Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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fuhr mit demselben klagenden Flüstern fort: »Ich öffnete die Tür dieses Zimmers. Jemand ergriff mich beim Arm und führte mich in den Alkoven. Er gebot mir stille zu sein. Es war Bastide Grammont.«

      Endlich der Name! Aber wie anders war es, ihn auszusprechen als ihn bloß zu denken! Clarissa machte eine Pause, während sie die Augen schloß und die Hände ineinanderkrampfte. »Nachdem er mich eine Weile allein gelassen«, begann sie wieder, wie im Schlafe redend, »kam er zurück, hieß mich ihm folgen und brachte mich ins Freie. Da blieb er stehen und fragte, ob ich ihn kenne. Ich sagte erst nein, dann ja. Darauf fragte er, ob ich etwas gesehen hätte und ich sagte nein. Gehen Sie fort! befahl er, und ich ging. Doch war ich noch nicht bis zum Hauptplatz gekommen, als er wieder neben mir war und meine Hand in seine nahm. Ich gehöre nicht zu den Mördern, sagte er beteuernd, ich traf Sie und wollte nichts als Sie retten. Schwören Sie zu schweigen, schwören Sie beim Leben Ihres Vaters. Ich habe geschworen, darauf ließ er von mir. Und das ist alles.«

      Monsieur Jausion lächelte skeptisch. »Sie wollen, Madame, von der Straße aus hier herein geflüchtet sein«, bemerkte er, »es ist aber durch einwandfreie Zeugen festgestellt, daß das Tor von acht Uhr ab verschlossen war. Wie erklären Sie das?«

      Clarissa schwieg.

      »Und wie ist es ferner zu erklären, daß Sie nichts gesehen haben, während Sie durch das hellerleuchtete Zimmer gingen? nichts gesehen, niemand gesehen und kein einziger hingegen, der nicht Sie gesehen hätte?«

      Clarissa blieb stumm, sogar ihr Atem schien zu stocken. Der Präfekt machte Monsieur Jausion ein abwehrendes Zeichen; vorerst war genug erreicht, genug, daß Bastide Grammont von Clarissa erkannt worden war. Der Beschluß, den jede Schuld ableugnenden Verbrecher durch eine überraschende Konfrontation mit der Zeugin zum Geständnis zu zwingen, ergab sich jetzt von selbst.

      Die Herren brachten Clarissa zum Wagen, da sie vor Schwäche kaum fähig war zu gehen. Zu Hause geriet sie in einen seltsamen Zustand. Erst lag sie lethargisch in einem Sessel, plötzlich sprang sie auf und schrie: »Schafft mir die Mörder fort!« Die Tür wurde geöffnet und ein erschrockenes Dienergesicht zeigte sich in der Spalte. Das ganze Gesinde stand wartend auf dem Flur, die meisten waren gewillt, den Dienst beim Präsidenten zu verlassen. Clarissa sah sich jedes Schutzes der Liebe beraubt und ausgestoßen aus dem Kreis, wo man das Herkommen achtet und gebundene Form als die geringste der Pflichten anerkannt ist. Sie war jedem Auge preisgegeben, der frechste Blick durfte ihr Innerstes betasten, sie war ein öffentlicher Gegenstand geworden, und nichts an ihr war mehr ihr eigen, sie fand sich selbst nicht mehr, nichts mehr in sich selbst, um dabei zu ruhen, sie war gebrandmarkt von außen und von innen, Speise der allgemeinen Lüsternheit, wehrlos herumgeschleudert auf den schmutzigen Fluten des Geredes, Mittelpunkt eines entsetzlichen Ereignisses, von dem ihre Gedanken nicht mehr loskommen konnten. Wehmut, Trauer, Angst, Verachtung, das waren keine Gefühle mehr für sie, dazu war ihr Blut zu sehr gejagt; Selbstungewißheit beherrschte sie, Zweifel an ihrer Wahrnehmung, Zweifel am Sichtbaren überhaupt und bisweilen stach sie sich mit einer Nadel in den Finger, nur um die Wirkung zu erfahren und den Schmerz zu empfinden, der als ein Zeugnis ihres Wachseins gelten und ihr Herz vor Verwesung bewahren konnte. Dabei die Qual, die sie von den Zudringlichen litt: Die Aufforderung zur Wahrheit, das Höhnen und Murren von unten, der Befehl von oben, die Rachsucht und Unvergeßlichkeit des einmal gesprochenen Worts; schließlich sah sie die ganze Welt erfüllt von roten, unablässig geschwätzigen Zungen, auf sie gerichteten, schlangenhaft bewegten, blutigen Zungen; jeder Gegenstand, den sie berührte, wurde zur schlüpfrigen Zunge. Die Menschengesichter verdämmerten bis auf eines, ein heldenhaft leidendes, eines das trotz Schuld und Verdammnis hoch über den andern thronte, ja ausgezeichnet schien durch seine Schuld wie durch einen Trotz. Und als der Tag kam, wo man ihr mitteilte, daß sie Bastide Grammont gegenübertreten solle, um ihn zu bezichtigen Aug in Auge, da klopfte ihr Puls zum ersten Mal wieder in freudigen Schlägen und sie kleidete sich wie zu einem Fest.

      Die Begegnung sollte im Amtszimmer des Richters stattfinden. Außer Monsieur Jausion und seinen Schreibern war noch der Rat Pinaud anwesend, der wieder zurückgekehrt war. Monsieur Jausion warf ihm über die Brillengläser hinweg einen boshaften Blick zu, als Clarissa Mirabel spitzengeschmückt hereinrauschte, sich lächelnd vor den Herren verneigte und dann ihren Blick mit breiter Gelassenheit durch den ungastlichen Raum schweifen ließ. Aus einem Bilderrahmen in der Mitte der Wand schaute das fette und verdrießliche Gesicht des Königs auf sie herab, so verdrießlich, als sei ihm jeder einzelne seiner Untertanen ganz besonders zuwider. Sie vergaß, daß nur ein Bild vor ihr hing und sah mit einem kokettschmollenden Spiel ihrer Lippen hinauf.

      Der Richter gab ein Zeichen, eine Seitentüre wurde geöffnet und zwischen zwei Justizsoldaten, mit aneinandergefesselten Händen trat Bastide Grammont herein. Clarissa stieß einen leisen Schrei aus und ihr Gesicht wurde fahl.

      Um Bastide hauchte Kerkerluft. Das verwildert hängende Haar, der lang gewachsene Bart, der starre, etwas geblendete Blick, die leichte, an Lastenträger gemahnende Gebücktheit der Hünengestalt, die heimlich zuckende Wut auf frisch gefurchter Stirn, all das verleugnete nicht Grund und Herkunft. Ja, er schien die Mauern unsichtbar um sich herum zu tragen, die seine Brust mit Dunkelheit und Pein füllten und von Monat zu Monat mit hoffnungsloserm Glanz die Gemälde der Freiheit zeigten, bis sie sich schließlich weigerten, einen blühenden Baum, einen strotzenden Acker vorzulügen; dann glichen sie dem öden Grau eines herbstlichen Abends, wo die Luft schon nach dem Winter roch, der Leichenwagen öfter als sonst am Gartentor vorbei nach dem kleinen Kirchhof rasselte und der aufgehende Halbmond wie ein blutendes, geteiltes Riesenherz flammend über den feuchten Azur schwamm.

      Und dennoch dieses stolze Auge, in dem der Entschluß funkelte, sich selbst getreu zu bleiben? Dennoch dieser seltsam knisternde Spott in den Mienen, der dem vorsichtigen und dabei majestätischen Ducken der gefangenen Tigerkatze vergleichbar war? Diese unendliche Verachtung, mit der er auf die schreibbereiten Hände der Schreiber blickte, die innerliche Freiheit und große Losgebundenheit, trotz der Handfessel und der beiden Soldaten?

      Das war es, was Clarissa den Schrei entlockte und die törichte Munterkeit aus ihrem Gesicht jagte. Nicht etwa, weil sie den Waldmann und Erddämon von damals gebunden und gebrochen erblicken mußte, sondern weil sie wie unter Blitzesleuchten erkannte, daß diese Hand kein Mordmesser geführt haben konnte, daß eine solche Tat den Kreis seines Wesens nicht berührte, wenn er auch vielleicht dazu fähig gewesen wäre, und daß dies alles nun umsonst war, ein unverständlicher Rausch und Wahnsinn, das undurchsichtige Grauen selbst, ein Schauspiel von Heuchelei und Krankheit. Es packte sie ein Schwindel, als ob sie von einem hohen Turme herunterstürzte. Sie schämte sich ihres prunkvollen Gewandes, des herausfordernden Aufputzes und in leidenschaftlicher Wallung riß sie die kostbaren Spitzen von den Ärmeln und warf sie mit einer Grimasse des schmerzlichsten Ekels zu Boden.

      Monsieur Jausion durfte das anders deuten. Wieder lächelte er Herrn Pinaud zu, aber diesmal triumphierend, als wollte er sagen: das Exempel stimmt. »Kennen Sie diese Dame, Bastide Grammont?« wandte er sich an den Gefangenen. Bastide wandte den Kopf zur Seite und ein Blick voll nachlässiger und bitterer Geringschätzung ging Clarissa durch Mark und Bein. »Ich kenne sie nicht«, entgegnete er finster, »ich habe sie niemals gesehen.«

      Und neuerdings lächelte Monsieur Jausion, wie um einen vorübergehenden Irrtum zu berichtigen und säuselte: »Das ist nicht gut möglich; Madame Mirabel, damals in Männerkleidung und mit einem Hut mit grünen Federn, war in der Bancalschen Wohnung und ist von Ihnen selbst auf die Straße geführt worden, wo Sie ihr den Eid abnahmen. Ich bitte, sich dessen zu entsinnen.«

      Bastides Gesicht zog sich zusammen wie vor der lästigen Zudringlichkeit einer Fliege und er wiederholte energisch und laut: »Ich kenne die Dame nicht. Ich habe sie niemals gesehen.« Und das Aufeinanderpressen seiner Lippen verriet den unerschütterlichen Vorsatz, von nun ab zu schweigen.

      Monsieur Jausion schob seine Perücke zurecht und sah bekümmert aus. »Was haben Sie darauf zu entgegnen, Madame?« wandte er sich an Clarissa, die verloren starrte.

      »Er kann es nicht wissen, daß ich ihn gesehen habe«, flüsterte sie, doch hatte dabei ihre Stimme etwas so Durchdringendes wie das Zirpen einer Zikade.

      Jetzt wandte sich Bastide abermals zu ihr


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