und der sehr erheblichen Schwierigkeit der Materie wird die Darstellung, wie ich hoffe, als klar und einer guten Prosa angemessen befunden werden. Ich bin keiner noch so tiefgründigen Untersuchung aus dem Wege gegangen, habe jedoch, wo Sonderkenntnisse erforderlich waren, diese stets mitgeteilt. Kritik ist fast auf jeder Seite geübt, ich habe mich bestrebt Objektivität und Ruhe des Urteils zu wahren. Das Buch ist für den Fachmann und für den Gebildeten, überhaupt für jeden, der sich auf dem wichtigsten Gebiete des menschlichen Denkens und Dichtens unterrichten will, geschrieben. Das Persönliche kommt in der Darstellungsweise und in der Geltendmachung der eigenen Meinungen und Anschauungen zum Vorschein. Ich habe vor längerer Zeit zwei Bücher geschrieben, auf die ich mich oft berufe: „Philosophische Grundlagen der Wissenschaften“ und „Die Entstehung der Welt und der Erde nach Sage und Wissenschaft“. Mit dem vorliegenden Buche bilden diese Bücher, wenn auch jedes für sich ein selbständiges Ganze darstellt, eine höhere Einheit, die ich freilich noch gern durch ein Buch über das Leben selbst ergänzen möchte. Bei aller Sorgfalt ist es in umfangreichen Werken nicht immer möglich, Unebenheiten und Versehen zu vermeiden. Ein Herr aus Frankreich hat mich auf eine Stelle in den „Philosophischen Grundlagen“ aufmerksam gemacht, die ich, einem so geschmackvollen und liebenswürdigen Volke gegenüber, wie das französische in der Tat gerne nicht geschrieben haben möchte.
Die wichtigeren Werke, die ich bei Abfassung meines Buches verwendet habe, sind in diesem Buche selbst verzeichnet. Wo es mir nur irgend möglich war, habe ich mich an die Originale gehalten; benutzte ich bei fremden Sprachen zur Erleichterung Übersetzungen, so paßte ich sie möglichst dem Wortlaut der Originale an. Es ist schon ein melancholisches Geschäft, aus Arbeiten Anderer Auszüge zu machen, aber abstoßend langweilig, Auszüge auszuziehen. Ich habe letzteres nur notgedrungen getan, wo mir die Originale nicht zur Verfügung standen oder die Sprache mir doch verschlossen war. Abbildungen enthält nur der erste Teil des Buches, die übrigen Teile boten keinen Anlaß, sie zu schmücken. Ein sehr eingehendes Inhaltsverzeichnis und Namen- und Sachregister wird, hoffe ich, die Brauchbarkeit des Buches auch zum Nachschlagen erhöhen. Beim Lesen der Korrekturen hat mich mein Freund, der Lehrer an der Berliner Baugewerkschule Dr. Levy, formell und sachlich unterstützt. Ihm und der Verlagsbuchhandlung, die viel Mühe mit dem Buche gehabt und für eine würdige Ausstattung gesorgt hat, meinen besten Dank. Möchte der Leser das Buch so gern lesen, wie der Verfasser es gern und aus dem Innern heraus geschrieben hat.
Charlottenburg, im Mai 1910.
VORBEMERKUNGEN.
Charakteristik, Prinzipe und Einteilung der Welt- und Lebenanschauungen
1. Bedeutung der Welt- und Lebenanschauungen
Es liegt schon in der Natur des Menschen, von sich selbst und von allem, was ihn umgibt und störend oder unterstützend in sein Leben eingreift, sich eine Ansicht zu bilden. Vielfach und bedeutungsvoll sind die Fragen, die dabei gestellt werden, und mit deren Beantwortung die Menschheit, seit sie ihrer sich bewußt ist und die Fähigkeiten ihrer Seele auch geistig anzuwenden gelernt hat, sich müht und plagt. Und diese Beantwortung bildet eine Welt- und Lebenanschauung; vollständig, wenn sie alle Fragen betrifft, fragmentarisch, wenn sie nur in das Einzelne dringt. Es gibt Anschauungen, die nur aus träger Gedankenlosigkeit oder aus trotziger Verbitterung oder gar aus pathologischer Denkweise hervorgehen. Diese lassen wir beiseite. Die Weltanschauungen, mit denen wir es hier allein zu tun haben, können auf naiver Naturbetrachtung und naivem Egoismus beruhen, sodann auf Kultgebräuchen und Religionslehren, auf philosophischen Untersuchungen und Meinungen, endlich auf naturwissenschaftlichen und soziologischen Feststellungen. Alle diese Grundlagen mögen gesondert stehen oder miteinander verbunden sein. Bei wenigen Menschen haben die Anschauungen nur eine objektive, rein wissenschaftliche Bedeutung. Die meisten wollen neben der Erkenntnis auch eine Beruhigung für das Dasein und darüber hinaus gewinnen. Indessen bilden sich eine eigene Anschauung nur wenige Menschen. Den anderen wird sie durch Erziehung oder Religionsvorschriften eingeimpft. Letztere waren ja früher gerade bei den Kulturvölkern von so zwingender Gewalt, daß eine andere Anschauung als die, welche die Religion allein zuließ, gar nicht gehegt, geschweige geäußert werden durfte. Viele standen und stehen freiwillig unter dieser zwingenden Gewalt, indem die Glaubenssätze der Religion für sie über jeden Zweifel erhaben sind. Andere beugten und beugen sich ihr aus Weltklugheit oder weil das Beispiel des Widerstandes sie schreckte. Auch Lehren, die gerade mit besonderer Kraft ausgesprochen sind oder in Mode stehen, werden gerne ergriffen. Denn es handelt sich, wenn man eine Welt- und Lebenanschauung sich bilden will, immer um eine tiefe und schwere Gedankenarbeit, und mitunter um einen harten Kampf mit sich selbst und mit Anderen. Und bei der Unsicherheit des Kennens und Erkennens fällt der Mensch von Zweifeln in Zweifel und nimmt darum gerne an, was ihm autoritativ übermittelt ist. Mitunter muß der Name an Stelle der Sache treten. Wie wenige von einer Religionsgemeinschaft wissen, was eigentlich die Lehren dieser Religion sind, zumal, wenn diese Lehren von vornherein als „geoffenbart“ vorgetragen werden. Viele wollen sie gar nicht einmal wissen; die symbolischen Formeln genügen ihnen, das übrige