Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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Verkleidungen und erdichteten Rollen und bezauberte doch wieder den Empfänglichen durch die Anmut ihrer Rede, die heitere Beweglichkeit ihres Geistes, das gewinnend Herzliche ihrer Manieren.

      Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt; aber nicht nur, weil sie außerordentlich schlank, klein und zart war, sah sie aus wie ein achtzehnjähriges Mädchen, sondern es war auch in ihrem Wesen eine tiefe und ungewöhnliche Jugend, und wenn ihr Auge voll und nachdenklich auf einem Gegenstand ruhte, hatte es die Klarheit und träumerische Süße des Kinderblicks. Sie war gleichsam ein Erzeugnis der Grenze: südliche Lebhaftigkeit und nordische Schwere waren zu ruheloser Mischung gediehen; sie grübelte gern und wie ein Tierlein spielend, vermochte sie in Männern aller Art ein mit Scheu gemengtes Begehren zu erregen.

      Von der Flut der Gerüchte über den Tod des Advokaten Fualdes blieb sie zunächst unberührt, obwohl ihr Vater durch den Kauf der Domäne La Morne mittelbar an den Ereignissen beteiligt schien und täglich neue Nachrichten ins Schloß getragen wurden. Der Vorfall war ihr zu verwickelt und alles was damit zusammenhing, roch so sehr nach Schmutz. Erst als der Name Bastide Grammonts genannt wurde, horchte sie auf, verfolgte die Dinge und ließ sich den geglaubten Hergang vom Vater oder von den Dienerinnen berichten, wobei sie mehr Teilnahme als Verwunderung bezeigte.

      Sie wußte nichts von Bastide Grammont. Des ungeachtet fiel sein Name, kaum daß sie ihn gehört, wie ein Gewicht in ihr lauschendes Innere. Sie fing an, sich nach ihm zu erkundigen, unternahm heimliche Ritte nach La Morne und brachte den einen oder andern seiner Leute über ihn zum Reden, ja einmal gelang es ihr sogar, mit Charlotte Arlabosse zu sprechen, die um jene Zeit schon wieder in Freiheit war. Was sie vernahm, erzeugte in ihr ein eigentümliches, schmerzhaftes Staunen; ihr war zumut, als hätte sie eine wichtige Begegnung versäumt.

      Dazu kam, daß sie sich plötzlich erinnerte, ihn gesehen zu haben. Er mußte es gewesen sein, wenn sie die verworrenen Schilderungen seiner Person nur halbwegs recht verstand. Es war ein Jahr zuvor gewesen, an einem frühen Morgen im ersten Frühjahr. Von der allgemeinen Unruhe gepackt, durch die der erwachende Lenz das Blut aufwühlt und den Schlaf schneller als sonst beendigt, hatte sie das Schloß verlassen und war zu Fuß über die Weinbergwege in das bewaldete Tal von Rolx gewandert. Und während sie durch die sonnebeglänzten, feuchten Gebüsche schritt, über sich das Jubeln der Singvögel und das glühende Blau der Himmelskugel, unter sich die wie ein Leib atmende Erde, hatte sie einen Mann von mächtigem Gliederbau gewahrt, der aufrecht dastand, barhäuptig, die Nase in der Luft und mit einer überirdischen Begierde, mit aufgerissenen Augen genoß, was eben zu genießen war: die Düfte, die Sonne, die berauschende Feuchtigkeit, den Glanz des Äthers. Er schien dies alles zu riechen, er schnupperte wie ein Hund oder wie ein Hirsch und indes sein nach oben gekehrtes Gesicht eine entfesselte, lachende Befriedigung zeigte, zitterten die herabhängenden Arme wie in Krämpfen.

      Damals hatte sich Clarissa gefürchtet; sie war entflohen, ohne daß jener sie bemerkte, ohne daß er das Rascheln der Zweige und den Schall ihrer Tritte vernahm. Jetzt gewann das Bild eine andere Bedeutung. Oft wenn sie allein war, gab sie sich der Ausmalung jener Stunde hin: wie sie dem Sonderling entgegentrat, ihm durch ein tiefberechnetes Spiel von Fragen Antwort um Antwort von den trotzigen Lippen raubte und wie er dann, unfähig sich länger zu verstellen, aus eigenem Trieb sein Herz aufschloß. Und eines Nachts kam er auf wildem Pferd, drang ins Schloß, nahm sie und ritt mit ihr davon, so schnell, daß es schien, als sei der Sturm sein Diener und als sei das Roß vom Sturm beflügelt. Wenn die Rede bei Tisch oder in Gesellschaft auf Bastide Grammont kam und seine von allen unbezweifelte Mordschuld, beschäftigte sich Clarissa niemals mit dem Entsetzlichen der Tat, die einen solchen Mann auf ewig von der Gemeinschaft der Guten trennen mußte, sondern, umhüllt von wollüstigem Dunst, empfand sie die Wirkung seiner Kraft, das Heroische einer Gebärde, die Wahrheit einer Existenz und die Gewißheit von der erreichbaren Nähe jener Gestalt, die aus ihren bangen Träumereien nicht mehr weichen wollte. Sie erschrak über sich selbst, sie staunte in die gefürchteten Abgründe der eigenen Brust hinab und oft war ihr, als läge sie, sie selbst im Kerker und als ginge er, Bastide, draußen auf und ab und sinne auf Mittel, die Türe zu sprengen, während sein beflügeltes Pferd triumphierend wieherte.

      Nun war sie versponnen in all das Reden., Raunen und Fabulieren und der ganze Knäuel von Scheußlichkeiten, in welchem Plan und Willkür unlösbar verwühlt waren, rollte stetig anwachsend auch vor ihren Weg. Es ergriff sie immer sonderbarer, und sie glaubte in vergifteter Luft zu atmen; sie ging durch eine Straße in Rhodez und wähnte aller Augen Rechenschaft fordernd auf sich gerichtet, so daß sie ihren Schritt beschleunigte, bleich und verwirrt nach Hause eilte und mit stockenden Pulsen vor einem Spiegel stille stand.

      Vor nicht langer Zeit war sie auf dem Gut einer Familie zu Gast gewesen, die ihrem Vater befreundet war. Eines Tages geriet der Herr des Hauses, ein Gelehrter, über den Verlust einer wertvollen Handschrift in Unruhe und Sorge. Die Dienstleute wurden aufgeboten, jeden Raum zu durchstöbern, doch eines Diebstahls wurde niemand verdächtigt. Clarissa geriet nach und nach in einen qualvollen Zustand; sie bildete sich ein, man beargwöhne sie; in jedem Wort spürte sie den Stachel, in jedem Blick eine Frage, mit Angst und Eifer nahm sie am Suchen teil, schon hatte sie Fiebergesichte von Kerker und Schande, wollte zum Vater eilen, ihre Unschuld beteuern, – da fand sich plötzlich die Handschrift unter alten Büchern, Clarissa atmete auf wie von Todesgefahr errettet und nie zuvor war sie so witzig, gesprächig und hinreißend liebenswürdig gewesen wie in den darauffolgenden Stunden.

      Als in der Phantasie der Menge mit den übrigen bei der bestialischen Abschlachtung des armen Fualdes Beteiligten die Dame mit den grünen Federn zu immer deutlicherer Gestaltung erwuchs, wurde Clarissa von einer Bestürzung erfaßt, mit der sie anfangs nur spielte, wie um sich auf einem Ungefähr zu erproben oder auf einer Möglichkeit zu schaukeln, gleich einem Knaben, der mit angenehmem Gruseln die gefrorene Decke eines Flusses auf ihre Festigkeit prüft. Sie verschlang die Berichte der Zeitungen. Das zaghafte Tändeln ward zu einer plagenden Vorstellung, hauptsächlich durch den Umstand, daß sie einen Hut mit grünen Federn wirklich besaß. Daran konnte nichts Auffälliges gefunden werden. Die Mode erlaubte es, grüne, gelbe oder rote Federn zu tragen; trotzdem wurde der Besitz des Hutes für Clarissa zur Qual. Sie wagte nicht mehr, ihn zu berühren, ihr schien, als seien die Federn mit einem blutigen Schimmer umhüllt und schließlich versteckte sie ihn in einer Rumpelkammer unter dem Dach.

      Sie beschäftigte sich mit Reiseplänen, wollte nach Paris, aber der Entschluß wurde täglich wieder wankend. Indessen kam der Juni. Eine wandernde Theatergesellschaft kündete in Rhodez Vorstellungen an, und ein Offizier namens Clemendot, der Clarissa seit langem mit Liebesanträgen verfolgte, von ihr aber seiner Gewöhnlichkeit und offenbaren Roheit halber stets kühl, ja bisweilen schimpflich zurückgewiesen worden war, brachte ihr ein Billet und lud sie ein, mit ihm gemeinschaftlich das Theater zu besuchen. Sie lehnte ab, doch in letzter Stunde hatte sie Lust hinzugehen und mußte es dulden, daß sich Kapitän Clemendot nach dem Aufgehen des Vorhangs auf den leeren Platz zu ihrer Rechten setzte.

      Die Truppe führte ein Melodram auf, dessen Handlung das Unglück und den schaudervollen Mord eines schuldlosen Jünglings mit Behagen in die Breite zerrte. Am Schluß des ersten Aktes trat eine als Mann verkleidete Dame auf die Bühne; sie trug einen spitzen, runden Hut und eine Maske vor dem Gesicht. Eine hastige, im Flüsterton gehaltene, von der düsteren Lampe eines Verbrecherquartiers beschienene Liebesszene mit dem Haupt der Mörderbande besiegelte das Schicksal des unglücklichen Opfers, das betend auf den Knieen lag. Im Zuschauerraum herrschte gieriges Schweigen, alle Augen brannten. Clarissa glaubte die hundert Herzen wie ebensoviele Hämmer schlagen zu hören, ihr wurde heiß und kalt, es entschwand jedes Gefühl sicherer Gegenwart und als in der darauffolgenden Pause Kapitän Clemendot in seiner halb demütigen, halb schamlosen Weise zudringlich wurde, überflog ein Schauder ihren Körper und der Weindunst seines Mundes brachte sie einer Ohnmacht nahe. Plötzlich warf sie den Kopf zurück, bohrte den Blick auf sein verschwommenes Trinkergesicht und fragte mit leiser, scharfer, eilender Stimme: »Was würden Sie sagen, Kapitän, wenn ich es wäre, ich, die im Bancalschen Hause dabei gewesen ist?«

      Kapitän Clemendot erblaßte. Sein Mund öffnete sich langsam, seine Backen zitterten, seine Augen bekamen einen furchtsamen Glanz, und als Clarissa in ein weiches, spöttisches, aber nicht ganz natürliches Gelächter ausbrach, erhob er sich mit verlegenem Gruß und ging. Er


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