Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein

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Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis - Max Bernhard Weinstein


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Mann oder eine ganz konsequente Ansicht fast unheimlich. Wir werden sehen, daß auf unserem Gebiete davon nur sehr wenig vorhanden ist. Man kann fast sagen: mitunter zum Glück für die Menschheit. Denn mit absoluter Konsequenz ist oft Fanatismus und mit diesem Verfolgungssucht verbunden, die sich in der konsequentesten Religion, der katholischen, in so entsetzlichen Taten geäußert hat, und eine Herrschernatur wie Innozenz III., trotz so großer Leistungen, durch die Ausmordung Tausender andersdenkender unschuldiger Menschen fast fluchbeladen erscheinen läßt.

      3. Hauptfragen und Stammannahmen (principia, ἀρχαὶ) der Welt- und Lebenanschauungen

      Der Leser sieht, welch umfangreiche Arbeit hier zu bewältigen ist, und wie alles nur in großen Zügen zur Darstellung kommen kann. Doch habe ich die Absicht, weit über die engen Grenzen der Spezialbetrachtungen hinauszugehen, die immer nur einzelne Klassen der Menschheit betraf. Ich möchte vorführen, was der Mensch allgemein an Welt- und Lebenanschauungen geschaffen hat; nicht diese oder jene Philosophenschule, diese oder jene Religion, dieses oder jenes Volk. Unter solchen Umständen ist eine gewisse Systematik unausweichlich, sonst verläuft man sich in der Fülle des Gebotenen und gerät in Gefahr, die Darlegung in Phrasen aufzulösen. Und nirgends ist diese Gefahr so groß und sind ihr so viele Schriftsteller erlegen als gerade auf dem Gebiete, mit dem wir uns hier beschäftigen sollen. Was Prinz Heinz von seinem dicken Freunde bei der Musterung seiner Rechnungen gesagt hat, und ich einmal einen berühmten Nationalökonomen auf einem Kommers auf die Universitätsvorlesungen habe anwenden hören, soll uns zur Warnung dienen. Gründlichkeit hier, Schmuckrede dort, zwischen diesen Symplegaden müssen wir unser Schifflein hindurchsteuern.

      Fast jede Weltanschauung geht von einer Stammannahme oder von mehreren Stammannahmen aus. Es muß daher von großer Bedeutung für die Ordnung des Vortrags sein, wenn vor allem diese Stammannahmen vorgeführt werden. Vollständig dieses zu tun ist für einen beschränkte Zeit lebenden Menschen nicht möglich, wegen der unendlichen Menge von Büchern, die er lesen müßte. Nachdem ich mich aber durch so viele Jahre frei und veranlaßt in so vielen Wissenschaften umgesehen habe, glaube ich, daß in der nachfolgenden Aufzählung Wichtigeres nicht fehlen wird. Sollte der Leser noch eine und eine andere Annahme wissen, so füge er sie gütigst hinzu; wir sind alle gerne Kärrner der Königin Wissenschaft. Die Annahmen gehen aber auf

      den Grund des Alls und den der Einzelnen,

      den Bestand des Alls,

      das Wesen der Dinge,

      das Wesen und den Grund der Geschehnisse,

      die Entwicklung des Alls,

      das Ende des Alls,

      das Ende der Einzelnen.

      Das sind sieben Hauptpunkte. Es ist nicht angängig, die allgemeine Liste ganz nach diesen Hauptpunkten einzurichten; die Behandlungen müßten vielfach durcheinander gehen und sich verschlingen, wodurch viele unnötige und störende Wiederholungen entstehen würden. Gleichwohl ist die nachfolgende Liste unterteilt, und zwar derartig, daß sie in einiger Beziehung sich den Hauptpunkten anschmiegt. Wenn manche Hauptpunkte in der Liste nicht berücksichtigt zu sein scheinen, so ist es in der Tat nur ein „scheinen“. Durch gehörige Untersuchung der Stammannahmen und namentlich auch durch Verbindung zweier oder mehrerer von ihnen werden auch diese Hauptpunkte zur Erledigung gebracht.

      Die Liste enthält vier Klassen: phantomistische Annahmen, wesenheitliche, wesenheitlich-begriffliche, begriffliche. Es kommt auf die absolute Richtigkeit der Benennungen nicht an, diese müssen nur durchschnittlich zutreffen und können es auch nur. Nun möge die Liste selbst folgen.

      I. Phantomistische.

      1. Nichts,

      2. Traum,

      3. Schein.

      II. Wesenheitliche.

      4. Das (indisch Tad),

      5. Etwas,

      6. Urwesen, Ding an sich, Substanz,

      7. Gott,

      8. Götter (in allen Abstufungen),

      9. Weltgeist,

      10. Schöpfer (Schöpfung),

      11. Vernichter, Satan, Widergott,

      12. Weltseele,

      13. Einzelseele,

      14. Weltvernunft,

      15. Einzelvernunft,

      16. Emanation,

      17. Chaos, Urmaterie,

      18. Materie (auch Elemente und Körper),

      19. Energie, Entropie,

      20. Psychoma.

      III. Wesenheitlich-begriffliche.

      21. Sein, Nichtsein,

      22. Werden, Vergehen,

      23. Ruhe, Erregung,

      24. Attribute,

      25. Ideen,

      26. Formen,

      27. Modi (auch Essenzen und Bilder),

      28. Monaden (auch Realen),

      29. Zahl,

      30. Raum (auch Leere),

      31. Zeit,

      32. Harmonie,

      33. Disharmonie (auch Entzweiung in sich).

      IV. Begriffliche.

      34. Gut,

      35. Böse,

      36. Liebe (auch Anziehung),

      37. Haß (auch Abstoßung),

      38. Streit,

      39. Zwang (absoluter),

      40. Notwendigkeit,

      41. Anlage (auch Prädestination, Prästabilisation),

      42. Unfreiheit, Determinismus,

      43. Ursächlichkeit,

      44. Beschränktheit,

      45. Zweckmäßigkeit (Teleologie, auch Instinkt),

      46. Entwicklung,

      47. Produktion und Reaktion (auch Regulative),

      48. Parallelismus,

      49. Gelegenheitlichkeit,

      50. Zufall, Association,

      51. Freiheit,

      52. Unbeschränktheit.

      Die Liste sieht bunt genug aus; es soll ja aber auch ein allgemeiner Überblick über die Welt- und Lebenanschauungen gegeben werden. Wir könnten nun weiter so verfahren, daß wir einfach die obigen Stammannahmen einzeln und zu zweien oder mehreren nehmen, so würden wir schon eine große Zahl aller bisher entwickelten Anschauungen gewinnen. Aber die Liste soll uns nur im einzelnen leiten. Die Betrachtung führen wir allgemein.

      4. Vergleichung der Anschauungen, Parallelen

Drei Hauptaufgaben haben wir zu erfüllen: die Anschauungen einzeln oder in Klassen vorzuführen, sie auf ihre theoretische und praktische Bedeutung zu untersuchen, sie miteinander zu vergleichen. Über die beiden ersten Aufgaben ist nichts besonderes mehr zu sagen. Die dritte Aufgabe aber gibt zu einer wichtigen Bemerkung Anlaß. Die Vergleichung kann zu zwei Zwecken geschehen. Einmal um die Kulturzustände der Völker oder Zeiten, innerhalb deren die Anschauungen geäußert sind, gegen einander abzuwägen. Sodann um über die Priorität einer aufgestellten Anschauung zu entscheiden. Das erstere gehört nur zu sehr geringem Teil hierher, da wir ja keine Kulturgeschichte schreiben, und wird sich meist bei den Vorführungen selbst erledigen. Das zweite lassen wir fort, sofern es sich um Prioritäten einzelner Personen handelt. Diskussionen hierüber haben nur dann einen Wert, wenn mit der Priorität auch der Sinn der Anschauung verbunden ist, den wir ja bei einem gedankentiefen Manne immer eine Stufe höher verstehen müssen als bei einem mittelmäßigen Kopf, wenn der Ausdruck der Ansicht dazu Raum läßt. Nun aber werden Anschauungen nicht bloß von einzelnen Personen ersonnen, sondern, wie Lieder, von einem ganzen Volke, so daß es sich um Volksanschauungen


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