Die Schlucht. Иван Гончаров

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Die Schlucht - Иван Гончаров


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deutlich in großen, packenden Bildern, als wäre er selbst dort gewesen und hätte es mit eigenen Augen gesehen.

      »Du schwindelst ja!« sagte bisweilen irgendein Skeptiker unter seinen Zuhörern. »Davon hat uns doch Wassili Nikititsch nichts gesagt!«

      Der Direktor hörte ihn einmal von den Wilden erzählen, wie sie die Menschen fangen und fressen, wie sie im Urwald hausen, was für Waffen sie haben, wie sie von den Bäumen herab die wilden Tiere erlegen – selbst ihre Art, in Kehllauten zu sprechen, machte er nach.

      »Dummes Zeug schwatzen kannst du,« sagte der Direktor zu ihm, »und beim Examen neulich hast du nicht einmal die russischen Flüsse aufzählen können! Nächstens setzt es Prügel, wart’ nur, mein Söhnchen! Für nichts Ernsthaftes hat er Sinn, ein richtiger Dummkopf!« Und er zog ihn kräftig am Ohre.

      Raiski musterte den Direktor, wie er dastand und auf ihn einsprach, wie seine bösen, kalten Augen zu ihm niederschauten, suchte sich klar zu werden, warum es ihn kalt überlief, als der Direktor ihn am Ohr faßte. Dann stellte er sich vor, wie man ihn abführen würde, um ihn zu prügeln, wie sein Mitschüler Sewastjanow vor Schreck plötzlich ganz mager werden und eine weiße Nase bekommen würde, wie Borowikow vor Aufregung zittern, hüpfen und kichern und der gutmütige Masljanikow ihn weinend umarmen und von ihm Abschied nehmen würde, als sollte er aufs Schafott abgeführt werden. Weiter malte er sich aus, wie man ihn entkleidete, wie zuerst sein Herz, dann seine Arme und Beine erstarrten, und wie ihn dann Sidorytsch, der Pedell, ganz sacht auf die Prügelbank legte, da er selbst nicht imstande war, sich zu bewegen . . . Er hörte in Gedanken sein eigenes Wimmern, sah seine Beine zappeln, und es überlief ihn kalt . . .

      Seine Nerven erschlafften, er konnte nicht essen noch schlafen. Die bloße Drohung des Direktors empfand er als Beleidigung, und es schien ihm, daß, wenn sie wirklich zur Ausführung gelangen sollte, alles Gute in ihm vernichtet, sein Leben häßlich und arm und er selbst zum verachteten, verlassenen Bettler werden würde.

      Zufällig nahm damals gerade der Religionslehrer die Geschichte des armen Hiob durch, der, von allen verlassen, als elender Kranker auf dem Düngerhaufen saß . . .

      Raiski brach in Tränen aus bei der Erzählung, und die anderen schalten ihn einen Waschlappen. Drei Tage lang, bis zum Sonntag, ging er einsam und düster umher, daß er kaum wiederzuerkennen war, und als die Kameraden ihn fragten, was ihm fehle, sprach er nicht ein Wort.

      Am Sonntag fuhr er dann nach Hause und fand im Bücherschrank das »Befreite Jerusalem« in Moskotilnikows Übersetzung. Er vergaß den Direktor und seine Drohungen über dem Buche, rührte sich den ganzen Tag nicht vom Diwan, aß hastig zu Mittag und las weiter, bis es längst dunkel war. Am Montagmorgen nahm er das Buch in die Schule mit, las es heimlich voll Gier und Hast zu Ende und erzählte dann vierzehn Tage lang bald diesem, bald jenem den Inhalt.

      Er träumte Nacht für Nacht von fernen Ländern und fremden Menschen, er sah die steinigen Wüsten Palästinas in ihrer dürren, traurigen Schönheit, sah den schimmernden Sand und fühlte die glühende Hitze und bewunderte die Menschen, die ein so hartes, tapferes Leben führten und so leicht starben!

      Er sehnte sich förmlich danach, in diesen steinigen Wüsten umherzuziehen, Sarazenen zu töten, Hunger und Durst zu ertragen und zu sterben, einzig nur damit man sähe, daß er zu sterben wisse. Ganze Nächte brachte er schlaflos zu, als er von Armida las, wie sie die Ritter, selbst einen Rinaldo, bezauberte.

      »Wie mag sie nur ausgesehen haben?« dachte er – und er stellte sie sich bald so vor wie seine Tante Warwara Nikolajewna, die immer den Hals verdrehte und mit den Augen blinzelte, bald wie die Frau des Direktors, die schöne weiße Hände und einen so durchdringend scharfen Blick hatte, bald wie die dreizehnjährige hübsche Tochter des Polizeimeisters, die in ihrem kurzen Kleidchen und den weißen Spitzenhöschen darunter so vergnügt umherhüpfte.

      Ganz zusammengekauert saß er da und las voll Gier, fast atemlos, aufs heftigste erregt und gespannt, und plötzlich warf er dann das Buch wütend fort und lief wie ein Rasender davon, wenn der tapfere Rinaldo – oder Malek-Adel in dem Roman der Frau Cotton – zu den Füßen der Zauberin sich vor Gram verzehrten.

      Dann trug ihn die Phantasie wieder in das Land des Ossian: ein neues Leben, neue Menschen und Bilder, noch großartiger und ungewöhnlicher, wenn auch rauher als jene.

      Und alles dies, das so gar nicht dem Leben um ihn herum glich, zog ihn förmlich hinein in seinen Wunderbann, aus dem er immer erst mühsam wie aus einem Rausche erwachte. Bleich und matt ging er dann lange Zeit umher, bis wieder ein neues fremdes Leben, neue seltsame Freuden und Leiden ihn wie ein frischer Wasserstrahl weckten.

      Der Onkel gab ihm die »Geschichte der vier Heinriche«, der »Bourbonen bis zu Ludwig XVIII.« und ähnliche Werke zu lesen, aber alles das war für ihn nur das, was das nüchterne Wasser für den ist, der sich bereits ans Rumtrinken gewöhnt hat. Nur ganz vorübergehend vermochten ihn Iwan III. und IV. und Peter der Große anzuregen.

      Er vertiefte sich in den Plutarch, um sich nur recht weit vom Leben der Gegenwart zu entfernen, doch auch dieser Schriftsteller erschien ihm trocken, gab ihm nichts Farbiges, keine Bilder wie die Bücher, die er früher gelesen, und wie später der Telemach und bald darauf die Ilias. Im Verkehr mit den Kameraden benahm er sich sehr seltsam, sie wußten nicht, was sie aus ihm machen sollten. Seine Zuneigung und Abneigung wechselte so häufig den Gegenstand, daß er weder dauernde Freundschaften noch Feindschaften hatte.

      In dieser Woche nähert er sich dem einen, sucht ihn überall, sitzt mit ihm ewig zusammen, liest, erzählt sich etwas, flüstert mit ihm. Dann wendet er sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund von ihm ab, verguckt sich in einen anderen, steckt eine Zeitlang mit ihm zusammen und läßt ihn wieder laufen.

      Beleidigt ihn einer seiner Kameraden, so schweigt er zunächst, nimmt nur eine finstere Miene an und läßt seinen Grimm und Zorn sich zu einer trotzigen Feindschaft auswachsen. Und wenn die Beleidigung selbst längst verblaßt und der Grund der Feindschaft vergessen ist, setzt er diese doch fort: die ganze Klasse beobachtet die Entwicklung, und er selbst wohl am aufmerksamsten. Dann überkommt ihn plötzlich eine großmütige Anwandlung, und er lechzt förmlich danach, sein edles Herz in seinem ganzen Glanze zu zeigen; eine feierliche Versöhnung wird in Szene gesetzt, in der sein Edelmut sich offenbaren kann, und wiederum hat die ganze Klasse ihr Pläsier, und er selbst am meisten.

      Er spielte bei solchen Gelegenheiten gleichsam den unbeteiligten Zuschauer und fand einen eigenen Genuß darin, sich selbst und seinen Widerpart zu studieren, zu beobachten und die ganze Szene sich vor seinen Augen abrollen zu sehen.

      Und wenn dann alles zu Ende ist, wenn die aufprasselnde Flamme in ihm erloschen und der Rausch verflogen ist, dann ist er wie einer, der plötzlich aus lebhaftem Traume erwacht: er schaut verwundert um sich, und eine Stimme aus seinem Innern heraus fragt: Was soll das alles? Und er zuckt die Achseln und weiß keine Antwort auf die Frage.

      Ein andermal kann er wieder über irgendeine Kleinigkeit in Entzücken geraten: ein wohlgesättigter Mitschüler schenkt einem armen Schlucker eine Semmel, wie das die tugendsamen Kinder in den Lehrbüchern und Vorschriften zu tun pflegen; ein anderer nimmt bei irgendeinem dummen Streich die Schuld für einen Kameraden auf sich; ein dritter geht mit düsterer Miene umher, als ob er über die Lösung irgendeines tiefen Welträtsels nachsänne – gleich ist Raiski in heller Begeisterung entflammt, spricht nur mit Tränen der Rührung von ihnen, sucht in ihnen etwas Ungewohntes, Geheimnisvolles und behandelt sie mit einer Hochachtung, die sich unwillkürlich auch den anderen mitteilt.

      Acht Tage später jedoch, wenn die Kameraden eines schönen Morgens zu Raiski kommen und das Gespräch auf einen der gefeierten Phönixe bringen, lacht er ihnen einfach ins Gesicht: »Da habt ihr euch mal den Rechten ausgesucht! Wie kann euch der nur imponieren? Dieser Hausnarr!«

      Alle reißen den Mund auf vor Verblüffung, und er selbst schämt sich seiner früheren Begeisterung. Der Lichtstrahl, der für kurze Weile auf sein Idol gefallen war, ist erloschen, die Farben sind verblaßt, die Formen welk geworden, und schon sucht sein gieriger Blick etwas Neues, ein anderes Schauspiel, eine frische Sensation, und solange die nicht gefunden ist, empfindet er Langeweile, ist gallig und ungeduldig oder starrt dumpf brütend vor sich hin. Auch außerhalb der Schule war Raiskis Verhalten ganz seltsam,


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