Marsch der Könige. Морган Райс
Читать онлайн книгу.Zeit ist gekommen“, sagte er zu Thor.
Thor schluckte; hoffte, dass es nicht stimmte, doch er spürte, dass es so war.
„Wisst Ihr, wer diese schreckliche Tat begangen hat, mein Herr?“, stellte Thor die Frage, die schon in ihm brannte, seit er den Traum gehabt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, wer den König töten wollte, oder warum.
MacGil blickte zur Decke hoch und musste vor Anstrengung blinzeln.
„Ich konnte sein Gesicht sehen. Es war ein Gesicht, das ich gut kenne. Doch aus irgendeinem Grund kann ich es nicht zuordnen.“
Er blickte Thor an.
„Es macht keinen Unterschied mehr. Meine Zeit ist gekommen. Ob durch seine Hand oder die eines anderen, der Ausgang ist der gleiche. Was jetzt wichtig ist“, sagte er und fasste Thors Handgelenk mit einer Kraft, die ihn überraschte, „ist, was passiert, nachdem ich gegangen bin. Unser Königreich wird ohne König sein.“
MacGil blickte Thor mit einer Eindringlichkeit an, die er nicht verstand. Thor wusste nicht genau, was er damit sagen wollte—was, wenn überhaupt, er von ihm wollte. Thor wollte nachfragen, doch er konnte sehen, wie schwer es MacGil fiel, Atem zu holen, und er wollte nicht riskieren, ihn zu unterbrechen.
„Argon hatte recht, was dich betrifft“, sagte er und lockerte langsam seinen Griff. „Dein Schicksal ist weit größer als meines.“
Thor fühlte, wie die Worte des Königs einen elektrischen Schlag durch seinen Körper schickten. Sein Schicksal? Größer als das des Königs? Der reine Gedanke daran, dass der König auch nur erwägen würde, Thor mit Argon zu besprechen, war mehr, als Thor begreifen konnte. Und dass er sagte, dass Thors Schicksal größer war als das des Königs—was konnte er bloß damit meinen? Hatte MacGil so nahe am Ende etwa schon Wahnvorstellungen?
„Ich habe dich erwählt... Ich habe dich in meine Familie aufgenommen, aus gutem Grund. Weißt du, was dieser Grund ist?“
Thor schüttelte den Kopf; er wollte es dringend wissen.
„Weißt du nicht, warum ich dich hier haben wollte, nur dich, in meinen letzten Atemzügen?“
„Es tut mir leid, mein Herr“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
MacGil lächelte leise, während ihm die Augen zufielen.
„Fern von hier liegt ein großes Land. Hinter den Wildlanden. Sogar hinter dem Land der Drachen. Es ist das Land der Druiden. Die Heimat deiner Mutter. Dorthin musst du reisen, um die Antworten zu suchen.“
MacGils Augen öffneten sich weit, und er starrte Thor mit einer Eindringlichkeit an, die Thor nicht verstehen konnte.
„Unser Königreich hängt davon ab“, fügte er hinzu. „Du bist nicht wie die anderen. Du bist etwas Besonderes. Solange du nicht verstehst, wer du bist, wird unser Königreich nie zur Ruhe kommen.“
MacGils Augen schlossen sich und sein Atem wurde flach. Jeder Atemzug fiel ihm schwer. Sein Griff um Thors Handgelenk wurde langsam schwächer, und Thor spürte, wie ihm die Tränen aufstiegen. In seinen Gedanken wirbelten die Dinge, die der König gesagt hatte, und er versuchte, den Sinn in seinen Worten zu finden. Er konnte sich kaum konzentrieren. Hatte er alles richtig gehört?
MacGil flüsterte etwas, doch es war so leise, dass Thor es kaum hören konnte. Thor lehnte sein Ohr nahe zu MacGils Lippen.
Der König hob seinen Kopf ein letztes Mal, und mit letzter Anstrengung brachte her hervor:
„Räche mich.“
Dann, plötzlich, versteifte sich MacGil. Einige Augenblicke lang lag er so da, dann rollte sein Kopf auf die Seite und seine Augen öffneten sich weit, erstarrt.
Tot.
„NEIN!“, klagte Thor auf.
Sein Klagen muss laut genug gewesen sein, um die Wachen zu alarmieren, denn einen Augenblick später hörte er, wie eine Tür hinter ihm aufflog, hörte den Aufruhr von dutzenden Menschen, die ins Zimmer stürmten. In einer Ecke seines Bewusstseins war ihm klar, dass um ihn herum Bewegung herrschte. Dumpf hörte er die Burgglocken läuten, wieder und wieder. Die Glocken dröhnten, gleich dem Dröhnen des Bluts in seinen Schläfen. Doch alles verschwamm, und Augenblicke später drehte sich der Raum um ihn.
Thor verlor das Bewusstsein und sackte auf dem Boden zusammen.
KAPITEL SECHS
Ein Windstoß traf Gareth ins Gesicht und er blickte hoch in das blasse Licht der ersten aufgehenden Sonne, die Tränen wegblinzelnd. Der Tag brach gerade erst an, und schon hatten sich an diesem abgelegenen Ort hier am Rande der Kolvian-Klippen hunderte Verwandte, Freunde und enge Untertanen des Königs versammelt, die sich mit dem Wunsch zusammendrängten, an der Bestattung teilzunehmen. Direkt hinter ihnen, zurückgehalten von einem Heer an Soldaten, konnte Gareth die hereinströmenden Massen sehen, tausende Menschen, die der Zeremonie von Ferne beiwohnten. Die Trauer auf ihren Gesichtern war aufrichtig. Sein Vater war geliebt gewesen, soviel war sicher.
Gareth stand mit dem Rest der direkten Familie im Halbkreis um den Leichnam seines Vaters, der auf Brettern über einer Grube im Boden aufgebahrt war; bereit, hinabgelassen zu werden. Argon stand vor der Menge, in die tiefroten Roben gehüllt, die für Bestattungen vorbehalten waren, mit einem unergründlichen Ausdruck auf dem Gesicht, das von einer Kapuze verdunkelt wurde, und blickte auf den Leichnam des Königs hinab. Gareth versuchte verzweifelt, dieses Gesicht zu lesen; zu entziffern, wie viel Argon wusste. Wusste Argon, dass er seinen Vater umgebracht hatte? Und wenn ja, würde er es den anderen berichten—oder dem Schicksal seinen Lauf lassen?
Zu Gareths Unglück war dieser lästige Junge, Thor, von allen Vorwürfen freigesprochen worden; klarerweise hätte er den König nicht erstechen können, während er im Kerker saß. Nicht zu vergessen, dass sein Vater selbst allen anderen erklärt hatte, dass Thor unschuldig war. Was die Sache für Gareth nur noch schlimmer machte. Ein Rat war bereits gebildet worden, um die Sache zu untersuchen, jedes einzelne Detail seines Mordest genauestens unter die Lupe zu nehmen. Gareths Herz pochte, während er mit den anderen zusammen dastand und auf den Leichnam starrte, der bald in das Erdreich hinuntergelassen werden würde; er wollte mit ihm mit versinken.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Spur zu Firth führte—und sobald das geschah, würde Gareth mit ihm zusammen fallen. Er würde schnell handeln müssen, um die Aufmerksamkeit abzulenken und die Schuld jemand anderem zuzuschieben. Gareth fragte sich, ob sein Umfeld ihn verdächtigte. Wahrscheinlich war er nur paranoid, und als er auf die Gesichter um ihn herum blickte, war da niemand, der ihn ansah. Da standen seine Brüder, Reece, Godfrey und Kendrick; seine Schwester Gwendolyn; und seine Mutter, ihr Gesicht von Trauer zerfurcht, wie erstarrt; tatsächlich war sie seit dem Tod seines Vaters wie verändert, kaum fähig, zu sprechen. Er hatte gehört, dass etwas mit ihr passiert war, als sie die Nachricht erhielt, in ihr drin; eine Art Lähmung. Ihr halbes Gesicht war wie erstarrt; wenn sie ihren Mund öffnete, kamen die Worte zu langsam hervor.
Gareth betrachtete die Gesichter des Königlichen Rats hinter ihr—sein führender General Brom und der Hauptmann der Legion, Kolk, standen vorne, und hinter ihnen die endlose Masse der Ratgeber seines Vaters. Sie alle täuschten Trauer vor, doch Gareth wusste es besser. Er wusste, dass es all diese Leute, all die Ratgeber und Ratsmitglieder und Generäle—und all die Adeligen und Lords hinter ihnen—kaum bekümmerte. In ihren Gesichtern sah er Ehrgeiz. Gier nach Macht. Während sie alle auf die Leiche des Königs starrten, fühlte er, wie jeder unter ihnen sich fragte, wer wohl als Nächstes den Thron besteigen würde.
Es war derselbe Gedanke, der Gareth beschäftigte. Was würde in den Nachwehen eines solch chaotischen Attentats geschehen? Wäre es sauber und einfach gewesen, und würde der Verdacht auf jemand anderem liegen, dann wäre Gareths Plan perfekt gewesen—der Thron würde in seine Hände fallen. Immerhin war er der erstgeborene legitime Sohn. Sein Vater hatte die Macht Gwendolyn überlassen,