Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Читать онлайн книгу.gebärdete. Der bucklige Missonier grinste, wenn von seiner Anwesenheit beim Mord die Rede war; er war vertiert durch die lange Gefangenschaft und das viele Verhörtwerden. Die kleine Magdalena Bancal benahm sich komödiantisch und grüßte mit Handküssen ihre Bekannten und Gönner, die unter den Zuhörern saßen. Rose Feral wurde beim Anblick der blutigen Lumpen, die auf dem Tisch des Richters lagen, totenbleich und vermochte nichts zu reden. Frau Bancal erinnerte sich, daß Monsieur Fualdes von sechs Männern in ihr Haus geschleppt worden war, daß er einige Schriften habe unterzeichnen müssen, der Länge und Quere nach, wie sie sagte. Am Tage darauf habe sie einen dieser Wechsel, auf Stempelpapier, gefunden, habe ihn aber, weil er mit Blut befleckt gewesen, verbrannt. Mehr wollte sie durchaus nicht bekennen, setzte allen Fragen ein stumpfsinniges Schweigen entgegen und äußerte schließlich, was sie noch wisse, wolle sie nur ihrem Beichtvater anvertrauen.
Die Zeugen bekundeten das Unglaublichste mit Seelenruhe. Ihr Gedächtnis war so stark, daß sie sich der geringfügigsten Dinge, die man von einem zum andern Tag vergißt, auf Stunde und Minute entsannen. In Nacht und Nebel hatten sie Menschen gesehen und erkannt, ihre Gesichtszüge, ihre Gebärden, die Farbe ihrer Kleider. Sie hatten Reden, Flüstern, Seufzen durch dicke Mauern hindurch gehört. Ein Bettler namens Laville, der in Missoniers Stall zu schlafen pflegte, hatte nicht nur die Orgelspieler und Lärm und Schreien vernommen, sondern er hatte auch gehört, daß vier Leute mit einer Last gingen; etwa wie Männer, welche ein Faß schleppen. Bastide Grammont lachte oft bei Aussagen, die er für unverschämte Lügen erklärte. Als die Bancal anfing zu gestehen, sagte er, da es so spät vor sich gegangen, habe er erwartet, daß das alte Weib noch mit mehr Umständen niederkommen werde. Einer anderen Zeugin hielt er bebend vor, wie des Himmels Hand schwer auf ihr laste und gemahnte sie an den fürchterlichen Tod ihres Kindes. Er glich einem Fechter, der gegen den Nebel ficht; niemand stand ihm eigentlich Rede, er war allein, die Widersprüche, die er nachzuweisen glaubte, blieben eben Widersprüche. Zuerst schien er zuversichtlich, bewahrte seine Haltung, blickte den Zeugen fest ins Gesicht, dann war es, als schwinde ihm der Sinn für die Bedeutung der Worte, nicht nur seiner eigenen, sondern aller Worte der Welt, oder als verliere er den Boden unter den Füßen und falle unaufhaltsam von Raum zu Raum ins grauenvoll End-und Grenzenlose hinab. Er begriff nicht mehr; er fragte sich entsetzt, ob dies noch Leben sei, noch Leben heißen dürfe, der herrliche Bau der Natur schien ihm verwüstet wie eine vom Sturm geborstene Mauer, der redende Mund all dieser Leute dünkte ihn nichts andres als ein in widerlichen Krämpfen auf-und zuklappender Schlund, sein Geist öffnete sich der Finsternis, Scham durchflammte ihn, er schämte sich im Gefühl des namenlosen Gottes und er schämte sich, daß sein Körper so gestaltet war wie der dieser Geschöpfe rings um ihn. Er hatte die Welt geliebt, er hatte einst die Menschen geliebt, jetzt schämte er sich dessen. Ihn schmerzte, daß er jemals Hoffnungen gehegt, daß er sein Herz mit Versprechungen hingehalten, daß Himmel und Sonne ihm einen frohen Blick, Scherzworte ihm ein Lächeln hatten entlocken können, er wünschte wie der Stein am Weg sein Inneres nie verraten zu haben, um nicht Schicksalszeuge sein zu müssen vor dem eigenen gebrandmarkten, gepeitschten und unerhört erniedrigten Selbst. Schon das Denken erschien ihm Schmach, um wie viel mehr erst das, was er hätte sagen können; es war nichts, war weniger als der Atem. Worauf sich stützen? worauf harren? Sie glauben nicht, nicht einmal den Hohn, nicht einmal das Schweigen. Und Bastide schloß sich zu und blickte dem Tod ins aufdämmernde Antlitz.
Es war schon gegen Abend, als endlich die Kronzeugin, Madame Mirabel, in den Saal gerufen wurde, und die ganze schon ermüdete Versammlung zuckte auf wie ein einziger Körper. Sie kam, und trotz der schwülen Luft, die den Raum erfüllte, schien sie zu frösteln. Als sie den Eid ablegte, zitterte sie sichtbar. Herr von Enjalran forderte sie auf, der Wahrheit gemäß zu berichten. Mit fremder, gleichmäßig matter Stimme, doch ziemlich hastig redend, gab sie dieselbe Aussage ab wie vor dem Untersuchungsrichter. Im Saal herrschte eine beängstigende Stille und infolgedessen wurde ihre Stimme immer leiser. Sie wußte jetzt eine Menge Einzelheiten, hatte das lange Messer auf dem Tisch liegen sehen, hatte gesehen, wie Bancal und Colard eine hölzerne Wanne hereintrugen und daß der Advokat Fualdes währenddessen neben der Lampe saß und mit tiefgebeugten Schultern schrieb. Sie hatte auch den geheimnisvollen Fremdling mit dem Stelzfuß gesehen und hatte beobachtet, daß Bach und Bousquier ein großes weißes Laken entfalteten. Auf die Frage, weshalb sie in Männerkleidern gekommen sei, gab sie keine Antwort. Und als sie dann flüsternd, mit zusammengekrampften Fingern, den Kopf geduckt, den mageren Rumpf etwas vorgebeugt, wie unter den Krallen eines Tieres sich kaum merkbar windend und doch mit jenem selig-süßen Lächeln, das ihrem Gesicht einen Ausdruck stiller Raserei gab, erzählte, wie Bastide sie im dunklen Nebenraum umarmt und geküßt habe, da sprang dieser plötzlich auf, schlug verzweifelnd die Hände zusammen und eilte ein paar Schritte vorwärts, bis er neben Clarissa stand. Alle hörten, wie schwer sein Atem ging.
Der Vorsitzende verwies ihm sein Benehmen, das er als unzart bezeichnete, Bastide aber rief mit starker, schmetternder Stimme aus: »Vor Gott, der mich hört und richten wird, erkläre ich, daß dies alles grauenhafte Lügen sind. Ich habe niemals dies Weib mit einem Finger berührt, noch mit Augen gesehen.«
Clarissa wurde weiß wie Kalk. Ihr war als höre sie jetzt erst das Klirren des zerbrochenen Spiegels, den sie nach dem Tanz zu Boden geworfen. Als der Generalprokurator sie aufforderte, fortzufahren, schwieg sie; ihre Augen verdrehten sich und der ganze Leib schauderte konvulsivisch.
»Sprechen Sie doch!« rief ihr Bastide Grammont zu, und die Empörung erstickte fast seine Stimme, »sprechen Sie! Ihr Schweigen ist noch verderblicher für mich als alle Lügen.«
Da schlug Clarissa die Augen zu ihm auf und fragte wunderlich bewegt: »Kennen Sie mich wirklich nicht, Bastide?«
»Nein! nein! nein!« brach dieser aus und nach oben blickend, stöhnte er qualvoll: »Sie ist eine Närrin.«
Innerhalb einer Sekunde wurde Clarissa glühendrot und wieder totenbleich. Und indem sie sich abermals zu Bastide wandte, sagte sie mit furchtbarem Ton des Vorwurfs: »O Mörder!«
Das Publikum applaudierte. Endlich war das Wort der Wahrheit gesprochen. Doch Clarissa wankte, ein Gerichtsdiener sprang herbei und fing sie in seinen Armen auf, mehrere Damen verließen ihre Plätze und bemühten sich um sie, und es dauerte eine halbe Stunde, bis sie wieder zu Bewußtsein kam; sie bot aber einen so veränderten Anblick, als sei sie plötzlich um zwanzig Jahre gealtert. Herr von Enjalran suchte das Verhör fortzusetzen, doch sie antwortete nur in halben Worten: sie wisse nicht; es sei möglich; sie wolle nicht widersprechen. Bastide Grammont hatte sich wieder auf der Anklagebank niedergelassen; auf seinem Antlitz malte sich unermeßliche Trauer und Bestürzung. Sein Verteidiger bat Clarissa, da sie doch nun einmal gesprochen, so solle sie weiterreden. »Ich beschwöre Sie, Madame, seien Sie deutlich«, sagte er, »von Ihnen hängt es ab, einen Unschuldigen zu retten oder ihn aufs Blutgerüst zu bringen.« Clarissa schwieg, als höre sie nicht; in ihrem Herzen wogte, wie Morgennebel über dem Wasser, ein tröstliches und bestrickendes Bild. Nun wandte sich der Rat Pinaud mit strenger Mahnung an sie; sie möge nicht glauben, daß sie ihre Aussagen nach Gutdünken machen und verschweigen könne, was sie wolle; aber darauf nahm der Prokurator für sie das Wort und sagte, man wisse, warum sie schweige, sie habe ja selbst versichert, daß sie eine Überzeugung habe, deren Gründe sie nicht darlegen könne, man möge zufrieden sein, daß man aus ihrem Munde das Wichtigste gehört habe, ja er erklärte sogar jedes weitere Drängen sei unschicklich. Er war noch nicht zu Ende mit seiner Rede, als ihn Clarissa unterbrach; sie erhob den rechten Arm und sagte feierlich beteuernd: »Ich habe keinen Eid geschworen.«
Bastide Grammont schaute empor. Er entriß sich seiner Betäubung, stand schwerfällig auf und begann mit ruhiger, doch um so mehr ergreifender Stimme: »Die Mauern der Kerker sprechen nicht. Einst aber werden sie dennoch reden und sie werden die angezettelten Heimlichkeiten mit Namen nennen, die man angewendet hat, um all diese Elenden zu zwingen, aus der Lüge die schimpfliche Schutzwehr ihres Lebens zu machen. Fualdes war nicht mein Feind, er war nur mein Gläubiger. Wenn Habsucht einen sonst anständigen und mäßigen Mann irregeleitet, wenn sie meinen Arm bewaffnet hätte, so hätte ich ihn doch nimmer gegen einen wehrlosen Greis erhoben. Wollt ihr ein Opfer haben, so nehmt mich; ich bin bereit, aber vermengt mein Schicksal nicht mit dem dieser Brut. Meine Familie, die stets auf dem Land lebte und die Sitte und Einfachheit des Landlebens übte, ist entehrt. Meine Mutter