Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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Herr, fressen Sie! Glauben Sie, wenn Sie jeden Tag dürrer werden, nützt mir Ihre Arbeit was?«

      »Ich habe keinen Hunger mehr, Herr Amtmann,« entgegnete Tarnow mit vollkommener Ruhe.

      »Hunger mehr, was heißt das? Wenn ich sage, fressen Sie, dann fressen Sie! Verstanden? Stehen Sie auf, wenn ich mit Ihnen rede.«

      Tarnow stand auf.

      »Schließen Sie das Fenster,« befahl Truchs.

      Tarnow schloß das Fenster.

      »Öffnen Sie es wieder!« befahl er und stieß die Schaffnerin von neuem in die Seite.

      Tarnow öffnete es wieder. Er that es still und wie selbstverständlich. Nichts von Erbitterung war auf seinen Mienen zu lesen, nichts von zurückgehaltenem Zorn. Geduldig wartete er, was der Amtmann noch mit ihm beginnen würde.

      »Jetzt können Sie gehen,« sagte Truchs und stützte den Kopf in die Hand, während Tarnow mit einer linkischen Verbeugung, die der Schaffnerin galt, hinaus ging. Er nahm seinen Hut und verließ alsbald den Hof, um die Richtung nach der Stadt einzuschlagen. Soldaten mit frischgewaschenen Drillichröcken blickten von den Stockwerken der Kaserne auf ihn herab, und als er die Fahrstraße erreicht hatte, geriet er in ein Gewimmel von Menschen, das immer größer wurde, je mehr er sich der inneren Stadt näherte. Den Main hinab fuhren Boote, beglänzt von der sich rötenden Sonnenscheibe; die vergoldete Domuhr brannte förmlich im Feuer. Flatternde Fahnen über den Wirtschaftsgärten, quietschende Tanzmusik aus winkeligen Gassen, und dann das sinnlose Gedränge auf den Budenstätten! Tarnow vermied die dichtesten Massen und besah nur, was er eben besehen konnte, ohne viel Neugierde zu zeigen, aber auch ohne Gleichgültigkeit, alles mit dem inneren Frieden und der merkwürdigen Sanftheit, die ihm eigen waren. Vor dem Brettertisch des schreienden Ausrufers, der seine Waren unter staunenswürdigen Witzen und Wortspielen anpries, konnte er lachen wie das harmlose Kind neben ihm. Bei den Mordthaten, die, serienweise abgebildet, am Quai aufgestellt waren und mit Hilfe von sehr weinerlichen Reimen kommentiert wurden, blieb er ebenso schaudernd stehen wie der simple Rekrut aus Unterdürrbach. Besonders eines dieser Ungeheuer erregte sein Entsetzen. Auf der Tafel seiner Schandthaten war zu lesen: Martin Jung, genannt Blutmartin. Ein Teufel in Menschengestalt! Erschlug seine Opfer, siebzehn an der Zahl, mit einer spitzen Hacke und hängte sie dann mit einem Strick auf.

      Die Sonne war untergegangen. Allmählich hatte sich die Menge verlaufen. Die Bretterhütten, alle Häuser und Gärten schwammen in einem warmen Dämmerungsdunst, als Tarnow sich anschickte, den Heimweg anzutreten. Er hatte nichts getrunken während der ganzen Zeit, weder Wein noch Bier, denn er war ein sehr enthaltsamer Mensch. Als die Buden schon hinter ihm lagen und er auf dem ansteigenden Weg zur neuen Mainbrücke war, sah er aus einer seitlich gelegenen Gasse Fanny Leuthold kommen.

      Sie ging ohne weiteres auf ihn zu. »Truchs ist im goldenen Hahn,« sagte sie, »und ich wollte heim. Sie gehen doch mit, Tarnow?«

      Als sie über die Wiesen gingen, auf denen weit und breit kein Mensch zu sehen war, fing die Schaffnerin an, schwärmerische Reden über die Schönheit der Natur zu führen. Sie sagte, sie liebe die Natur und die Natur sei das »einzige«. Tarnow solle doch nur diese Wolken dort hinten ansehen. Das sei so poetisch. »Finden Sie nicht auch, Tarnow?«

      Tarnow bejahte etwas verständnislos.

      Ob er sich das Wachsfigurenkabinett angesehen habe? Sie finde es so interessant. Sie liebe überhaupt die grausigen Sachen; sie träume dann immer davon. Oft müsse sie dann weinen, aber wenn sie dann erwache, das sei wunderbar. Man recke dann die Glieder – so! – und das Deckbett sei einem zu schwer, ja selbst das Hemd. Ob er das nicht auch habe?

      »Nein,« erwiderte Tarnow leise, mit klopfendem Herzen.

      Als sie auf dem Gutshof angelangt waren, ging die Schaffnerin ins Haus, um den Hut abzulegen. Tarnow betrat den Garten, schlenderte träumerisch zwischen den Beeten umher und setzte sich schließlich in die Laube. Es war schon dunkel geworden. Der blühende Hollunder strömte seinen schwülen Duft aus, und auf den Bäumen der Nähe pfiff ein verspäteter Wasservogel. Sonst war es ruhig. Der Himmel war vollkommen wolkenlos. Die traumhaft klare Helle des Westens machte deutliche Silhouetten aus den Hügelreihen und kein Lüftchen bewegte die Gesträucher. Tarnow fühlte sich ermüdet, aber darin war etwas Angenehmes. Er fühlte es auch gleichsam wie eine freundliche Berührung, als der Mond heraufstieg, das gutmütig grinsende Gesicht eines alten Schlaukopfs, und wie er höher glitt, als würde er an einer Schnur gezogen, und wie er immer leuchtender dastand, als würde er von einer unsichtbaren Hand allmählich blank poliert.

      Tarnow schreckte zusammen, als er Schritte im Garten vernahm. Es war die Schaffnerin. Sie setzte sich ihm gegenüber und schwieg einige Zeit. Dann seufzte sie schwer und sagte: »Ach, Tarnow!«

      Tarnow antwortete nichts. Befangen hob er den Kopf, senkte ihn aber gleich wieder. Da erhob sich die Schaffnerin mit einer leidenschaftlichen Bewegung, die er im Dunkel nur undeutlich sah; sie umging den Tisch, setzte sich an Tarnows Seite, ergriff mit beiden Händen seine Hand, und es schien ihm, als ob sie damit kämpfe, ihr Schluchzen zu verbergen. Fast unbewußt streichelte Tarnow ihre Hand.

      »Ach, wenn Sie wüßten,« begann die Schaffnerin wieder. »Ich bin ja die unglücklichste von allen. Er quält mich beständig, der Amtmann, jeden Tag, jeden Tag! und wenn es so weitergeht, ich kann es nicht mehr aushalten. Dann muß ich eine schlechte Person werden. Dann muß ich thun was er verlangt von mir, nur damit ich eine Ruh hab’. Retten Sie mich, Tarnow. Thun Sie wenigstens eins. Gehn Sie abends nach dem Essen nie aus dem Zimmer, bevor ich nicht weggegangen bin. Damit er mir nur da meinen Frieden läßt. Bleiben Sie immer, bis ich ins Bett bin. Wollen Sie’s thun, Tarnow, von heut an?«

      »Ich will es thun,« sagte Tarnow feierlich, und die Schaffnerin sah seine Augen leuchten.

      »Und denken Sie nie was Schlimmes, Tarnow, denken Sie nicht schlecht von mir. Alles ist zum besten, was geschieht. Wollen Sie’s thun, Tarnow?«

      »Ja, ich will,« wiederholte Tarnow fest und atmete tief auf.

      »Und jetzt gehen wir hinein, sonst kommt er unversehens.«

      Tarnow beugte sich rasch herab und küßte die Finger der jungen Frau. Aber gleich darauf erschien ihm diese Kühnheit so unverzeihlich, daß er angstvoll in das Gesicht der Schaffnerin starrte. Aber sie, die inzwischen herausgetreten war in den überaus hellen Mondschein, lächelte nur und brach eine Rosenknospe. Dann gingen sie ins Haus.

      Nach einer halben Stunde kam der Amtmann. Er sagte, er hätte schon gegessen. Er schien viel getrunken zu haben, denn er war in einer gerührten Stimmung. »Alle Menschen sind Trottel,« sagte er mit einer schwammigen Stimme. »Aber einige Menschen sind nette Trottel. Sie, Tarnow, Sie sind ein netter Trottel.«

      Die Schaffnerin lachte hellauf. Truchs kicherte förmlich atemlos in sich hinein. Als es zehn Uhr schlug, sagte die Schaffnerin gute Nacht. Der Amtmann rief ihr nach: »Schließen Sie fein Ihr Zimmer zu, Leutholdin!« und lachte cynisch. Tarnow erhob sich wie gequält, trat ans Fenster, verließ aber nach kurzer Zeit ebenfalls die Stube. Der Amtmann schüttelte ihm die Hand mit einer Herzlichkeit, die beängstigend war bei ihm.

      Tarnow wandelte wieder in den Garten hinaus, – durch den Hof, wo eine wahrhaft köstliche Ruhe ausgebreitet war. Er brach eine Rose von demselben Strauch, von dem die Schaffnerin genommen. Es war auch eine Knospe, zart und duftig und Tarnow drückte sie voll Bedacht an seine Lippen. Dann setzte er sich in die Laube; aber er hatte nicht Ruhe, sondern ging bald wieder ins Haus zurück. Gerade wie er in den Flur trat, sah er den Amtmann aus seinem Schlafzimmer kommen. Er hatte Pantoffeln an den Füßen, die seinen Schritt unhörbar machten. Er trällerte leise vor sich hin, und ohne Tarnow gewahrt zu haben, tappte er den engen Flur entlang, bis er zu der Thüre kam, die in das Zimmer der Schaffnerin führte. Ohne zu atmen, harrte Tarnow, was er nun beginnen würde. Aber der Amtmann besann sich kaum, drückte auf die Klinke und betrat das Zimmer. Totenbleich geworden, wartete Tarnow immer noch. Er glaubte, Lärm hören zu müssen. Ja, er hoffte auf Geschrei, auf erregten Wortwechsel, – aber alles blieb still wie vorher.

      Nachdem er lange genug gelauscht hatte,


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