Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Читать онлайн книгу.nieder und stierte, die Kinnladen leer bewegend, in boshafter Nachdenklichkeit am Firstkranz der Häuser empor. Indessen ging der Wunderdoktor auf Franz zu, hieß ihn den Rock ausziehen, wusch das Blut von der Wunde, die sich oberhalb des Ellenbogens zeigte und schmierte eine nach Honig riechende Salbe darauf. Romild war verschwunden. Das heftige Durcheinander-Reden seiner Begleiter, die sich wieder zu ihm gefunden hatten, hörte Franz kaum, sondern wartete nur auf eine Gelegenheit, um sich ihrer zu entledigen. Doch mußte er sich gedulden, bis die Dunkelheit angebrochen war, dann eilte er wie fliehend an Gärten und Schänken vorüber, wo überall an rasch gezimmerten Tischen und Bänken die Vintschgauer beim Wein saßen und das aufregende Ereignis beredeten. Die Goldreiner Leute waren gewöhnlich im Postwirtshaus, und wie er dort am Tor stand und in die fackelbeleuchtete Halle spähte, fiel ein Schatten über ihn, und aufschauend sah er Romild neben sich. Das glitzernde Augenpaar eines alten Bauern von der Ladurner Sippe verfolgte die Beiden in blödem Entsetzen, als sie schweigend den Torweg verließen und im Abend, rätselhaft gesellt, verschwanden.
Sie gingen am Hang der schwarzgeballten Berge talabwärts, Romilds Dorf entgegen; sie hatten die gleiche Empfindung von Gefahr, und als sich zur Linken eine Schlucht öffnete, folgten sie ohne gegenseitige Verständigung einwillig dem wirbelnden Bach nach oben. In der Höhe hellte sich die Nacht, in der Tiefe versank die Etsch als schimmerndes Band, und das Firmament wehte wie eine bestickte Fahne über ihren Köpfen. Anrückende Felsen machten den Uferpfad ungangbar, und sie schlugen die Richtung nach einem kleinen Joch ein, wo das Kirchlein von St. Martin am Kofl stand. Vor der Kapelle ließen sie sich nieder und beteten, darnach küßten sie einander und nannten sich zum erstenmal bei Namen. Statt ins Dorf zurück, marschierten sie tiefer ins Gebirge hinein, um sich ein Hochzeitslager zu suchen, und Romilds stolzer Gang und die gerade Haupthaltung, die bei den Mädchen dieser Gegend vom Tragen schwerer Wassergefäße herrührt, verwandelten sich in frauenhafte Lässigkeit und lauschendes Anschmiegen. Als die bläulichen Ferner des Angelusgletschers über dem Tannen- und Felsendunkel aufrückten, ward ihnen fast heimatfremd zumute, und sie schlossen ihre Augen einer Welt, die so berückend und traumhaft sein wollte, wie sie selbst einander waren.
Die am Morgen aus dem Tal herauftönenden Kirchenglocken trieben sie zur Flucht vom Lager, und sie kamen zu einer Sennhütte, wo sie Milch und Brot empfingen. Dann wanderten sie weiter, und mittags und abends stillten sie den Hunger von dem Vorrat, den ihnen der Senner gegeben, und den sie an den folgenden Tagen erneuerten. Wenn die Nacht kam, glaubten sie Himmel und Sonne nur einen Augenblick gesehen zu haben, weil ihnen die Finsternis erwünscht und natürlich war. So lebten sie, ich weiß nicht wie lange, gleich verirrten Kindern, völlig ineinander geschmiedet, ohne Erinnerung an Vergangenes, ohne Erwägung der Zukunft, leidenschaftlich in Trotz und Furcht, denn die Angst vor dem, was sie bei den Menschen erwartete, hielt sie in der Einsamkeit fest. Eines Tages nun kam ein Hirt auf sie zu, der sie schon von weitem mit Verwunderung betrachtet hatte. Er erkannte sie, stand scheu vor ihnen und machte ein böses Gesicht. Sie fragten ihn, was sich drunten im Gau ereignet habe, und er erzählte, daß die Goldreiner schon am Pfingstmontag über den Fluß gegangen seien, um die in Morter wegen der entführten Jungfrau zur Rechenschaft zu ziehen. Die aber hätten die Beschuldigung zurückgewiesen und im Gegenteil die andern verklagt, daß sie an dem jungen Tappeiner sich vergangen hätten. Die Redeschlacht habe so lange gedauert, bis die von Morter zu Hirschfängern und Flinten gegriffen, um die Eindringlinge zu verjagen. Am nächsten Tag sei das Gerücht gegangen und wurde bald Gewißheit, daß zu Schlanders die Pest ausgebrochen sei; der Affe, den die welschen Gaukler mit sich geführt, habe die Krankheit eingeschleppt. Ein großes Sterben habe begonnen; von feindlichen Unternehmungen zwischen beiden Dörfern sei nicht mehr die Rede, und man glaube, die Äffin habe die beiden jungen Leute auf geheimnisvolle Weise verhext. »Folgt meinem Rat«, so schloß der Alte, »und geht hinunter zu den Euern, damit der Zauber geendet wird.«
Franz und Romild gehorchten. Schaudernd machten sie sich auf, um heimzuwandern. Alles Glück hatte sich in Traurigkeit verkehrt, und das längst; seit der ersten Umarmung hatten sie keine Freude genossen, aus der nicht grauenhaft das Bild der Äffin aufgetaucht wäre. In der Dämmerung langten sie unten an; noch ein Umschlingen, ein Druck der heißen Hände, noch ein Anschauen und Zurückschauen, dann ging jedes seinen Weg.
Auf den Fluren war tiefe Stille. In keinem Haus brannte Licht, und alle Tore waren verschlossen. Als Franz das Dorf betrat, grüßte ihn kein vertrautes Gesicht, überall war die gleiche Dunkelheit und Ruhe. Er klopfte ans Haus, nichts rührte sich. Erst als er den bekannten Pfiff erschallen ließ, raschelte es hinter den Läden. Das Fenster wurde geöffnet, und das fahle Gesicht seiner Mutter blickte ihn an. Ihr Schrei rief Vater und Bruder herzu, man ließ ihn ein, aber da er auf alle Fragen nur halbe Antwort gab und schließlich verstummte, betrachteten sie ihn ängstlich wie ein Gespenst. Die neueste Kunde war, daß die Äffin den Gauklern entlaufen sei, und sich im Tal herumtreibe; wer ihr nah komme, der werde von der Pest ergriffen, die von Naturns und Kastelbell bis Eyrs hinauf Hunderte von Menschen schon hinweggerafft habe. Schweigend lauschte der Heimgekehrte, und diese anscheinende Teilnahmslosigkeit brachte den Bruder in Wut. Er schrieb ihm alle Schuld zu; »hättest du das Affenweib nicht berührt, so wäre das Land verschont geblieben«, rief er, »und weil du mit einer Ladurnerin davon gegangen bist, darum ist ein Fluch auf dir, und wir müssen verderben«. Plötzlich stieß die Schwester einen gellenden Angstruf aus und stammelte, sie habe die grinsende Affenfratze am Fenster gewahrt, das noch offen war. Die Mutter warf sich Franz zu Füßen und beschwor ihn, von dem Mädchen zu lassen. Er wandte sich bebend ab, verstand kaum den Zusammenhang, wollte hinwegeilen und hielt schon die Klinke in der Faust, da rief ihn die Schwester fieberhaft bettelnd zurück, und er nahm wahr, daß die Krankheit sie gepackt hatte, denn ihr Gesicht sah bleiern aus wie das jenes Frauenzimmers, das aus dem Wagen der Gaukler geschaut. Er setzte sich an den Tisch und weinte. Am Morgen hatte sie die Beulen unter den Armen, das Fleisch zerging unter der Haut, und als sie starb, hatten ihre Züge den Ausdruck der Gorilla-Äffin.
In den Ställen hungerten Kühe und Ochsen; ihr Gebrüll war der einzige Laut des Lebens. Nachbarn hüteten sich, einander vor die Augen zu kommen. Der Himmel schien erblindet, die Luft verwest. Gefürchtet war der Tag, Schatten und Abend gemieden, Wasser und Wind totbringend. Von Dorf zu Dorf zogen die Mönche vom Karthäuserkloster in Neuratheis, segneten die Leichen vor den Haustoren und trösteten die rasenden Kranken. Es ging kein Wanderer mehr auf der Landstraße, es tönte kein Posthorn mehr, die Hirten blieben auf den Almen, kein Glockenecho brach sich an den Bergen. Aus Furcht vor dem Affen wurden die Fenster verhängt und die Türen verriegelt, so daß in den ungelüfteten Stuben die Seuche doppelt leichtes Spiel hatte. Nach der Schwester sah Franz den Bruder erliegen, und am Dreifaltigkeitssonntag spürte der Vater den ersten Frost. Als die Sonne untergegangen war, pochte es ans Fenster, die Mutter schlug vor Grausen die Hände zusammen und kreischte: »Das Tier! Das Tier!« Es pochte abermals, da öffnete Franz den Laden und erblickte eine Gestalt, die jetzt unter dem Ahornbaum am Brunnen stand. Er erkannte Romild, die aus dem zinnernen Becher mit der Gier einer Gehetzten Wasser trank. Drei Sprünge, und er war draußen, der Hofhund winselte matt um seine Knie. Schluchzend vor Jubel, daß er noch lebte, zog ihn das Mädchen bis zum Rand des ausgetrockneten Bachs. Sie hatte noch immer die herrisch-gerade Haltung, doch ihre azurgeäderte Haut war entfärbt von überstandenen Leiden vieler Art. Die Ihrigen hatten sie beschimpft wie eine Ehrlose, der Vater hatte sie geschlagen, aber nun kam sie von einem Haus der Toten und Todgeweihten; der Liebeswille hatte sie getrieben, den schauerlichen Gang übers Tal zu wagen, und da stand sie, flüchtig und zitternd, dennoch beglückt. »Wir wollen uns ein Zeichen geben«, schlug sie vor; »wenn die Nacht kommt, steckst du eine brennende Fackel übers Dach, ein gleiches will auch ich tun, so wissen wir doch täglich voneinander, daß wir leben«. Franz war damit einverstanden; die Häuser beider Familien waren so gelegen, daß ein Feuersignal von einem zum andern wahrgenommen werden konnte.
So geschah es. Jeden Abend um die zehnte Stunde flammte von Goldrein und von Morter aus ein brennendes Scheit übers Tal: wie zwei irdische Sterne, die einander grüßen. Aber schon am vierten Tag fühlte sich Franz sterbensmatt, und bevor er im Fieber die Besinnung verlor, zwang er der Mutter, deren Herz schon erstorben und hoffnungslos war, das Versprechen ab, an seiner Statt das Flammenzeichen zu geben. Die Greisin übte diese Pflicht treu, und nur der Untergang einer Welt vermochte ihr Gewissen zu betäuben, denn was lag jetzt noch an Zuchtlosigkeit und Entehrung. Aber als der Einzige und Letzte des