Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser

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Wachtmeister Studer - Friedrich C.  Glauser


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      Go­do­frey nick­te. Ma­de­lin schüt­tel­te sein Haupt und Stu­der sag­te kurz: »Schwin­del.«

      Pa­ter Matt­hi­as über­hör­te das Wort. Sei­ne Au­gen wa­ren in die Fer­ne ge­rich­tet – aber die Fer­ne, hier in der klei­nen Bei­ze, war der Schank­tisch mit sei­nem glän­zen­den Per­ko­la­tor. Der Pa­tron saß da­hin­ter, die Hän­de über dem Bauch ge­fal­tet und schnarch­te. Die vier am Tisch wa­ren sei­ne ein­zi­gen Gäs­te. Das Le­ben in sei­ner Bei­ze be­gann erst ge­gen zwei Uhr, wenn die ers­ten Kar­ren mit Treib­ge­mü­se ein­tra­fen…

      »Ich möch­te«, sag­te der Wei­ße Va­ter, »Ih­nen die Ge­schich­te ei­nes klei­nen Pro­phe­ten er­zäh­len, ei­nes Hell­se­hers, wenn Sie ihn so nen­nen wol­len, denn die­ser Hell­se­her ist dar­an schuld, dass ich mich hier be­fin­de, an­statt die klei­nen Pos­ten im Sü­den von Marok­ko ab­zu­klop­fen, um dort für die ver­lo­re­nen Schäf­lein der Frem­den­le­gi­on Mes­sen zu le­sen…

      Wis­sen Sie, wo Géryville liegt? Vier Stun­den hin­term Mond, ge­nau­er ge­sagt in Al­ge­ri­en, auf ei­nem Hoch­pla­teau, sieb­zehn­hun­dert Me­ter über dem Mee­res­s­pie­gel, wie es die In­schrift auf ei­nem Stein ver­kün­det, der in­mit­ten des Ka­ser­nen­ho­fes steht. Hun­dert­vier­zig Ki­lo­me­ter von der nächs­ten Bahn­sta­ti­on ent­fernt. Die Luft ist ge­sund, dar­um hat mich der Pri­or dort hin­auf ge­schickt im Sep­tem­ber vo­ri­gen Jah­res, denn ich habe schwa­che Lun­gen. Es ist eine klei­ne Stadt, die­ses Géryville, we­nig Fran­zo­sen be­woh­nen sie, die Be­völ­ke­rung be­steht zum größ­ten Teil aus Ara­bern und Spa­nio­len. Mit den Ara­bern ist nicht viel an­zu­fan­gen, sie las­sen sich nicht ger­ne be­keh­ren. Sie schi­cken ihre Kin­der zu mir – das heißt, sie er­lau­ben, dass die Klei­nen zu mir kom­men… Auch ein Ba­tail­lon der Frem­den­le­gi­on lag dort oben. Die Le­gio­näre be­such­ten mich manch­mal; mein Vor­gän­ger hat­te eine Biblio­thek an­ge­legt – und da ka­men sie denn: Kor­po­rä­le, Ser­gean­ten, hin und wie­der auch ein Ge­mei­ner, schlepp­ten Bü­cher fort oder rauch­ten mei­nen Ta­bak. Manch­mal emp­fand ei­ner mei­ner Be­su­cher das Be­dürf­nis zu beich­ten… Es ge­hen selt­sa­me Din­ge vor in den See­len die­ser Men­schen, er­grei­fen­de Be­keh­run­gen, von de­nen jene kei­ne Ah­nung ha­ben, wel­che die Le­gi­on für den Ab­schaum der Mensch­heit hal­ten.

      Gut… Kommt da ei­nes Abends ein Kor­po­ral zu mir, der klei­ner ist als ich; sein Ge­sicht gleicht dem ei­nes ver­krüp­pel­ten Kin­des, trau­rig und alt ist es… Er hei­ße Col­la­ni, stockt und be­ginnt dann fie­ber­haft zu spre­chen. Es ist kei­ne re­gel­rech­te kirch­li­che Beich­te, die der Mann ab­legt. Ei­nen Mo­no­log hält er eher, ein Selbst­ge­spräch. Al­ler­lei muss er sich von der See­le re­den, was nicht zu mei­ner Ge­schich­te ge­hört. Er spricht ziem­lich lang, eine hal­be Stun­de etwa. Es ist Abend und eine grün­li­che Däm­me­rung füllt das Zim­mer; sie kommt vom dor­ti­gen Herbst­him­mel, der hat manch­mal so merk­wür­di­ge Far­ben…«

      Stu­der hat­te die Wan­ge auf die Hand ge­stützt und so ge­spannt lausch­te er der Er­zäh­lung, dass er gar nicht merk­te, wie er sein lin­kes Auge arg ver­zog: schief sah es aus und ge­schlitzt, wie das ei­nes Chi­ne­sen…

      Das Hoch­pla­teau!… Die wei­ten Ebe­nen!… Das grü­ne Abend­licht!… Der Sol­dat, der beich­tet!…

      Es war doch et­was ganz an­de­res als das, was man tag­täg­lich sah! Frem­den­le­gi­on! Der Wacht­meis­ter er­in­ner­te sich, dass auch er ein­mal hat­te en­ga­gie­ren wol­len, zwan­zig Jah­re war er da­mals alt ge­we­sen, we­gen ei­nes Strei­tes mit sei­nem Va­ter… Aber dann war er – um die Mut­ter nicht zu be­trü­ben – in der Schweiz ge­blie­ben, hat­te Kar­rie­re ge­macht und es bis zum Kom­mis­sär an der Ber­ner Stadt­po­li­zei ge­bracht. Spä­ter war jene Bank­ge­schich­te pas­siert, die ihm das Ge­nick ge­bro­chen hat­te. Und auch da­mals war wie­der der Wunsch in ihm auf­ge­stie­gen, al­les ste­hen und lie­gen zu las­sen… Doch da war sei­ne Frau, sei­ne Toch­ter – und so gab er den Plan auf, fing wie­der von vor­ne an, ge­dul­dig und be­schei­den… Nur die Sehn­sucht schlum­mer­te wei­ter in ihm: nach den Ebe­nen, nach der Wüs­te, nach den Kämp­fen. Da kam ein Pa­ter und weck­te al­les wie­der.

      »Er spricht also ziem­lich lan­ge, der Kor­po­ral Col­la­ni. In sei­ner re­se­dagrü­nen Ca­pot­te sieht er aus wie ein er­ho­lungs­be­dürf­ti­ges Cha­mä­le­on. Er schweigt eine Wei­le, ich will schon auf­ste­hen und ihn mit ein paar trös­ten­den Wor­ten ent­las­sen, da be­ginnt er plötz­lich mit ganz ver­än­der­ter Stim­me, rau und tief klingt sie, so, als ob ein an­de­rer aus ihm rede, und die Stim­me kommt mir son­der­bar be­kannt vor:

      ›Wa­rum nimmt Ma­ma­dou das Lein­tuch vom Bett und ver­steckt es un­ter sei­ner Ca­pot­te? Ah, er will es in der Stadt ver­kau­fen, der ge­mei­ne Hund! Und ich bin für die Wä­sche ver­ant­wort­lich. Jetzt geht er die Trep­pen hin­un­ter, quer über den Hof zum Git­ter. Na­tür­lich, er wagt sich nicht an der Wa­che vor­bei! Und am Git­ter war­tet Bi­el­le auf ihn, nimmt ihm das Lein­tuch ab. Wo­hin will Bi­el­le? Aha! Er läuft zum Ju­den in der klei­nen Stra­ße… Er ver­kauft das Lein­tuch für einen Du­ro…‹«

      »Ein Duro«, er­klär­te Ma­de­lin, »ist ein Fünf­fran­ken­stück aus Sil­ber…«

      »Dan­ke«, sag­te Pa­ter Matt­hi­as und schwieg. Er griff un­ter den Tisch, be­schäf­tig­te sich mit sei­ner Kut­te, die ir­gend­wo eine tie­fe Ta­sche ha­ben muss­te, und för­der­te aus ihr zu­ta­ge: ein Nas­tuch, ein Ver­grö­ße­rungs­glas, einen Ro­sen­kranz, eine aus ro­ten Le­der­strei­fen ge­floch­te­ne Brief­ta­sche und end­lich eine Schnupf­ta­baks­do­se. Aus die­ser nahm er eine ge­hö­ri­ge Pri­se. Dann schneuz­te er sich laut und trom­pe­tend, der Bei­zer hin­ter dem Schank­tisch schreck­te auf, der Wei­ße Va­ter aber fuhr fort:

      »Ich sage zu dem Mann: ›Col­la­ni! Wa­chen Sie auf, Kor­po­ral! Sie träu­men ja!‹ – Aber er plap­pert wei­ter: ›Ich will euch leh­ren, mi­li­tä­ri­sches Ei­gen­tum zu ver­quan­ten! Mor­gen sollt ihr Col­la­ni ken­nen­ler­nen!‹ – Da pa­cke ich den Kor­po­ral an der Schul­ter und schütt­le ihn ge­hö­rig, denn es wird mir doch un­heim­lich zu­mu­te. Er wacht wirk­lich auf und sieht sich er­staunt um. ›Wis­sen Sie, was Sie mir er­zählt ha­ben?‹, fra­ge ich. – ›Doch‹, er­wi­dert Col­la­ni. Und wie­der­holt mir, was er in der Tran­ce – so nennt man doch die­sen Zu­stand?…«

      »Si­cher­lich!«, schob Go­do­frey eif­rig ein.

      »… was er mir in der Tran­ce er­zählt hat. Da­rauf ver­ab­schie­det er sich. Am nächs­ten Mor­gen um acht Uhr – sehr klar war der Sep­tem­ber­mor­gen, man sah die Schotts, die großen Salz­seen, in der Fer­ne fun­keln – tret’ ich aus dem Haus und sto­ße mit Col­la­ni zu­sam­men, der vom Fou­ri­er und vom Haupt­mann be­glei­tet ist. Haupt­mann Pou­et­te er­zählt mir, Col­la­ni habe ihm ge­mel­det, dass seit ei­ni­ger Zeit Lein­tü­cher ver­schwän­den. Und Col­la­ni ken­ne so­wohl die Die­be als auch den Heh­ler. Die Die­be sei­en schon ein­ge­sperrt, nun kom­me der Heh­ler an die Rei­he. – Col­la­ni sah aus wie ein Quel­len­su­cher ohne Wün­schel­ru­te. Sei­ne Au­gen blick­ten starr, doch war er bei vol­lem Be­wusst­sein. Nur dräng­te er vor­wärts…

      Ich will Sie nicht wei­ter lang­wei­len. Bei ei­nem Ju­den, der Zwie­beln, Fei­gen und Dat­teln in ei­nem win­zi­gen Läd­lein feil­hielt, fan­den wir vier Lein­tü­cher auf dem Grun­de ei­ner Oran­gen­kis­te…


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