Die Schlucht. Иван Гончаров

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Die Schlucht - Иван Гончаров


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Waßjukow vor allem darauf bedacht, Raiski die Finger zurecht zu renken; er begleitete jede Note, die der Schüler auf dem Klavier spielte, mit einem Aufstampfen des Fußes und einem monotonen Singsang: »a—a—u—u—o—o—«.

      Nur aus Scheu vor dem Vormund ließ Raiski diese Folterqual über sich ergehen und kam so im Verlauf etlicher Monate über die ersten Schritte hinaus. Dabei hatte er beständig seine Launen: spielte nicht mit dem Finger, mit dem er spielen sollte, sondern mit dem, der ihm gerade am bequemsten war, übte keine Tonleitern, sondern lauschte nur immer auf die Motive, die ihm durch den Kopf gingen, war glücklich, wenn er dieselbe Kraft und denselben Ausdruck in sein Spiel legen konnte wie irgendein tüchtiger Spieler, den er zufällig gehört hatte, und ließ sich von dessen Spiel begeistern, wie er sich früher von den Strichen und Punkten des Zeichenlehrers hatte begeistern lassen.

      Mit den Noten konnte er sich nie recht befreunden, es schien ihm eine Tortur, all die verstaubten und vergilbten Notenhefte der Musikschule, die der Lehrer ihm brachte, der Reihe nach durchzuarbeiten. Dagegen lauschte er häufig seinem eigenen Spiel, und es war ihm dabei, als liefen ihm die Ameisen über den Rücken.

      Er sah im Geiste bereits den von Menschen angefüllten Saal und sich selbst darin am Flügel, die Wände ringsum und die Herzen der Kenner mit seinem Spiel erschütternd. Mit glühenden Wangen lauschten ihm schöne Frauen, und sein Gesicht flammte in verschämter Freude über den eigenen Triumph . . .

      Er wischte eine Träne fort, die still über seine Wange rann, er war ganz hin, ganz enthusiasmiert von dem herrlichen Traumbild.

      Als er mit Mühe und Not die ersten technischen Schwierigkeiten überwunden hatte, schienen seine Finger, statt sich an die Notenhefte zu halten, bereits etwas Eigenes zu suchen und ihm jenen Saal, jene schönen Frauen, jene Stürme des Beifalls vorzuzaubern.

      Bald hatte er all die rotbäckigen kleinen Damen seiner Bekanntschaft überholt und setzte sie durch die Kraft und Kühnheit seines Spiels und die temperamentvolle Leichtigkeit, mit der seine Finger über die Tasten huschten, in Erstaunen. Sie saßen immer noch an irgendeinem vorsintflutlichen Rondeau oder einer vierhändigen Sonate, während er längst über alle Übungen und Sonaten hinweggesprungen war, zuerst zu Quadrillen und Märschen und dann zu den Opern. Er absolvierte den Kursus nach seinem eigenen Programm, das ihm durch sein Gehör und seine Phantasie diktiert ward.

      Hörte er Orchestermusik, so merkte er sich mit Leichtigkeit, was ihm gefiel, und wiederholte, berauscht von der Bewunderung seiner Zuhörerinnen, die erlauschten Motive. Er galt als der beste, talentvollste Spieler der ganzen Gegend, und sein deutscher Lehrer versicherte, sein Talent sei ganz erstaunlich, noch erstaunlicher aber seine Trägheit.

      Aber was hatte das schließlich auf sich? Eine gewisse Trägheit und Nachlässigkeit kleidet ja den Künstler! Überdies hatte ihm irgend jemand gesagt, daß, wer Talent besitzt, nicht viel zu arbeiten brauche, daß nur talentlose Leute arbeiten, um sich mit vieler Mühe einen kläglichen Ersatz für die große, alles besiegende Gabe der Natur – das Talent – zu schaffen.

      Siebentes Kapitel

      Raiski hatte das Gymnasium verlassen und war auf die Universität gegangen. Die ersten Sommerferien wollte er bei seiner Großtante Tatjana Markowna Bereschkowa verbringen.

      Diese Großtante lebte auf dem kleinen Erbgute, das Boris von seiner Mutter zugefallen war. Es lag ganz in der Nähe der Stadt, von der es nur durch die Felder und durch die am Wolgaufer liegende Vorstadt getrennt war. Es zählte nur fünfzig Seelen; von den beiden Häusern, die darauf standen, war das eine massiv gebaut, doch jetzt verlassen und vernachlässigt; das andere, ein hölzernes Gebäude, war von Raiskis Vater errichtet, und hier, in diesem Häuschen, wohnte nun Tatjana Markowna mit zwei verwaisten Großnichten im Alter von sieben und sechs Jahren, deren Mutter, Tatjana Markownas Nichte, von der alten Dame wie eine Tochter geliebt worden war. Die Großtante besaß ihr eigenes Kapital und ihr eigenes kleines Gut; sie war unvermählt geblieben und hatte sich nach dem frühen Tode von Raiskis Eltern, zu denen sie gleichfalls im Verhältnis einer Tante gestanden, hier auf dem Raiskischen Gute häuslich eingerichtet.

      Sie herrschte auf dem kleinen Besitztum wie in einem Königreiche, hielt gute Ordnung und kümmerte sich um alles, regierte jedoch nach vollkommen despotisch-feudalen Grundsätzen. Dem Vormund des Erben gestattete sie nicht, die Nase in ihre Wirtschaft hineinzustecken, sie wollte von Dokumenten, Berichten oder Akten irgendwelcher Art nichts wissen, hielt die Ordnung aufrecht, die bei Lebzeiten des letzten Besitzers geherrscht hatte, und antwortete auf die Briefe des Vormundes ganz kurz, daß alle Dokumente und Akten in ihrem Gewissen aufgezeichnet seien, und daß sie ihrem Großneffen schon Rechnung legen würde, sobald er großjährig geworden – bis dahin sei sie nach einem mündlichen Vermächtnis der Eltern Raiskis völlig unbeschränkt in der Verwaltung des Gutes.

      Der Vormund zuckte die Achseln und ließ sie fortan in Ruhe – war es doch nur ein kleiner Besitz, der in den Händen einer Verwalterin wie Tatjana Markowna wohl aufgehoben schien.

      Nun kam Raiski, der soeben in die Universität eingetreten war, zu ihr zum Besuch – er wollte einige Wochen bleiben, um dann vielleicht für lange Zeit Abschied zu nehmen. Wie ein Eden mutete ihn der kleine Winkel an, den er in seiner Kindheit verlassen hatte, und den er nur zuweilen in seinen Schulferien wiedergesehen hatte. Welch herrliche Aussichten ringsum – jedes Fenster im Hause erschien wie ein Rahmen für ein entzückendes Gemälde!

      Auf der einen Seite zog sich die Wolga mit ihrem steilen Ufer und den weiten Geländen dahinter durch die Landschaft hin; auf der anderen Seite lagen ausgedehnte Felder, zum Teil bearbeitet, zum Teil brach, und Schluchten, und dahinter als Abschluß in der Ferne die bläulich schimmernden Berge. In einer dritten Richtung sah man Dörfer und Weiler und einen Teil der Stadt. Die Luft war frisch und ein wenig kühl, ein leichter Schauer, wie nach einem Flußbad, überlief den Körper.

      Mitten in dieser herrlichen Landschaft, dieser Luft, diesen Feldern und Gärten, lag der Gutshof. Ein ausgedehnter Park umgab die beiden Häuser, er schien gut in Ordnung gehalten und wies schattige Alleen, Lauben und Bänke auf. Je weiter man sich von den Häusern entfernte, desto ungepflegter erschien er. Neben einer mächtigen, weitästigen Rüster, unter der eine vermoderte Gartenbank stand, erhoben sich zahlreiche Kirsch-, Apfel- und Birnbäume; hier standen Ebereschen, dort eine Gruppe von Linden, die wohl eine Allee vorstellen sollten, jedoch unvermittelt in den Wald übergingen und zwischen den Tannen und Birken verschwanden. Und plötzlich fand dann alles seinen jähen Abschluß in einer Schlucht, die mit dichtem, bis fast auf eine halbe Werst ans Ufer der Wolga heranreichendem Buschwerk bestanden war.

      Näher nach dem Hause zu lag der Gemüsegarten, in dem Kohl und Rüben, Mohrrüben und Petersilie, Gurken und Kletterbohnen gediehen, während in einem kleinen Treibhause Melonen und Arbusen gezogen wurden. Die Sonnenblumen, Mohnblüten und Feuerbohnen hoben sich als grell in die Augen fallende Flecken von dem grünen Hintergrunde ab.

      Vor den Fenstern des kleinen Häuschens lag im hellen Sonnenschein ein großer Blumengarten, aus dem eine kleine Pforte in den Hof und eine Glastür nach der Veranda vor dem Wohnhause führte.

      Tatjana Markowna liebte den freien Ausblick aus den Fenstern, man sollte nicht wie in eine Höhle hineinschauen, Sonne und Blumenduft sollten freien Zutritt haben. Von der anderen Seite des Hauses, die dem Hofe zugewandt war, konnte sie alles übersehen, was dort vorging: die Gesindestube, die Küche, den Heuschuppen, die Stallungen und Kellerräume – alles lag offen vor ihren Augen da, wie auf der flachen Hand.

      Das massive alte Haus stand abseits im Hintergrunde des Hofes; es nahm sich aus wie ein blinder Fleck im Auge, hatte etwas Düsteres, Graues, Verschossenes und lag fast immer im Schatten; die Fenster waren zum Teil zertrümmert, auf der Freitreppe wucherte das Gras, und vor die schweren Türen waren ebenso schwere Riegel geschoben. Das Ganze machte bei aller Vernachlässigung noch immer einen kompakten, trotzigen Eindruck.

      Auf das kleine hölzerne Wohnhaus dagegen schien vom frühen Morgen bis zum späten Abend die Sonne warm herab, die Bäume waren gleichsam zurückgetreten, um den Raum und die Luft nicht zu versperren. Der Blumengarten zog sich nach der Parkseite hin wie eine Girlande um die hölzernen Wände, und Kletterrosen, Dahlien und andere Blumen machten förmlich Miene, in die Fenster hineinzukriechen.

      Schwalben


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