Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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In­dem sie sich die Re­geln der fran­zö­si­schen Syn­tax ein­präg­te, hoff­te sie ihre Um­ge­bung und die gan­ze är­ger­li­che Le­bens­la­ge zu ver­ges­sen.

      Fräu­lein Schank ließ lan­ge auf sich war­ten. Die Schü­le­rin­nen ga­ben sich schon der lei­sen Hoff­nung hin, eine Krank­heit oder ein Fa­mi­li­e­n­un­glück ih­rer Leh­re­rin wür­de den fran­zö­si­schen Un­ter­richt heu­te aus­fal­len las­sen. »Nein, es ist der Leh­rer­kon­fe­renz we­gen, und die kann noch lan­ge dau­ern.«

      War das nicht Sal­lys Stim­me? Rosa blick­te auf. Rich­tig! Sal­ly saß auf Fräu­lein Schanks Stuhl vor dem Pul­te, die Wan­ge auf die Hand ge­stützt, und schau­te gü­tig auf ihre Ka­me­ra­din­nen her­ab, die sie eif­rig um­ring­ten. Als sie Ro­sas Blick be­geg­ne­te, lä­chel­te sie ver­ächt­lich und wand­te den Kopf os­ten­ta­tiv ab. Eine der Schü­le­rin­nen flüs­ter­te Sal­ly ki­chernd et­was zu, sie schüt­tel­te aber den Kopf und sag­te streng: »Las­sen wir das jetzt.«

      Das Wort »Leh­rer­kon­fe­renz« hat­te Rosa er­schreckt. Es klang wie ein Un­glück, das ihr droh­te, und sie glaub­te auf Sal­lys Ge­sicht schon die Scha­den­freu­de zu le­sen. Mit ei­nem lau­ten, zor­ni­gen »Klapp« schlug sie ihre Gram­ma­tik zu, er­hob sich, stell­te sich an das Fens­ter, und die Arme über der Brust ge­kreuzt, schau­te sie Sal­ly böse an. Al­ler­hand Plä­ne gin­gen ihr durch den Kopf; sie woll­te sich an die­sen herz­lo­sen Mäd­chen rä­chen, woll­te ih­nen im­po­nie­ren; sie be­schloss, eine große, pa­the­ti­sche Rede zu hal­ten, Sal­ly töd­lich zu be­lei­di­gen – und dann schwieg sie doch.

      »Un­glaub­li­che Keck­heit«, wand­te sich Sal­ly an ihre Nach­ba­rin, »aber tut so, als wäre sie gar nicht da.«

      Rosa hör­te die­se Wor­te ganz deut­lich und er­wi­der­te mit be­ben­der Stim­me:

      »Ich glau­be es schon, dir wäre es recht, wenn ich nicht auf der Welt wäre; wenn es über­haupt kein Mäd­chen gäbe, das nicht auf bei­den Au­gen schielt.«

      »Das ist zu arg!« rief Sal­ly und schlug mit der Hand auf das Pult; wei­ter konn­te sie nicht spre­chen. Die­se Be­lei­di­gung war so gif­tig und bit­ter­bö­se, dass sie weit über die ge­wöhn­li­chen Zän­ke­rei­en der Schul­stu­be hin­aus­ging. »Die ab­scheu­li­che Per­son!« stöhn­te Sal­ly und be­gann zu wei­nen. Rosa aber woll­te nun ih­rer gan­zen Ent­rüs­tung Luft ma­chen. Die heiß in ihr auf­stei­gen­de Wut be­rei­te­te ihr eine Art Lust. »Lasst euch nur von Sal­ly ge­gen mich auf­het­zen«, fuhr sie fort, »ich ma­che mir nichts dar­aus; für mich exis­tiert ihr schon lan­ge nicht mehr. Geht, tanzt nach Sal­lys Pfei­fe! Ich brau­che euch nicht. Mei­ne Wege füh­ren in ein an­de­res Reich.« Scheu blick­ten die Mäd­chen von der selt­sam ver­än­der­ten Rosa auf die wei­nen­de Sal­ly. Sie fürch­te­ten sich vor die­sem rück­sichts­lo­sen Wei­ber­hass, der sich plötz­lich in die fried­li­che Schul­stu­be ein­ge­schli­chen hat­te. Rosa woll­te noch mehr sa­gen. Der Zorn mach­te sie schön und be­redt, das fühl­te sie, aber Fräu­lein Schank er­schi­en. Die Schü­le­rin­nen setz­ten sich auf die Bän­ke. Sal­ly sah lei­dend und er­ge­ben aus; zu­wei­len preß­te sie die Hand auf das Herz, als lit­te sie dort un­end­lich. Als Fräu­lein Schank je­doch ih­ren elen­den Zu­stand nicht be­merk­te, er­hob sie sich und bat, die Schu­le ver­las­sen zu dür­fen. »Ge­hen Sie«, sag­te Fräu­lein Schank tro­cken. Sal­ly raff­te ihre Bü­cher zu­sam­men und ver­ließ das Ge­mach. Auf dem Weg zur Türe stütz­te sie sich mit zit­tern­den Hän­den auf den Schul­tisch, um nicht zu­sam­men­zu­sin­ken, und das Öff­nen der Türe mach­te ihr Schwie­rig­kei­ten, denn sie muss­te mit bei­den Hän­den ihr Herz hal­ten.

      Der Un­ter­richt nahm sei­nen re­gel­rech­ten Ver­lauf. Fräu­lein Schank war ernst, aber un­ge­wöhn­lich mil­de. Von Rosa ward heu­te nichts ver­langt. Den Kopf tief auf ihr Buch her­ab­ge­beugt, saß sie da und ver­sank in ein un­kla­res, wir­res Träu­men, und wenn ir­gend et­was sie aus ih­rem Hin­brü­ten auf­stör­te, dann sah sie das alt­be­kann­te Schul­zim­mer selt­sam an, und als der Un­ter­richt zu Ende war, merk­te Rosa es nicht und blieb sit­zen; erst als ihr Name ge­nannt ward, blick­te sie auf. »Komm!« sag­te Fräu­lein Schank fei­er­lich, aber nicht böse. Rosa ge­horch­te. Drau­ßen vor der Türe des Schul­zim­mers sag­te Fräu­lein Schank mil­de: »Geh! Nimm dei­ne Bü­cher. Dir ist heu­te nicht wohl. Geh nach Hau­se. Am Nach­mit­tage kom­me ich zu euch. Be­hü­te dich Gott!« Mit ih­rer dür­ren Hand fuhr sie leicht über Ro­sas Haar. »Geh, mein Kind!« In dem al­len lag et­was kum­mer­voll Zärt­li­ches, das Rosa die Trä­nen in die Au­gen trieb. Rosa kehr­te in die Schul­stu­be zu­rück, pack­te ru­hig ihre Bü­cher zu­sam­men, warf ih­ren Ka­me­ra­din­nen einen hoch­mü­ti­gen Blick zu und ver­ließ die Schu­le; drau­ßen aber ging es ihr, sie wuss­te es selbst nicht wie, durch den Kopf:

      »Es ist wohl das letz­te Mal, dass du drin ge­we­sen bist?« Das rühr­te sie. Ge­fühl­voll leg­te sie die fla­che Hand auf die alte gel­be Türe, als wäre die­se die Wan­ge ei­nes gu­ten Freun­des.

      Auf der Stra­ße frag­te sich Rosa: Was nun? Nach Hau­se woll­te sie nicht. In der en­gen Stu­be wür­de sie nicht Ruhe fin­den, das wuss­te sie, und dann soll­te Ag­nes nicht wis­sen, dass Rosa wie­der die Schu­le ver­säum­te. Die alte Frau hat­te sich in der letz­ten Zeit eine wun­der­lich vor­wurfs­vol­le Art, Rosa an­zu­schau­en, an­ge­wöhnt. Rosa ent­schied sich für den Stadt­gar­ten; dort woll­te sie ihre Lage über­den­ken. Sie zog die Au­gen­brau­en zu­sam­men, rich­te­te sich stramm auf, wie je­mand, der den Ent­schluss fasst, an eine schwe­re Ar­beit zu ge­hen.

      Was gab es denn? Am­bro­si­us lieb­te sie, und sie lieb­te Am­bro­si­us; da­ge­gen ließ sich doch nichts ein­wen­den. Ein Mäd­chen ist doch dazu da, da­mit es einen Mann be­kommt, das weiß je­des Kind. Wa­rum aber schick­te Fräu­lein Schank Rosa fort? Ja – nun! Ein ver­lob­tes Mäd­chen passt nicht mehr in die Schu­le. Rosa konn­te es ganz recht sein, dass es mit dem ewi­gen Ler­nen sein Ende nahm. Das große Gou­ver­nan­tenex­amen brauch­te sie ja jetzt nicht mehr zu ma­chen, da sie Am­bro­si­us hei­ra­te­te. Die­se Hei­rat lös­te alle Schwie­rig­kei­ten leicht und schön und soll­te Rosa für alle De­mü­ti­gun­gen reich­lich ent­schä­di­gen. Sal­ly und ihr Ge­fol­ge soll­ten Au­gen ma­chen! Rosa sah es schon, wie der Hoch­zeits­zug sich über den Markt­platz be­weg­te – sah sich selbst im wei­ßen At­las­klei­de vor dem Al­tar ste­hen. Ein sehr schö­nes Kleid! Ganz ein­fa­cher Schnitt, vor­ne ein we­nig kurz, da­mit die wei­ßen At­las­schu­he ge­se­hen wer­den kön­nen. Als ein­zi­ge Ver­zie­rung ein Ta­b­lier von Brüs­se­ler Spit­zen. Sehr we­nig Schmuck; nur eine Dia­man­tri­vie­re – »Nichts wei­ter«, sag­te Rosa vor sich hin. Ne­ben ihr ihr Va­ter, froh und ro­sig, Fräu­lein Schank, die Schar der wei­ßen Braut­jung­fern. Sal­ly war nicht dar­un­ter; nein, sie war über­haupt gar nicht ge­la­den, son­dern saß in ih­rem Werk­tags­klei­de auf ei­nem fer­nen Kir­chen­stuhl und schau­te nei­disch zu.

      Rosa hat­te sich in die Lau­be ge­setzt und die Au­gen ge­schlos­sen, um sich un­ge­stör­ter ih­ren Vi­sio­nen hin­ge­ben zu kön­nen, die­se Vi­sio­nen wur­den zu Träu­men, Rosa schlief ein.

      Sie er­wach­te vom lei­sen Knir­schen des San­des, als sie sich aber er­schro­cken um­schau­te, sah sie nie­man­den. »Es wa­ren aber doch Schrit­te«, sag­te sie sich. »Je­mand muss hier ge­we­sen sein.« Rich­tig! Ne­ben ihr auf der Bank lag ein zu­sam­men­ge­fal­te­tes Pa­pier, das die Auf­schrift »An Fräu­lein R. H.« trug. Has­tig griff Rosa da­nach und öff­ne­te es. Der Bo­gen war mit schö­nen deut­li­chen Schrift­zü­gen


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