Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein

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Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis - Max Bernhard Weinstein


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Seele kann auch Ummauerungen nicht durchdringen. Daher muß, wo der Körper von einem Grabhügel umschlossen ist, an diesem Hügel ein Loch zu ihm gelassen werden, damit Speise und Trank der Seele zugeführt werden können; die neben das Grab getane würde die Seele nicht erreichen.

      10. Schamanismus, Totemismus, Seelen-, Ahnenkult

      Da die Seele eine gewisse Freiheit vom Körper genießt, so kann sie sich mitunter aus diesem auch bei Lebzeiten entfernen. Und so glaubt der Naturmensch, daß Gestalten, die er im Träumen sieht, entweder Seelen dieser sind, die sich von ihnen gelöst haben und nun zu seiner Seele gekommen sind, oder daß seine Seele aus seinem Körper gegangen ist und jene Seelen aufgesucht hat. Dabei bieten die leblosen Gegenstände keine Schwierigkeit, denn diese werden ja auch beseelt gedacht. Es kann nicht meine Absicht sein, das unheimliche Kapitel der Träume zu behandeln; ich habe nur das hervorzuheben, was für die Anschauung von Bedeutung ist. Wie sehr es in der Natur des Menschen liegt, sich mit seinen Träumen zu plagen, kann selbst der Vorurteilsfreieste an sich gewahren. Und alle Aufklärungen der Physiologen und Biologen nützen nur wenig dem, der von einem bösen Traum betroffen ist; er liegt ihm den Tag über in allen Gliedern; der Träumer ist froh, wenn dieser Tag vorüber, da seltsamerweise im allgemeinen der Wert eines Traumes auf die Zeit zwischen Nacht und Nacht beschränkt wird. Nicht wenige Ethnologen und Anthropologen sind geneigt, die Seelen- und Religionsanschauungen überhaupt aus den Traumerscheinungen abzuleiten. Indessen träumen auch Tiere. Etwas Besonderes muß also beim Menschen wohl hinzukommen, ihm die Reflexion oder den Einfall aus jenen Anschauungen zu erwecken. Manchen Menschen wird die Fähigkeit zugeschrieben, ihre Seele nach gewissen Vorbereitungen, die meist auf Hervorrufung einer Ekstase oder dumpfen Betäubung abzielen, beliebig aus ihrem Körper nach bestimmten Orten hinauszusenden, um dort Erkundigungen über Diebstähle, Feindespläne, Heilmittel, Schicksale von Menschen und Tieren einzuziehen. Der betreffende Mensch liegt gleich einem Toten, seine Seele geht inzwischen, wohin er sie entsandt hat. Nachdem sie das Gewünschte erfahren, kehrt sie in ihn zurück, er erwacht und weiß nun alles. Unzählig sind die Mitteilungen von solchen Seelenentsendungen und den wunderbaren Erfolgen, namentlich bei den Völkern Nordasiens, Nordeuropas und Nordamerikas, und auch Afrikas. Und manche davon sind so auffallend, daß sie selbst unter gebildeten Reisenden Glauben gefunden haben. Die Leute mit solcher Macht über ihre Seele gehören meist zur Klasse der Priester und Zauberer, oder, wie wir sie gemeinhin heißen, weil sie auch Krankheiten heilen und für alle möglichen Fälle Mittel besitzen und verabreichen, „Medizinmänner“. Bei den verschiedenen Völkern führen sie verschiedene Namen. Der bekannteste ist der der Schamanen (aus dem indischen Çramana), und in Verbindung mit gewissen Geisterkulten sprechen wir von Schamanismus als einer Religionsäußerung.

Solche Ansichten kennen auch die arischen Völker. Odhin soll mitunter schlafen und dabei soll seine Seele als Vogel, Fisch oder Schlange die Welt durchstreifen, um dem Herrn, was sie erkundet, mitzuteilen. Eine seltsame Erzählung hat uns der Geschichtschreiber der Langobarden, Paulus Diaconus, aufbewahrt, die ich nach Jakob Grimm (Deutsche Mythologie) wiedergebe. „König Gunthram (der bekannte Frankenkönig) war im Wald ermüdet auf dem Schoß eines treuen Dieners entschlafen. Da sieht der Diener aus des Herrn Munde ein Tierlein, gleich einer Schlange, laufen und auf einen Bach zugehen, den es nicht überschreiten kann. Jener legt sein Schwert über das Wasser, das Tier läuft darüber hin, und jenseits in einen Berg. Nach einiger Zeit kehrt es auf demselben Wege in den Schlafenden zurück, der bald erwacht und erzählt, wie er im Traum über eine eiserne Brücke in einen mit Gold erfüllten Berg gegangen sei.“ Schlangen gehören zu den auf der ganzen Erde verbreiteten Bildern und Verkörperlichungen der Seele. Die Schlange also war König Gunthrams Seele. Paulus Diaconus teilt übrigens noch mit, daß man an der betreffenden Stelle nachgegraben und in der Tat viel verstecktes Gold gefunden habe. Die Seele hat also das Richtige ermittelt. Von dem Gold ließ der König einen Kelch machen, den er dem heiligen Marcellus in seiner Residenz Châlons widmete, wo der König selbst begraben wurde.

      Auch fremde Seelen vermag der Kundige zu senden, wohin er will. Die Könige von Dahome, so oft sie den Rat eines Gottes einholen wollten, töteten einen Menschen, dessen Seele zum Gott ziehen und von ihm das Nötige in Erfahrung bringen sollte, um es dem Zauberer dann zu offenbaren. Ähnliches erzählt bekanntlich Herodot von den thrakischen Goten: „Alle fünf Jahre wählen sie einen von ihnen durch das Los, den schicken sie als Boten an Zalmoxis und tragen ihm ihr jedesmaliges Anliegen auf.“ Die Entsendung geschieht, indem drei Leute Wurfspieße halten und der zu Sendende hochgeworfen wird, daß er auf die Spieße fällt. Ist er gleich tot, so wird das als gnädiges Zeichen des Gottes betrachtet, sonst wird ein anderer Bote in gleicher Weise entsandt. Herodot fügt hinzu: „Sie geben ihm aber den Auftrag, wenn er noch lebt“. So gleichen sich Anschauungen in voneinander so fernen Landen und so weit abstehenden Zeiten, zum Beweise wie gleichartig die Menschen denken, schließen und handeln!

      Die Anerkennung der Obergewalt mancher Menschen über sich führt dazu, daß deren Seelen besonders hoch bewertet werden. An den Seelenglauben knüpft sich so der Ahnenglaube als das Natürliche und der Übergeordnetenglaube als das oft Aufgezwungene. Den Ahnenglauben finden wir fast auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten verbreitet. Vielleicht mangelt er selbst denjenigen Völkern nicht, die ihre alten Väter und Mütter aussetzen oder gar töten. Es liegt ja nahe, daß der Ernährer der Familie eine eigene Stellung einnimmt und seine Seele besonders geachtet wird. Offenbar wird sie besonders geneigt sein, den Zurückgebliebenen die gleichen und mehr Wohltaten zu erweisen wie im Leben. Da der Wilde absoluter Realist ist, sucht er sich ihre Zuneigung zu wahren. Und dieses hat zu einem eigenartigen Seelen– und Ahnenkultus geführt, der sich überall vorfindet und, wie zu anmutenden Gebräuchen, so auf der Wildenstufe zu den schändlichsten Grausamkeiten geführt hat, die in den merkwürdigsten Formen vertreten sind. Alles dieses steigert sich ins Ungemessene, wenn es sich um die Seele eines mächtigen Zauberers oder eines Häuptlings handelt, so daß hier deren Tod ein wahrer Jammer in des Wortes bösester Bedeutung für ein ganzes Volk werden kann. Wir haben schauerliche Funde aus prähistorischen Zeiten, und entsetzenvolle Erzählungen aus Vergangenheit und Gegenwart. Indessen ist es nicht meine Aufgabe, die Kulte zu besprechen, nur die Anschauungen gehören hierher. Diese aber führen, wie man sieht, zu einer Stufung in den Seelen. Der niedrige Sklave hat eine niedrige Seele, die nichts vermag, der Ahne, Priester und Häuptling besitzen bedeutende Seelen. Und je höher der Rang, je größer die Gewalt, desto mächtiger auch die Seele im Guten und namentlich im Bösen. Diese Differenzierung ist von großer Wichtigkeit; sie hat zu Theorien geführt, wonach die Religionen überhaupt aus Seelen- und Ahnenglaube (wenn wir unter Ahnen allgemein Übergeordnete verstehen) hervorgegangen seien. Ich komme darauf später zu sprechen.

      Die Tiere erachtet der Naturmensch als von sich nicht verschieden, er verleiht ihnen Seelen, der seinigen gleich. Sprechen doch manche afrikanische Stämme davon, daß gewisse Menschen beliebig als Menschen oder als wilde Tiere leben können. Und wenn Polynesier von Leuten erzählen, die sich beliebig in Raubtiere, Vögel, Fische oder Schlangen verwandeln, so meinen sie das nicht nach Art unserer Sagen und Fabeln, sondern rein reell. So hat sich neben einem Menschenseelenglauben auch ein Tierseelenglaube ausgebildet und daran ein Tierseelenkult angeschlossen, der Totemismus. Und wunderlich berührt es, wenn als Ahnenseelen auch Tierseelen angenommen werden, wie das namentlich bei den Indianern der Fall ist, wo nicht bloß Familien, sondern auch ganze Stämme irgendein Tier: Bär, Rabe, Schlange, Schildkröte, Spinne usf. als Urahnen bezeichnen. Wenn ich Lippert recht verstehe, will er freilich nicht die Tierseele als die Ahnenseele anerkennen, sondern eine Menschenahnenseele annehmen, die in das Tier gefahren ist, in ihm ihren Wohnsitz aufgeschlagen hat. Damit würde übereinstimmen, daß Ahnentiere in der Regel nicht getötet und nicht gegessen werden dürfen, aber wiederum nicht dazu passen, daß bei gewissen Festen gerade solche Tiere verzehrt werden müssen. Indessen besteht über den Totemismus überhaupt keine rechte Sicherheit. Manche wollen in den Ahnentieren nichts weiter als Wappenbilder sehen, und zweifellos machen solche auch vielfach diesen Eindruck. Oder sie erklären sie lediglich durch Tiernamen menschlicher Ahnen, die durch Mißverstand zur Annahme von Tieren als Ahnen geführt haben. Das eine oder das andere wird in vielen Fällen zutreffen. Sicher aber ist, daß Tierseelen mitunter nicht mindere Bedeutung haben wie Menschenseelen und gleichfalls Verehrung genießen. Familie und Stamm halten ihr Totem (der Name stammt von den Algonkinindianern her, „Dodaim“) hoch und nennen


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